Die soziale Botschaft der Genossen

Von staatlicher Umverteilung profitieren nicht die Bedürftigen, sondern in erster Linie die Umverteiler im bürokratischen System. Sozial ist nicht der Staat, sondern der Einzelne durch sein selbstbestimmtes Handeln.

© Sean Gallup/Getty Images

Die sozialpolitische Diskussion in Deutschland verläuft etwas schief. Das zeigt die Diskussion um die Formulierung des neuen Gesundheitsministers Jens Spahn, der in einem Interview gesagt hat: „Die Tafeln tragen dafür Sorge, dass Lebensmittel nicht weggeworfen werden. Damit erfüllen sie eine wichtige Aufgabe und helfen Menschen, die auf jeden Euro achten müssen. Aber niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe. Wir haben eines der besten Sozialsysteme der Welt.“ Spahn hat durchaus recht damit. Zum einen ist es gut, dass Lebensmittel nicht weggeworfen werden, sondern Verwendung finden. Zum anderen ist es richtig, dass die Anzahl der Tafeln in Deutschland nichts über die Armut in Deutschland aussagt. Tatsächlich ist die soziale Grundsicherung, auch im Vergleich zu Nachbarstaaten, auf sehr hohem Niveau.

Doch befähigt unser Sozialsystem zur Selbsthilfe? Unser Sozialsystem erinnert ein Stück an die Geschichte von Sankt Martin, der seinen Mantel teit, um ihn dem Bettler am Wegesrand zu schenken. Damit hat er erste Hilfe geleistet. Das ist wichtig und notwendig. Aber befähigt dies den Bettler ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Wohl nicht. Ein liberales Gesellschaftsbild würde hier eher einen Unternehmer sehen, der den Bettler erstversorgt und ihm anschließend seinen Fähigkeiten entsprechend eine Arbeitsstelle im Unternehmen anbietet, die ihm erlaubt, eine Wohnung zu mieten und seine Familie zu ernähren. Hilfe zur Selbsthilfe ist dabei das Stichwort. Diesen Ansatz verstehen staatliche Institutionen zu wenig. Besser geeignet ist dafür eine aufgeweckte Bürgergesellschaft. Vielleicht erfährt diese Bürgergesellschaft bald wieder eine Renaissance. Anlass für diese Renaissance könnte der 130. Todestag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen sein.

Die Not der Landbevölkerung veranlasste im 19. Jahrhundert Friedrich Wilhelm Raiffeisen zum Handeln. Als Bürgermeister von Weyerbusch (Westerwald) gründete er im Hungerwinter 1846/47 den „Verein für Selbstbeschaffung von Brod und Früchten“.

Mit Hilfe privater Spenden kaufte er u. a. Mehl. In einem selbsterrichteten Backhaus wurde Brot gebacken, das auf Vorschuss an die Bedürftigen verteilt wurde. Der „Brod-Verein“ und der „Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein von 1864“ waren die ersten vorgenossenschaftlichen Zusammenschlüsse und der Beginn der weltweit erfolgreichen genossenschaftlichen Bewegung.

Ein anderes Jubiläum steht in diesem Jahr ebenfalls an. Vor 150 Jahren, am 04.07.1868, wurde das Genossenschaftsgesetz im Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes veröffentlicht. Es war das Ergebnis eines langen politischen Kampfes, den der Liberale Hermann Schulze-Delitzsch leidenschaftlich führte. Weil Arbeiter und Gewerbetreibende keine Kredite bekamen, um Investitionen zu tätigen, gründete Schulze-Delitzsch „Vorschussvereine“. Es waren die Vorläuferorganisationen der heutigen Volksbanken. Sie waren lokal verankert und kümmerten sich um die originären Themen, die ihre Mitglieder betrafen.

