Rhetorik als Mittel der Demokratie

Die Demokratie braucht keine Sprachpolizei, sondern eine Justiz, die die Freiheit des Wortes schützt, selbst dort, wo Sprache missbraucht wird. Abgesehen von Beleidigungen und Verleumdungen müssen alle Worte frei sein, ob man sie ablehnt oder nicht.

Der Verfassungsgerichtspräsident rügt die Rhetorik der Asyldebatte. Die Kanzlerin tut es auch. Bei näherem Hinsehen, sitzen beide im Glashaus. Anlass zu einigen grundsätzlichen Gedanken zur Rhetorik als Mittel der Politik.

I.

Angesprochen auf Seehofers „Herrschaft des Unrechts“ sagte Voßkuhle: „Eine solche Rhetorik halte ich für inakzeptabel. Sie möchte Assoziationen zum NS-Unrechtsstaat wecken, die völlig abwegig sind.“ Was wiederum Seehofer für „nicht akzeptabel“ hält. Ein Verfassungsrichter sollte „nicht Sprachpolizei“ sein. Die Demokratie braucht überhaupt keine Sprachpolizei, sondern eine Justiz, die die Freiheit des Wortes schützt, in all ihren rhetorischen Ausprägungen, selbst dort, wo Sprache missbraucht wird. Abgesehen von Beleidigungen und Verleumdungen müssen alle Worte frei sein, ob man sie ablehnt oder nicht. Tatsächlich ist das nicht der Fall. Rhetorische Mittel werden in Deutschland beargwöhnt, aber nicht vermittelt und trainiert. Denn in Wahrheit wird Streit verabscheut, also auch seine rhetorischen Mittel.

II.

Die einen sagen, Rhetorik sei lediglich Mittel zum Zweck. Die anderen verlangen, dass die Kunst der Rede stets der Wahrheit und der Moral zu dienen habe. Dieser Streit ist so alt wie die Rhetorik selbst, beschäftigte schon die antiken Griechen. Ich meine: Die Moralisierung der Rhetorik schwächt den demokratischen Diskurs. Die Kunst der Rede ist ein wichtiges Mittel der Mehrheitsbildung, aber keines, dass der Wahrheit verpflichtet sein muss. Welche Wahrheit auch immer, sie darf und muss mit allen rhetorischen Mitteln bezweifelt werden dürfen. Alles andere gefährdet die Freiheit.

III.

Die Glaubwürdigkeit des Redners ist natürlich eine Voraussetzung wirksamer Rhetorik. Aber ohne Argumente kommt er nicht aus. Schon Aristoteles allerdings wusste, dass der Sender nicht ohne den Empfänger zu verstehen ist – der emotionale Zustand des Publikums ist mitentscheidend dafür, was Rhetorik bewirkt.

IV.

Bei Griechen und Römern war Rhetorik zentraler Bestandteil der Ausbildung ihrer Eliten. Die angelsächsischen Länder (wo der Parlamentarismus sich als rhetorische Schule der Nation erwies) und Frankreich (wo die Revolution die öffentliche Rede ins Zentrum rückte) liegen in dieser Hinsicht noch immer weit vor Deutschland. Die vorherrschende idealistische Geisteshaltung in Deutschland lehnte die rhetorischen Mittel der Rede ab, schwärmte statt dessen von der unverbildeten Kraft der Seele und des Herzens. Goethe bezeichnete die Rhetorik gar als Schule des Verstellens. Rhetorik wurde Opfer einer moralisierenden Abwertung – und so ist das bis heute. Der eher linke Walter Jens (verstorbener Inhaber der bis heute einzigen Rhetorikprofessur in Deutschland!) begründete das schlechte Ansehen der Rhetorik in Deutschland auch mit dem Feudalismus. Das Untertanendenken habe Sprachkraft zerstört. Der gute Deutsche rühmt die Tat und verachtet die freie Rede. Kein Wunder, dass die rhetorisch unterbelichtete Zivilgesellschaft anfällig wurde für faschistische und kommunistische Propaganda. Die dem rhetorischen Diskurs entwöhnte, entpolitisierte „Mitte“ sieht heute entsetzt, wie Rhetorik in der politischen Auseinandersetzung plötzlich ein neues Gewicht bekommt.

