Corona: die Legende vom Zusammenhalten

Die Coronakrise hat ihr eigenes Mantra: Am „Wir halten zusammen“ kommt man nirgendwo mehr vorbei. Das täuscht einen Zustand der Gemeinschaft vor, den es nicht gibt. Im besten Fall ist es naiv, im schlechtesten Fall zynisch – und in jedem Fall nervtötend.

imago Images

„Seltsam: dass Leute, die leiden, enger miteinander verbunden sind als Leute, die sehr zufrieden sind.“ (Bob Dylan, „Brownsville Girl“)

174 Millionen. In Ziffern: 174.000.000 – so viele Ergebnisse wirft Google aus, wenn man im Suchfeld „wir halten zusammen“ eingibt (Stand 26. April 2020).

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Der erste Eintrag führt auf die Seite www.wirhaltenzusammen-bw.de. Die wird betrieben von der Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg. Das ist eine Einrichtung der regionalen Wirtschaftsförderung.

Es folgen die Einträge für eine Schlager-Wunschsendung des Südwestrundfunks SWR mit Andy Borg, eine Seite der Leipziger Volkszeitung zugunsten der sächsischen Wirtschaft (also zugunsten der eigenen Anzeigenkunden) sowie eine Seite der Ruhr-Nachrichten mit exakt demselben Zweck.

Die Krise hat ihr eigenes Mantra: Am „Wir halten zusammen“ kommt man nirgendwo mehr vorbei. Kein Fernsehsender mehr, der es nicht einblendet (manchmal 24 Stunden lang). Kein Radiosender mehr, der seine Hörer nicht dazu auffordert, irgendwelche Sprachnachrichten zum Thema „Zusammenhalten“ per WhatsApp zu schicken.

Und vor allem: keine Werbung ohne das Mantra. Unter dem Hashtag #WirHaltenZusammen werben auf Twitter unter anderem (die Liste ließe sich buchstäblich endlos fortsetzen): das Bundesgesundheitsministerium, die DAK, Coop Bau & Hobby, TOG Lottery Solutions GmbH, Piepenbrock und sogar die Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe.

Sie alle halten zusammen. Und die Erde ist eine Scheibe.

*****

Fünftausend. In Ziffern: 5.000 – so viele Bußgeldbescheide hat die Hamburger Polizei wegen Verstößen gegen die Pandemie-Regeln bisher verteilt (Stand 26. April 2020).

Einen der beliebtesten Wochenmärkte Deutschlands hat die Polizei gerade kurzerhand geschlossen: Die Besucher am Maybachufer im Berliner Szene-Bezirk Kreuzberg hatten sich trotz wiederholter Lautsprecherdurchsagen partout nicht an die Abstandsregeln halten wollen.

Weil er sich weigert, die Corona-Vorschriften einzuhalten, ist ein Mann aus Landshut inzwischen schon zum dritten Mal für kurze Zeit inhaftiert worden.

Warum zunehmend politisch?
Werbung auf der Suche nach dem guten Geld
Zur Erinnerung: Die Pandemie-Regeln – die Abstandsvorschriften, die Maskenpflicht, die Versammlungsverbote – sollen auch den Einzelnen schützen. Vor allem aber sollen sie die Anderen vor dem Einzelnen schützen. Die Einhaltung der Regeln ist also auch eine Frage des Selbstschutzes – vor allem ist sie eine Frage der Rücksichtnahme.

Rücksichtnahme ist nicht jedermanns Sache, ähnlich wie Höflichkeit oder Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit. Das war vor dem Virus so – und, seien wir ehrlich, das hat sich durch das Virus nicht geändert und wird es auch künftig nicht.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist natürlich nichts Schlechtes daran, sich mehr Zusammenhalt zu wünschen. Nur sind es, zum einen, wegen Corona nicht mehr Menschen, die das tun (obendrein handelt es sich dabei weitgehend um dieselben, die es auch vorher getan haben). Und zum anderen heißt das Mantra ja nicht „Wir sollten zusammenhalten“ oder „Wir wünschen uns, dass wir zusammenhalten“ – sondern: „Wir halten zusammen“.

Und das ist, die Wirklichkeit kann grausam sein, einfach falsch.

Tatsächlich halten die Menschen – allen Beschwörungsformeln zum Trotz – natürlich nicht mehr zusammen. Wer in diesen Tagen zum Einkaufen oder einfach nur so über die Straße geht, stellt das schnell fest.

