Türkei: Die Verfassung der Unfreiheit

Non-Zentrismus gehört nicht nur zu den Regierungssystemen moderner Demokratien, sondern ist auch der Erfolg in anderen Feldern, Architektur, Wissenschaft, Literatur, Kunst und selbst Religion. Marktwirtschaft ist die Voraussetzung für diese Freiheit.

© Karen Bleier/AFP/Getty Images

Das Verfassungsreferendum in der Türkei ist eine Mahnung an den demokratischen Rechtsstaat. Er ist nicht gefeit vor grundsätzlichen Änderungen. Wer könnte ein Lied davon singen, wenn nicht wir Deutschen? Grundsätzliche Änderungen der Regierungsform, auch wenn sie sich schleichend vollziehen, sind eine ständige Gefahr. Sie werden häufig für einzelne Personen gezimmert. Darin liegt auch das Dilemma der Türkei. Die neue Präsidialverfassung ist auf den aktuellen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zugeschnitten. Darin liegt schon ihr grundsätzlicher Fehler. Der Putschversuch am 15. und 16. Juli 2016, nach dem anschließend über 40.000 Personen festgenommen und über 80.000 Beschäftigte im Öffentlichen Dienst ihren Job verloren, bot für Erdogan die entscheidende Begründung, die Machtfülle anzustreben, die ihm das Referendum jetzt zugestanden hat.

Das neue „Präsidialsystem“ wird von AKP-Politikern mit der Verfassung der USA verglichen. Das ist sehr vermessen. Nicht nur, weil die Vereinigten Staaten eine lange und große Verfassungstradition haben, die die Türkei nicht hat. Die US-Verfassung unterscheidet sich auch in sehr grundsätzlichen Fragen von der der Türkei. Die Gründerväter der USA um John Adams, Thomas Jefferson und James Madison mussten seinerzeit einen klassischen Konflikt lösen. Zum einen wollten sie das positive, das eine Regierung verspricht, zulassen, und zum anderen Freiheitsbedrohungen durch die Regierung und ihren Präsidenten verhindern. Aus diesem Anspruch folgten für sie zwei wesentliche Grundsätze.

Erstens musste der Spielraum des Präsidenten und der Regierung beschränkt werden. Zwar gilt der amerikanische Präsident als der mächtigste Mann der Welt, dennoch darf auch er nicht alles. Bei allem Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist er an die Verfassung gebunden, Gesetze können von ihm nur verhindert, aber nicht durchgesetzt werden. Sein Regierungshandeln wird von Gerichten überprüft. Unabhängige Medien kontrollieren und kritisieren sein Handeln.

Präsidenten Donald Trump kann ein Lied davon singen. Er stößt permanent an Grenzen. Die Rücknahme von Obama-Care scheiterte bereits zu Beginn seiner Amtszeit im Parlament. Der Einreisestopp für Menschen aus Staaten mit überwiegend islamischer Bevölkerung wurde durch Bundesrichter verhindert. Und die wichtigste Zeitung Amerikas, die New York Times, hat seit seiner Wahl im November ihre Abonnentenzahl um 250.000 auf 3 Millionen erhöht. Der Aktienkurs stieg seitdem um 30 Prozent.

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Der zweite Grundsatz der Verfassungsväter war die Einflussbeschränkung des Präsidenten und seiner Regierung durch eine vertikale Machtverteilung. Regierungsmacht wurde auf verschiedene Ebenen verteilt. Sie waren überzeugt, dass es besser ist, wenn Regierungsmacht in Städten, Landkreisen und Bundesstaaten ausgeübt wird, anstatt im fernen Washington. Wer sich dieser Regierungsmacht entziehen wollte, konnte von einer Stadt in die andere ziehen, von einem Landkreis in den nächsten und von einem Bundesstaat in einen weiteren. Wer also mit dem Schulsystem, mit der Besteuerung oder mit der sozialen Fürsorge nicht einverstanden war oder ist, konnte weiterziehen und sich der Macht der lokalen oder regionalen Administration entziehen.

Hier setzt der Politikstil der Erdogans an. Er und seine Helfershelfer wollen Macht zentral ausüben. Sie behaupten, dass Regierungshandeln dadurch viel effektiver werden kann und dies auch im Interesse der Öffentlichkeit sei. Doch wie immer gibt es hier zwei Seiten. Effektives Regierungshandeln kann zum Guten, aber auch zum Schlechten führen. Niemand, auch kein Präsident, weiß alles und trifft immer richtige Entscheidungen. Dennoch müssen alle Bürger dafür geradestehen. Sie haben keine Ausweichmöglichkeiten. Es bringt ihnen nichts, von Istanbul nach Ankara oder nach Izmir umzuziehen. Der lange Arm Erdogans reicht in jeden Winkel der Türkei.

Hinzu kommt, dass selbst die Erdogan-Anhänger nicht die Gewähr haben, ob nicht nach Erdogan ein Präsident an die Macht kommt, der noch viel stärker gegen Grundrechte vorgeht. Vielleicht ändern sich dann die Gegner der Regierung. Wer heute meint, die Unterstützung der Regierung zu haben, wird morgen unter einem neuen Präsidenten vielleicht ebenfalls unterdrückt und verfolgt. Denjenigen, die das „Präsidialsystem“ der Türkei unterstützt haben, muss nicht generell eine böse Absicht unterstellt werden. Die Tragödie ist jedoch, dass diese Entwicklung häufig von Leuten guten Willens angeführt werden, die dann die ersten sind, die das Ganze bereuen. Daher ist ein Gesellschaftssystem der Machtbegrenzung durch eine horizontale und vertikale Verteilung von Regierungsmacht einem zentralistischen System überlegen. Hier wirken sich Fehlentscheidungen einzelner nicht für alle aus, sondern nur für wenige. Es ist letztlich das Gesellschaftssystem „des Westens“. Dieser Non-Zentrismus existiert nicht nur in den Regierungssystemen moderner Demokratien, sondern ist auch der Erfolg in anderen Gesellschaftsbereichen, in der Architektur, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst und selbst der Religion. Die Marktwirtschaft ist die Voraussetzung für diese Freiheit.