Der Sachse Schulze-Delitzsch wollte den „Vereinigungen der kleinen Leute“ die gleichen Rechte wie den „Vereinigungen der Wohlhabenden“ ermöglichen und diese von der „Willkür der Verwaltungsbehörden“ befreien. Diese Unabhängigkeit vom Staat setzte für ihn zwei wesentliche Dinge voraus: Zum einen die solidarische Hilfe der Genossenschaftsmitglieder für den gemeinsamen Zweck, aber gleichzeitig auch die solidarische Haftung aller Mitglieder (Genossen). Viel mehr an Regulierung brauchte es nicht und braucht es wohl auch künftig nicht. Das Genossenschaftswesen ist eine echte liberale Alternative zu den oftmals ineffizienten, unpersönlichen Gießkannenaktionen, die wir aus dem Bereich des Wohlfahrtsstaates nur allzu gut kennen. Sie ist eine dezentrale Antwort auf große und vielfältige sozialpolitische Herausforderungen. Der großartige Genossenschaftsgedanke verbindet zivilgesellschaftliches Engagement mit ökonomischer Tatkraft, wahrhaftige Solidarität mit Unternehmergeist. Anders als in einem anonymen Sozialstaatskonstrukt sind die Armen und Schwachen nicht bloß Bittsteller und Almosenempfänger, sondern eigenständige Individuen, die freiwillig kooperieren, um ihre Notlagen gemeinschaftlich zu lösen.

Kritisch hinterfragen muss man nicht nur die Ineffizienz der gegenwärtig bestehenden sozialstaatlichen Strukturen, sondern auch deren moralische Integrität. Ist Wachstum im Sozialstaat per se schon eine segensreiche Komponente? Wird unsere Gesellschaft durch einen immer schneller wachsenden Sozialstaat schon „sozialer“? Führt die etatistische Mentalität hierzulande, die sich durch die wachsende Anspruchshaltung gegenüber staatlichen Leistungen manifestiert, nicht letztendlich zu einem zu tiefst undemokratischen Verteilungskampf um die vorhandenen Ressourcen? Kann sozialer Frieden dadurch langfristig gewährleistet werden? Oder bedarf es hier nicht zivilgesellschaftlichen Engagements, das Probleme persönlicher und ehrlicher löst, als es der Staat jemals könnte?

Es zeigt sich, dass viele gesellschaftliche Probleme unserer Zeit auch privatwirtschaftlich zu lösen sind und nicht immer über klebrige und ineffiziente staatliche Umwege geleitet werden müssen. Vom staatlichen Umweg profitieren nämlich nicht die Bedürftigen selbst, sondern in erster Linie das bürokratische System. Denn wirklich sozial ist nicht der Staat, sondern der Einzelne durch sein selbstbestimmtes Handeln.

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Kommentare ( 60 )

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Frank Schäffler
6 Jahre her

Sorry, da habe ich etwas locker über den barmherzigen Samariter geschrieben und Sankt Martin gemeint. Danke für den Hinweis.

Eysel
6 Jahre her

„Diesen Ansatz verstehen staatliche Institutionen zu wenig.“ Falsch! Sie DÜRFEN diesen Ansatz nicht verstehen. Schon garnicht praktizieren. Er würde diese Institutionen „arbeitslos“ machen! • Das „Fordern und Fördern“ von Willi (nein, ich war noch nie SPD-Wähler, aber DAS war richtig! als auch nur – wie ich zu Beginn der Willi-Zeit voraussagte – NUR von einem Sozi durchsetzbar) ist längst und zugunsten eines „Primitiv-Sozialismus“ a la Robin Hood unter die Räder gekommen. – Jegliches „Fordern“ eigener Aktivität wird von gewissen Leuten längst als „unverschämte Zumutung“ empfunden, entsprechend diskreditiert. – Dabei ist das „Fordern von eigenen Anstrengung“ ELEMENTARER und unverzichtbarer und (unausgesprochen)… Mehr

Ghost
6 Jahre her

„Bürgergesellschaft“
Ich halte das für eine unrealistische Utopie. Denn wir leben im Zeitalter des Individualismus (bereits von Georg Simmel um 1900 vorausgesagt), die für eine Bürgergesellschaft notwendige Solidarität (Solidarität im besten, gesundesten Sinn) ist auf dem Rückzug, nicht nur hierzulande.