Im Supermarkt gibt es die Rücksichtsvollen, die Masken tragen und an der Kasse Abstand halten – und die anderen, die einem unvermummt und hustend in der Warteschlange dicht auf die Pelle rücken. Auf dem Bürgersteig gibt es die Achtsamen, die einem entgegenkommen und einen Bogen laufen, um möglichst viel Abstand zu halten – und die anderen, die keinen Zentimeter ausweichen, selbst wenn sie einen dabei kräftig niesend anrempeln.

Wegen massiven Betrugsversuchen bei der Corona-Soforthilfe haben Hamburg und Nordrhein-Westfalen die Auszahlungen zeitweise gestoppt. In Berlin steigt die Zahl der Ermittlungsverfahren rasant. Betrüger halten nicht so viel vom Zusammenhalten.

Die Rücksichtsvollen und die anderen, die Achtsamen und die anderen, die Ehrlichen und die anderen – sie alle gab es als Typen schon vor Corona. Sie haben sich nicht geändert, sie werden sich auch nicht ändern. Sie sind einfach, wie sie sind.

Arschlöcher werden auch nach der Epidemie Arschlöcher sein.

*****

„Wir halten zusammen“ – hare, hare, rama, rama.

Der Satz bildet den Wunsch vieler Menschen ab, aber nicht die Wirklichkeit. Wenn Privatpersonen das miteinander verwechseln, kann man noch wohlwollend Naivität unterstellen. Richtig ärgerlich wird es allerdings, wenn Unternehmen die Sehnsucht vieler Menschen nach Gemeinschaftsgefühl für ihre höchst egoistischen Wirtschaftsinteressen missbrauchen.

Adidas zum Beispiel. Der einstmals seriöse Sportartikelhersteller aus Herzogenaurach hat erst ein (zugegeben äußerst dilettantisches) Gesetz dazu genutzt, um für seine wegen Corona geschlossenen Geschäfte zeitweise keine Ladenmiete mehr zu zahlen. Dann hat er grob zwei Milliarden Euro an Corona-Staatshilfe beantragt – ein Konzern, der in den vergangenen Jahren für grob 2,4 Milliarden Euro eigene Aktien zurückgekauft hat, um so den Börsenkurs (und die daran gekoppelten Boni der Manager) künstlich nach oben zu treiben.

Werbung in Zeiten von Corona
Geldverdienen war gestern
Und während der sehr ertragsstarke Multi dies tut, appelliert er allen Ernstes an das Gemeinschaftsgefühl und an die Hilfsbereitschaft seiner Kunden. Ganz oben auf der Website steht: „Unterstütze mit deinem Einkauf die Maßnahmen gegen COVID-19.“

Das ist eklig, nehmen Sie es mir bitte nicht übel.

Man fühlt sich heftig veralbert von all den Unternehmen, die sich in ihren Spots und auf ihren Plakaten jetzt plötzlich so besorgt um unser Wohlergehen (oder das ihrer Mitarbeiter) zeigen. Für wie blöd halten die uns eigentlich? Glauben die wirklich, wir sehen das nicht als das, was es ist: nämlich Werbe-Propaganda?

Man sollte Wirtschaftsunternehmen keinen Vorwurf machen, wenn sie Geld verdienen wollen. (Sozialisten mögen das nicht so sehen, aber das ist ein anderer Kriegsschauplatz.) Sie sollen ihr Zeug gerne verkaufen. Aber sie sollen ihre Kunden nicht für dumm verkaufen.

Wirtschaftsunternehmen sind nicht daran interessiert, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Sie sind daran interessiert, ihr Geld zusammenzuhalten.

Ich für meinen Teil kaufe lieber bei einem Unternehmen mit ehrlichem Erwerbssinn als bei einem mit vorgetäuschtem Gemeinschaftssinn.

*****

Den Vogel abgeschossen hat die Bundesregierung mit ihrem ins Rennen geschickten Hashtag #wirbleibenzuhause.

Da geht es allerdings weniger um den Inhalt als vielmehr um den Ton. Bei der Infantilisierung von öffentlicher Kommunikation macht dem Gesundheitsministerium so schnell eben keiner was vor.

Unter namhaften Testimonials wie Geiger David Garrett oder Fußballtrainer Felix Magath findet sich auch der Entertainer Joko Winterscheidt. Er moderiert Sendungen für Erwachsene – deshalb ist nicht zu vermuten, dass dieser Spot sich an Vierjährige richtet (obwohl Herr Winterscheidt so spricht, als würde er mit Vierjährigen reden).

Wenn schon manche Wirtschaftsunternehmen die Bürger nicht ernst nehmen und glauben, wir würden auf ihre Lasst-uns-zusammen-anpacken-Heuchelei hereinfallen: Könnte nicht zumindest die Bundesregierung uns behandeln wie erwachsene Menschen?