V.

Vor der Bundespressekonferenz beklagte sich die Kanzlerin jüngst darüber. Sie sagte: „Ich messe der Sprache auch eine sehr, sehr große Bedeutung zu. Ich persönlich werde mich immer wieder sehr gegen bestimmte Erosionen von Sprache wenden, weil ich glaube, dass es auch Ausdruck von Denken ist. Deshalb muss man sehr vorsichtig sein. Ich glaube, das haben ja auch einige jetzt schon versucht zu beherzigen. Das ist ein Ausdruck politischer Kultur. Er kann Spaltung auch befördern.“

Dieser holprige, syntaktisch wie rhetorisch unterbelichtete Redeschwall widerlegt die Behauptung, die Amtsinhaberin messe der Sprache hohe Bedeutung zu. Darüber hinaus, irrt sie auch in der Sache. Was Merkel Erosion nennt, ist tatsächlich der Vulkanismus von Sprache. Auch, wenn es ihr nicht gefällt, Sprache lässt sich so wenig wie Denken unterdrücken.

VI.

Merkel sagte unmittelbar danach noch etwas Richtiges, wenn auch sich selbst Widersprechendes: „Aber jede Art von Auseinandersetzung, von Streit, nun zu vermeiden, damit die Gesellschaft nicht gespalten erscheint – ich glaube, Versöhnung in einer Gesellschaft kann nur durch das Austragen von Meinungsverschiedenheiten geschehen. Die Form, in der das passieren muss, ist sicherlich noch verbesserungsfähig.“

Würde sie sich nur selbst daran halten. In Wahrheit hat sie mit Floskeln („Wir schaffen das“) und Diskussionsverboten („Scheitert der Euro, scheitert Europa“), dem politischen Diskurs in Deutschland Schaden zugefügt. Die Spaltung, die sie beklagt, ist eine Folge davon.

VIII.

Präsident Voßkuhle über „Populisten“: „Populistische Politiker gehen von einem homogenen Volk aus und geben vor, genau zu wissen, was dieses Volk will. (…) Wer sie kritisiert, ist daher ein Feind des Volkes und muss bekämpft werden. Das ist dann schnell jeder, der nicht der Mehrheitspartei zugehörig ist.“ Wenn das die Definition von Populismus ist, ist auch Merkel eine Populistin. Dann aber weiter: „In dem Konzept der Demokratie, wie es dem Grundgesetz zugrunde liegt, gibt es dagegen eine Opposition, die zur Mehrheit werden kann, gibt es einen demokratischen Austausch mit dem politischen Gegner, der zu richtigen Lösungen führen soll, gibt es Abgeordnete mit einem freien Mandat.“

Wo lebt der oberste Richter? Im Elfenbeinturm der Theorie. Wir kennen de facto keinen Abgeordneten mit freiem Mandat. Der Austausch mit der größten Oppositionspartei wird von allen anderen Parteien systematisch abgelehnt. Das mag gute Gründe haben. Aber weil es so ist, ist unbegrenzte Rhetorik keine Stilfrage und keine Frage der Moral, sondern Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie.

Unterstützung
oder

Kommentare ( 77 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

77 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Alexis de Tocqueville
5 Jahre her

Endlich sind Moral und Recht eins. – Adolf Hitler

andreas donath
5 Jahre her

„Der Austausch mit der größten Oppositionspartei wird von allen anderen Parteien systematisch abgelehnt. Das mag gute Gründe haben.“

Jene vermag ich, mit Verlaub, nicht zu erkennen. Ohne Seitenhieb gegen die AfD geht es anscheinend nicht. Ansonsten ein sehr treffender Artikel.

paul z
5 Jahre her

Rhetorik ist ein nicht zu unterschätzendes Werkzeug, um Spannungen abzubauen. Im alten Polen-Litauen, wo alle möglichen Kulturen, Sprachen, christlichen Konfessionen, Juden und Tataren aufeinander hockten, hielt sie das Land zusammen: Angeben und Selbstdarstellung, die polnische Nationalsportart, war bei der Multikulti-Gesellschaft überlebenswichtig. Auch in der heutigen Rap- und Hiphop-Kultur sind Sprachfertigkeit und Rededuelle oft Ersatz für Schusswaffen. Wer nur die Tat rühmt, entvölkert halt sein Land wegen winziger Unstimmigkeiten über Bibeldeutungen, bei denen es um Dinge geht, die so unwichtig sind, dass der liebe Gott es anscheinend nicht für nötig hielt, dazu etwas in die Bibel zu schreiben. Und Zensur katalysiert… Mehr

Wolfgang Schuckmann
5 Jahre her

Natürlich muss es „nämlich“ heißen. Sorry, ziemlich warm hier.