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Kommentare ( 13 )

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13 Comments
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3. Stock links
7 Jahre her

nachdem die Links rausgekickt wurden bitte googlen für oben: Geschichtsforum Ethnogenese der Türken

und: Neuer Flughafen Istanbul wiki

Yellow
7 Jahre her

Der „Parteifreund Mazyek“ hat sich vor laufender Kamera erdreistet zu sagen, dass seine Parteimitgliedschaft ruht. Das gibt es glaube ich nur beim Bundespräsidenten.

Bernhard K. Kopp
7 Jahre her

Ein gewählter Diktator wird soviel Diktatur machen wie ihm seine unmittelbare Machtelite erlaubt. Das ist jetzt in Ankara so ähnlich wie in Moskau. Ein liberaler, demokratischer Rechtsstaat wird dabei nicht so schnell herauskommen, wenn überhaupt. Das ist in Ankara so ähnlich wie in Moskau. Eine rechtsstaatliche Verwaltung, und eine unabhängige Justiz müssen von entsprechenden Machtgruppen erstritten werden, das war in England und in Preussen so, vor 100, 200 und mehr Jahren – sehr lange bevor eine Demokratisierung auch nur ansatzweise möglich wurde. Das wird auch in der Türkei, wie in Russland, so ähnlich sein. Bisher hat es solche Machtgruppen, und… Mehr

Herbert Wolkenspalter
7 Jahre her

Diejenigen Großen auf der Welt, die Demokratie am häufigsten und lautesten fordern und fordern lassen, sind gleichzeitig diejenigen, die am wenigsten davon halten. Koks fürs Volk.

3. Stock links
7 Jahre her

Die (historisch begründete) westliche Angst vor dem Starken Führer übersieht, dass die Türkei keine Preussen hat und nicht geschult ist, blindlings Befehlen zu folgen. Allein schon die ethnische Vielfalt der Türkei verhindert, dass im „Gleichschritt“ marschiert wird…

>> „Jeder solle seine Glückes Schmied sein“ – ist dies nicht ein liberaler Grundsatz – wieso nicht für die Türkei gültig…?

und zu beachten:

die blinde Angst vor Despoten sind das Einfallstor für Despoten: Ergebnis ist eine Mauer mit Stacheldraht ums Land und Keiner kommt rein und Keiner mehr raus – auch dies kann aus der Geschichte gelernt werden.

Gruß …!

+++

Störk
7 Jahre her

in Deutschland gilt leider das Prinzip „Bundesrecht bricht Landesrecht“, weswegen wenige Jahrzehnte bundeseinheitlicher Gesetzgebung gereicht haben, um den Föderalismus an die Wand zu drängen – die Unterschiede zwischen Niedersachsen, NRW und Hessen wurden so weit eingeebnet, daß sich „rübermachen“ nicht mehr lohnt.

Eigentlich müßten sich mal ein paar Bürgermeister auf die Hinterbeine stellen, und dem Bund die „Kompetenz-Kompetenz“ entziehen, die Gültigkeit von Bundesgesetzen in ihren jeweiligen Städten an die Zustimmung des jeweiligen Stadtrates koppeln, und ihre jeweiligen Finanzämter anweisen, jegliche Zahlungen an Berlin einzustellen.

Jaco Sandberg
7 Jahre her
Antworten an  Störk

Aktuell wird das vom Bund noch mit Geld zugekleistert. Irgendwann sehr bald ist aber auch das Geld nicht mehr da. Aktuell z.B. scheint die Wohnungssituation in Bayern wieder sehr angespannt zu sein, und die ‚Flüchtlinge‘, die jetzt auf den Wohnungsmarkt drängen, werden große Probleme bekommen, überhaupt etwas zu finden. Und dann, was passiert danach? Wird dann Wohnraum requiriert von der bayerischen Landesregierung?

Matthias Losert
7 Jahre her

„Dieser Non-Zentrismus existiert nicht nur in den Regierungssystemen moderner Demokratien, sondern ist auch der Erfolg … und selbst der Religion.“ – Hr. F. Schäffler Die hier oberflächlich beworbene Ursache-Wirkungskausalität erscheint mir nicht schlüssig. Ihren obengenannten Satz sollten Sie anhand folgender Fragen näher Erläutern. Nach der Absage an den EU-Zentrismus folgt der Erfolg der britischen Regierung? Wenn Schottland, Nordirland und Wales dem „Londoner-Zentrismus“ absagen, folgt der Erfolg? – Geht es nur um kleinstmögl. Souveränitätseinheiten? Nach Hr. D. Trumps Zweifel am „Pariser Klimaabkommen“ melden sich Stimmen, daß globale Probleme nur mit globaler Politik lösbar sind. – Also mehr Zentrismus? Die religiöse Ursache… Mehr

Blaue vom Himmel
7 Jahre her

Welch prophetische Worte: „Grundsätzliche Änderungen der Regierungsform, auch wenn sie sich schleichend vollziehen, sind eine ständige Gefahr.“ Nicht wahr Frau Sonnenkönigin und Konsorten.

Störk
7 Jahre her

und…? War das „gut, demokratisch und rechtsstaatlich“?

Herbert Wolkenspalter
7 Jahre her

Man kann nicht gleichzeitig zu 100% bekommen:

• Rechtsstaat
• Freiheit
• Demokratie
• Gewaltenteilung