Nur so eine Idee.

Anzeige

Unterstützung
oder

Kommentare ( 57 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

57 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Mausi
3 Jahre her

Wieso eigentlich immer adidas? adidas hat Kredite beantragt, aber noch nicht in Anspruch genommen. Kredite müssen zurückgezahlt werden. Und die Bewilligung ist an Voraussetzungen gebunden, die für jedes Unternehmen gelten. Andere Wirtschaftszweige werden mit Steuergeldern unterstützt, die nie zurückkommen.

friedrich - wilhelm
3 Jahre her

#wir sind bekloppt!

Pauline G.
3 Jahre her

Ja, ich habe das nie geglaubt mit dem Slogan „Wir halten zusammen“ oder auch „Bleiben Sie gesund“ oder Hashtag „Für euch da“ etc. Das kommerzielle Interesse im Hintergrund war mehr als deutlich – für mich jedenfalls. Man muss nur die Absender anschauen und die Realität des täglichen Zusammenlebens in D.. Gewisse Bevölkerungsgruppen halten sicher zusammen – oder polit. Gruppen/Akteure gegen einen gemeinsamen Feind!

Gerro Medicus
3 Jahre her

Also ich halte auf jeden Fall was zusammen, meinen Verstand nämlich und mein Geld! Den Zusammenhalt in meiner Familie und meinem Freundeskreis führe ich nicht gesondert aus, denn der ist selbstverständlich, innerhalb und außerhalb von Krisen!

erwin16
3 Jahre her

Man fahre in einem kleine Auto……denke da bleiben keine Fragen offen.
Übrigens junge Frauen sind bald die Schlimmsten.

schukow
3 Jahre her

Wenn Sie eine Maske für sinnvoll halten, dann tragen Sie halt eine. Das sehe ich so, wie bei der ewig gleichen und ewig bescheuerten Diskussion ums Tempolimit auf BABn. Wer 130 fahren will, soll es doch einfach tun und’s Maul halten. Es ist auch verboten Waffen zu tragen, ja und? Machen manche trotzdem, halten Sie also besser Abstand.

Kassandra
3 Jahre her

Seltsamerweise propagieren sie nur auf deutsch.
Oder ist bekannt, dass sie auch andere Kanäle bedienen?

Danke für Ihre Ausführungen.
Es scheint, sie versuchen die Scherben, die durch den Elefanten im Porzellanladen entstanden, durch gänzlich unwirksame rhetorische Maßnahmen kitten zu wollen…
In der DDR nutzen sie Spruchbänder, hinter denen sie die Ruinen versteckten.

Kassandra
3 Jahre her

Das tatsächlich einzige was mich stört, ist, dass bei youtube unter jedem Filmchen seit der „Pandemie“ der Hinweis auftaucht: „Covid 19 – aktuelle, wissenschaftliche Informationen finden Sie bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ – was ich natürlich niemals glauben und schon gar nicht anklicken würde.
Alles andere war mir beim Lesen des Artikels komplett neu – ich konsumiere das alles seit 2015 nicht mehr.
Aber interessant zu hören, wie weit sie mit ihrem AgitProp inzwischen sind und wer sich so alles hergibt, beim Impfen der Bevölkerung mit der richtigen Gesinnung mitzumachen. Bezahlt aus eingezogenen Zwangsgebühren.

StefanB
3 Jahre her

Nein, Sie bekommen Punkte im „Sozialkreditsystem“. 😉

StefanB
3 Jahre her

Lieber Herr Fritsch, bitte verlangen Sie nicht zu viel von den Babyboomern und deren inzwischen ebenfalls ausgewachsenen Kindern. Beide Generationen konnten sich im Geiste nie vom Kindsein lösen.

#kindgesellschaft

Gerro Medicus
3 Jahre her
Antworten an  StefanB

Kindskopfgesellschaft. Man sieht sie allenthalben: Menschen im Alter von ca. 30 – 40, mit weichlich-verfetteten Körpern und Gesichtszügen, die ein struppiger Bart „ziert“, in Hosen, vorzugsweise dreiviertellang, deren Gesäßregion in den Kniekehlen hängt (schon vorbereitet auf die Inkontinenzwindeln?), die Baseballkappe verkehrt herum auf dem Kopf. Es fehlt nur noch der Propeller auf der Kappe.

War das gemeint, als es hieß „Kinder an die Macht“? Wobei: ist Machtausübung nicht Arbeit? Und ist Kinderarbeit nicht verboten?
Also alle Kindsköpfe raus aus den politischen Arbeitsverhältnissen!