Tichys Einblick
Ausgetrickst von den Eigenen

Der Schulz-Bubble und die Hannover-Mafia

Während das Kanzleramt in weite Ferne rückt – hat Martin Schulz eine reelle Chance, in der Geschichte der deutschen Demoskopie unsterblich zu werden.

© Adam Berry/Getty Images

Folgt man den Demoskopen – also jenen, die im Sinne des griechischen Wortstamms das Staatsvolk ausspähen – dann hat der von der SPD auf den Thron eines angeblichen Kanzlerkandidaten gehobene Martin Schulz bestenfalls noch die Chance, gelegentlich im Kanzleramt seine Chefin zu besuchen. Noch realistischer allerdings scheint angesichts der jüngsten Trends, dass ihn seine Partei nach dem verlorenen Wahlgang wie einst seinen Vorgänger Peer Steinbrück in Schimpf und Schande vom Hof jagt. Vielleicht bekommt er noch eine kleine Chance, künftig die geschrumpfte SPD-Bundestagsfraktion zu leiten, während das Stehaufmännchen Sigmar Gabriel und seine Hannover-Mafia in der Fortsetzung der GroKo die Ministerämter unter sich aufteilen. Sie werden das dem Mann aus Würselen im Ernstfall als große Chance verkaufen, das nächste Mal nicht mehr gegen die dann aussortierte Angela Merkel, sondern erfolgreich gegen irgendeinen Unions-Frischling antreten zu können.

Doch selbst zu dieser Endverwendung darf Ex-Mister-Europa nicht zu nah an die 20-Prozent-Marke heranrutschen. Noch schlechter als seine erfolglosen Vorgänger, von denen es einer immerhin ins Schloss Bellevue brachte – dann wird Schulz darüber nachdenken dürfen, einen Untergangsroman über „The Rise and Fall of the House of Martin“ zu schreiben. Und dabei zuzuschauen, wie sich die „Diadoch*innen“ der SPD, die sich bereits in Stellung bringen, um das zerstörte Erbe des Willy Brandt streiten und den Job des Sargträgers der alten Tante zu übernehmen.

Immerhin, selbst wenn er sich nach dem 24. September zwangsweise aus der Politik verabschieden muss, hat der Sozialdemokrat eine realistische Chance, nicht in Vergessenheit zu geraten. Denn er hat zumindest für die Demoskopie politischer Entwicklungen etwas schier unfassbares geschafft: Die Schulz-Blase, oder, um uns der in der Demoskopie gebräuchlichen Sprache der Angelsachsen zu bedienen, der „Chulz-Bubble“.

Auf der Blase der Euphorie

Als die SPD durch den Coup des Überlebenskünstlers Gabriel Anfang des Jahres ihren potentiellen Verlierer ausguckte und ihn mit einem 100-Prozent-Ergebnis zum neuen Messias erklärte, rasten die Befragungswerte Schulzens raketengleich in die Höhe – um dann innerhalb von nicht einmal fünf Monaten wieder auf den Vorschulzwert vom Januar zurück zu fallen. Das verlangt nach Antworten. Antworten auf Fragen an den Kandidaten, an die Demoskopen – aber auch an die Bürger dieses Landes.

Beginnen wir mit den Fragen an die Demoskopen. Wirft man einen Blick auf die seinerzeit vorgelegten Basiswerte, drängt sich der Eindruck auf, dass es bei den Zahlen der Monate März bis Juni nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Doch auch wenn man durchaus dem einen oder anderen Staatsvolk-Ausspäher unterstellen darf, eine gewisse Affinität zur SPD zu haben – die gesamte Breite der Befragungen lässt Manipulation ausschließen. Und so sind wir nun bei der Frage nach dem Wahlvolk.

Wie kann es sein, dass sich bis zu zehn Prozentpunkte – das ist bei rund 60 Prozent aller Befragten, die überhaupt eine Aussage machen, immerhin jeder Siebzehnte – einer Welle hingeben, die zur Blase wird? Wie kann es sein, dass in einer hochpolitischen Demokratie immerhin fast fünf Millionen Bürger sich von einer kurzfristigen Euphorie begeistern lassen, einen ihnen offenbar nur wenig bekannten Politiker hochleben lassen – um ihn nach nur wenigen Wochen fallen zu lassen wie eine heiße Kartoffel?