Eberhard
6 Jahre her

Bluten für den Sozialstaat. Vorwiegend Einzahlpflichtige in die Sozialsysteme müssen das. Wer kein eigenes Einkommen, zahlt nicht ein und wer ein hohes auch nicht. Trotz höchster Vorsorgeleistung besonders betroffen von zusäztlicher Staatsabzocke, intakte Familien mit Kindern. Familien, die sich durch Arbeit und Lebensstiel ein halbwegs solides Umfeld geschaffen, ohne damit möglichst den Sozialstaat zu belasten. Mit jedem zusätzlichen Familienmitglied wächst die Last der Staatsabzocke. Mehrwert, Dienstleistung, Energie, Bildung usw. schlägt für jedes Familienmitglied zu Buche. Sollte allerdings ein Notfall auftreten, werden erst mal die aus der Familie, die schon immer brav geblutet, mit zur Kasse gebeten. Wer keine Familie, braucht… Mehr

Marc Hofmann
6 Jahre her

Dieser Satz bringt es auf den Punkt…
Denn wirklich sozial ist nicht der Staat, sondern der Einzelne durch sein selbstbestimmtes Handeln.

Danke für den sehr guten Beitrag!

Toni Rudolf
6 Jahre her

Sehr ggehrter Herr Schäffler,

Sie haben die Geschichte vom barmherzigen Samariter mit der vom heiligen Martin verwechselt. Das ändert aber nichts an der Aussage Ihres excellenten Beitrags.

Walter Knoch
6 Jahre her

Die Sozialindustrie aus Herz-Jesu- und säkularen Sozialisten bedient sich aus der Trickkiste, die das normale Leben immer zum Verlierer macht. Egal, wie weit die Absicherungen für die „Benachteiligten“ auch ausgreifen und gedeihen mögen, eine 100-prozentige „Gerechtigkeit“ wird die Realität nie und nimmer erreichen. Es werden immer und immer heißt auf Ewigkeiten Ecken und Kanten finden lassen, wo noch einmal an der Stellschraube und jener gedreht werden muss, um dem angestrebten Ideal einer rundum versorgten und damit abhängigen Gesellschaft genüge zu tun. Der Hase verliert immer. Wer bringt unseren Kindern noch bei, wie befriedigend es sein kann, es ist, sich aus… Mehr

Michael Kr.
6 Jahre her

Das kleinste Genossenschaftssystem ist die Familie oder der Familienverband (Kernfamilie plus Onkel, Tanten, Nichten, Neffen etc). Leider muss man dank stattlich gefördertem Selbstverwirklichungs- und Genderwahn das „ist“ immer öfter durch ein „war“ ersetzen.

Merkelfan 3000
6 Jahre her

Die Sozialindustrie …

Die ganzen Sozialarbeiter, Psychologen usw. wollen halt nicht nur einen Job, sondern auch das Gefühl mit ihrer „Arbeit“ was gutes zu bewegen. Und es fühlt sich für die meisten halt besser und wichtiger an in irgendeiner Form zu verwalten, zu organisieren und die Welt zu retten als sich mit den wirklichen Probleme auseinanderzusetzen.

gmccar
6 Jahre her
Antworten an  Merkelfan 3000

Dafür nimmt man oberflächlich begutachtet vollbärtige Runzelgreise als minderjährige unbegleitete Jugendliche in Obhut, was den Vorteil hat, das deren „Traumatisierung“ die Stellen von mindestens 2 Sozialarbeitern „erforderlich“ macht. Caritas,AWO; Diakonie und all die Helfer und „Flüchtlingsräte“ verdienen sich in den oberen Etagen dumm und dämlich, was sie wiederum in die Lage versetzt, den bisher wohlwollenden politischen Beamten wie Landräten und Bürgermeistern während der Amtszeit ein Zubrot und nach der Abwahl ein lukratives Pöstchen zu verschaffen.

Mausi
6 Jahre her

Herr Schäffler, Sie haben vollkommen Recht. Unser Sozialstaat verkommt immer mehr zu einem Selbstbedienungsladen, in dem sich Sozialverbände, Kirchen und diverse zwielichtige Vereine bereichern, der aber den Bedürftigen immer weniger hilft. Wie kann es sein, dass wir immer mehr für Soziales ausgeben, aber gleichzeitig die Armut steigt? Wie kann es sein, dass manche durchs Raster fallen, obwohl sie Hilfe brauchen, und andere, die keine Hilfe brauchen, sich am System bereichern können? Zentralverwaltungswirtschaft hat noch nie funktioniert und sie funktioniert auch nicht im Sozialstaat. Woher soll ein Staat wissen, welche Art von Bedürftigkeit es wo gibt? Das ist nicht möglich und… Mehr