„Sankt Martin“ und seine Freunde
Der Spiegel seit 12 Wochen auf Schulz-Trip
Es macht wenig Sinn, an dieser Stelle darüber zu spekulieren, ob wir es mit einer Bevölkerungsgruppe zu tun haben, die möglicherweise mit politischer Betrachtung gänzlich überfordert ist? Ob der Bubble vielleicht ein Anti-Merkel-Reflex war, der im tatsächlichen Angesicht des Kandidaten schnell nachließ? Ob eine SPIEGEL- und MSM-affine Leserklientel willenlos ihren Vorschreibern folgte – ohne jede Reflexion dessen, was ihnen an Denkvorkost geboten wird? Überlassen wir die Beantwortung dieser Fragen einigen Doktoranden, deren Lebensziel in der Ausspähung liegt und die zu diesem Thema eine anspruchsvolle Dissertation produzieren könnten.
Hart gelandet

Blicken wir statt dessen auf den jetzt schon gescheiterten. Rein menschlich betrachtet, kann man für Schulz nur noch Mitleid aufbringen. Auf der exzellent inszenierten Welle sozialdemokratischer Solidaritätseuphorie gestartet, sah er sich bereits an der Spitze von Rot-Rot-Grün oder Rot-Grün-Gelb oder notfalls auch Rot-Schwarz mit mindestens eineinhalb Beinen in der „Waschmaschine“ gegenüber dem Reichstag amtieren.

Schulz, der Überflieger und geheilte Gewohnheitstrinker, der aus seinem persönlichen Absturz zu Jugendzeiten die Story eines willensstarken Stehaufmännchens zauberte.

Schulz, der Fraktionschef, der einen sich an der eigenen Hybris verschluckenden Bunga-Bunga-Berlusconi in die Schranken wies.

Schulz, der Europa-Parlamentarier, der sich mit den Großen dieser Welt auf Augenhöhe wähnte und daraus seinen Anspruch erwachsen ließ, selbst ein ganz Großer sein zu müssen.

Aber auch Schulz, der Vertragspartner, der sich zum Zeitpunkt, als er seinen Teil eines Paktes mit den Christdemokraten im EP einlösen sollte, an die Absprache nicht mehr erinnern mochte.

Und nun eben Schulz, der in wenigen Tagen auf dem harten Boden der politischen Realität landen wird.

Die Mafia aus Hannover

Hat er etwas falsch gemacht, der Schulz? Wieviel am Absturz aus der Blase fällt in seine eigene Verantwortung? Und wer sind die anderen, die an seinem Untergang klammheimlich mitgewirkt haben?

Medien: Gestern Merkel-treu, heute Schulz-verträumt
Um uns dieser Frage zu nähern, gilt als erstes die Feststellung: Solange Schulz im Straßburger Europa-Parlament unterwegs war, störte er die Kreise der heimischen SPD nicht. Ganz im Gegenteil: Gelegentlich ein Quentchen große, weite Welt aus Euroland nach Berlin strahlen lassen – das gefiel Gabriel und den Seinen. Als nun allerdings unvermutet Schluss war mit dem Egotripp des Fast-EU-Präsidenten, wurde der Rheinländer zur Bedrohung. Er bedrohte die seit Jahrzehnten sorgsam aufgebaute Vorherrschaft jener Hannover-Mafia, die die Geschicke der SPD seit dem Tandem Struck-Schröder fest in den Händen hält und Sozialdemokraten aus anderen Landesverbänden nur dann mitspielen lässt, wenn sie die Vorherrschaft der heute dominierenden Herren Steinmeier, Gabriel und Oppermann akzeptieren.

Genau diese Vorherrschaft der Niedersachsen war zunehmend mehr bedroht. Sie war bedroht dadurch, dass die Partei in ihrem Nachhängen an langjährige, wenngleich auch in unserer Verfassung nicht vorgesehene Traditionen nach einem Kanzlerkandidaten verlangte. Denn hier war das hannoversche Personenkarussell ausgereizt.

Ein Reigen der Gescheiterten

Nachdem Gerhard Schröder über einen „suboptimalen“ Nachwahlauftritt von seiner Partei in die Wüste der russischen Gazprom entlassen worden war, musste Frank-Walter Steinmeier ran. Damals konnte sich die SPD noch ein wenig Hoffnung machen, die noch nicht ewig amtierende Merkel abzulösen. Doch Steinmeier scheiterte 2009 mit einer Wählervernichtung von 11,3 Prozentpunkten kläglich – angeblich an seinen eigenen Beißhemmungen – und wurde dennoch von der Hannover-Mafia gnädig aufgefangen und zum ständig besorgten Schaulaufen als Außenminister abgestellt.

Dann kam jemand, der nicht der Hannover-Mafia angehörte – und dessen von Sachkenntnis geprägtes Ego die Niedersachsen hätte elegant an die Wand spielen können, wäre er im Wahlkampf erfolgreich gewesen.  Und so wurde Peer Steinbrück von vornherein auf das Gleis ins Aus gesetzt – die Partei verweigerte sich seinen inhaltlichen Zielen und machte ihn trotz eines kleinen Zugewinns von 2,7 Prozentpunkten nach der Wahl 2013 zum Hinterbänkler. Im September 2016 zog der langjährige SPD-Spitzenpolitiker und Freund von Ex-Kanzler Helmut Schmidt die Konsequenzen und verzichtete auf das Bundestagsmandat.

Ein Hannoveraner hätte sich opfern müssen

2017 wäre nun nach Stand der 2016er-Dinge wieder jemand aus der Hannover-Mafia an der Reihe gewesen. Prädestiniert war der Parteivorsitzende und Vizekanzler – wer, wenn nicht Gabriel, hätte den Stab zum Sturm auf das Kanzleramt in die Hand nehmen müssen. Das aber wäre das Aus für die Hannoveraner in der SPD gewesen – denn der ehemalige Pop-Beauftragte der SPD war zum Jahresende 2016 alles andere als ein Popstar der Bürgerzustimmung. Dennoch hätte sich der Mann aus dem verträumten Vorharz-Städtchen Goslar opfern müssen – um nach einer verlorenen Bundestagswahl in Schimpf und Schande vom Hof gejagt zu werden.

Ein Thomas Oppermann allein mit einem Hubertus Heil im Schlepptau aber macht keine Hannover-Mafia mehr – Schröders sorgsam geschmiedete, absolute Vormachtstellung in der Sozialdemokratie wäre am Ende gewesen.

Da kam der West-Westfale aus Brüssel wie ein Geschenk. Es war absehbar, dass die Hybris des Europa-Überfliegers den Martin Schulz zum Konkurrenten um den Parteivorsitz machen würde – vor allem dann, wenn ein Gabriel sich als erfolgloser Kanzlerkandidat verschlissen hätte. Und so strickte der damalige Bundesminister der Wirtschaft ein geniales Modell. Es passte zu dem ausgebildeten Gymnasiallehrer, hierbei ein wenig va banque zu spielen. Denn es hätte ja auch schiefgehen können.

Gabriels Überlebensstrategie

Gabriel wusste: Um Schulz zu verhindern, musste er ihn in sein eigenes Unglück laufen lassen. So präsentierte er nach dem Wegloben (im Politik-Jargon eigentlich „entsorgen“ – aber das darf PC-mäßig nicht mehr öffentlich gesagt werden) Steinmeiers auf den Präsidentenstuhl in einem Überraschungscoup seinen eigenen Rückzug vom Parteivorsitz, um sich selbst gleichzeitig in das Außenamt zu katapultieren. Dessen politische Vortänzer sind aus unerfindlichen Gründen fast immer bei der Bevölkerung ganz oben auf der Beliebtheitsskala – und so gelang es wider dem Erwarten jener, die seine Performance 2016 in Erinnerung hatten, auch Gabriel, nun sogar Merkel und Schäuble zu toppen, während Schulz ins Bodenlose abrutscht.

Nach den Dementis die nächsten News
Gabriel – wie lange noch?
Gleichzeitig schickte der frühere Ministerpräsident Niedersachsens Schulz in die Feuerlinie. Ex-Mister-EP sollte den Kanzlerkandidatenjob übernehmen – und das sollte ihm mit dem Parteivorsitz der SPD versüßt werden. Der Martin aus Würselen konnte nicht nein sagen – er sah sich selbst auf der never-ending Erfolgsstraße nach oben und als Retter der SPD. Die Parteitagsregie und das Freudenfeuer in den grünsozialdemokratischen Medien taten das ihre, um den angeblich so Politik-erprobten Europäer in jede Falle laufen zu lassen, die Gabriel ihm aufstellen konnte.
Ein Irrtum namens Gerechtigkeit

Erst verpasste die Parteizentrale im Willy-Brandt-Haus dem Kandidaten mit der „Gerechtigkeitsdebatte“ zwar einen Wahlkampfschwerpunkt, der das sozialdemokratische Herz zutiefst erfreut – der jedoch angesichts der wirtschaftlichen Prosperität der Republik der überaus großen Mehrheit links an dem vorbei geht, auf dem sie im Allgemeinen zu sitzen pflegt. Auch die anderen, von der Wahlkampfzentrale vorgegebenen Themen vermochten nicht zu verfangen – wie auch, wenn wie bei der Union um das den Bürgern am meisten auf den Nägeln brennende „Flüchtlings“thema ein riesengroßer Bogen der vorgeblichen Unvolksverunsicherung gemacht wird. Als dann noch die zugegeben wenig innovative Katharina Barley durch den Stabschef der Hannoveraner, Hubertus Heil, abgelöst wurde, gab es für Schulz keine Rettung mehr.

Da half nun auch der plötzliche Umschwenk des langjährigen Türkei-Befürworters nicht mehr, die EU-Beitrittsverhandlungen mit den Muslimbrüdern aus Ankara zu beenden. Beim Volk hatte sich Schulz längst ins Abseits gespielt – und die offen zur Schau getragene Ablehnung des Schulzensen Erdogan-Kurses beim EU-Außenministertreff im Baltikum lässt nun selbst den Unbedarften erkennen, woher der Wind im Kampf um die SPD-Führung weht.

Anfängerfehler des Überfiegers

Schulz, der angeblich so erfahrene Politiker, hat einen unverzeihlichen Anfängerfehler gemacht. Er hat darauf vertraut, dass seine Kollegen in der Parteiführung es ehrlich mit ihm meinen. Er hat in einer Anwallung nostalgischer Gefühle darauf vertraut, dass die früher als Markenzeichen der Sozialdemokratie vorangetragene Solidarität auch heute noch gilt. Doch er war offenbar zu lange fort, um zu begreifen, was hinter den Kulissen der SPD in den vergangenen zwei Jahrzehnten abgelaufen ist.

Dabei hätte ihm schon ein Blick in die Erkenntnisse des ersten Politikwissenschaftlers der Neuzeit, Niccolo Machiavelli, sagen können, dass die erste Prämisse eines neuen Mannes in der Führung die Besetzung aller relevanten Posten mit eigenen Leuten ist.

Bei seiner Wahl zum Parteivorsitz hätte er das als Bedingung durchsetzen können – und müssen. Statt dessen arbeitet er immer noch mit dem Personal der Hannoveraner. Und wo deren Solidarität allein schon deshalb liegt, weil sie das Groß-Reinmachen spätestens nach einem Wahlerfolg des Martin Schulz erwarten – darüber dürfte doch kein Zweifel herrschen.

Und so wird Schulz nach dem Wahltag von Glück reden dürfen, wenn ihm noch ein paar sozialdemokratische Brosamen zugeworfen werden. Das Außenamt allerdings hat bereits Gabriel für sich gechartert – und auch deshalb muss Schulz gegen Merkel verlieren. Denn unter dem Job des Vizekanzlers und Außenministers würde es der frühere EU-Parlamentarier nicht machen. Da Gabriel dieses seit Schulzens Marsch nach Berlin wusste, durfte dieser nun ein Zwischenspiel geben. Wie schrieb schon Shakespeare? Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan – der Mohr kann gehen.

Am 24. September wird Schulz zum Mohren der Sozialdemokratie – und zum Gegenstand der kritischen Betrachtung dessen, was als jener Chulz-Bubble perfekt beschrieben ist. Immerhin etwas – frühere SPD-Kandidaten waren sogar für die wissenschaftliche Betrachtung gänzlich uninteressant.