Wolfgang Schuckmann
5 Jahre her

Seltsam. Wo blieb denn, wenn man Voßkuhle ernst nehmen soll in der Migrationsdebatte, sein Einwand gegen die Tiraden einer stellvertretenden Bundestagspräsidentin, wo blieb denn seine Empörung bzgl. eines Journalisten, der von der Köderrasse faselte. Immer dann, wenn ein sich berufen Fühlender das Wort ergreift, sollte man sofort hinterfragen: fällt das in seine Kompetenzen.? Der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes ist für die Sache, zu der er sich äußerte, schlicht nicht zuständig. Stattdessen sollte er sich bemühen das Rechtsverständnis des Volkes zu verbessern. Selbsverständlich leben wir seit 2015 u. auch schon vorher unter der Herrschaft des Unrechtes aus Berlin, denn wenn man seinen… Mehr

Karl Heinz Muttersohn
5 Jahre her

Ich finde es gar nicht so schlecht, dass der Herr oberster Richter demonstriert, was von der Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland zu halten ist: Nix! Wir stehen einer politischen Elite gegenüber, die nur noch ihre eigenen Interessen verfolgt und längst jedwede Professionalität und Unabhängigkeit aufgegeben hat.

Marie-Jeanne Decourroux
5 Jahre her

Geradezu hochnotpeinlich, die Ungeniertheit, in der sich dieser Herr Voßkuhle zum Teil des Systems macht. Dass er dies ist, wussten wir, aber dies in dieser peinlichen Unverblümtheit zu demonstrieren, wirkt einfach nur dumm.

Oswaldo
5 Jahre her

Auf der semantischen Ebene fällt auf, dass es in diesem Land eine Szene gibt, die sich darin gefällt, die Demokratie zu verehren, den Populismus aber zu fürchten. Das passt nicht zusammen und es ist durch und durch verlogen. demos, griechisch: Volk. populus, lateinisch: Volk. Man mag von der Volksherrschaft, technisch: dem Ratsversammlungs- und Mehrheitsprinzip, halten, was man will, aber ganz sicher ist die Demokratie nicht auf griechisch wunderbar und auf Latein brandgefährlich. Das ist Blödsinn und natürlich steckt etwas anderes dahinter. Nämlich die Angst der ideologisch arretierten Linken vor der Ergebnis demokratischer Wahlen. Die natürliche politische Form der Linken ist… Mehr

wollow
5 Jahre her

„Populistische Politiker gehen von einem homogenen Volk aus und geben vor, genau zu wissen, was dieses Volk will. (…) Wer sie kritisiert, ist daher ein Feind des Volkes und muss bekämpft werden. Das ist dann schnell jeder, der nicht der Mehrheitspartei zugehörig ist.“ Könnte auch umgekehrt heißen: „Wahre Demokraten gehen von einer multikulturellen Bevölkerung aus, und geben vor, genau zuwissen, was für diese Bevölkerung richtig ist. Wer sie kritisiert ist ein Feind der Demokratie und muss bekämpft werden. Das ist dann schnell jeder, der keiner Altpartei angehört. Ich frage mich ganz ernsthaft, wie viele unseres „Establishments“ einfach auf andere projizieren,… Mehr

Paul J. Meier
5 Jahre her

Die Damen und Herren Moralisten haben ihren Schopenhauer gut studiert:

„Die angeborene Eitelkeit, die besonders hinsichtlich der Verstandeskraft reizbar ist, will nicht haben, dass was wir zuerst aufgestellt [haben] sich als falsch und das des Gegners als Recht ergebe.“

Schopenhauer

Die Kunst der Eristik finden wir in diesen ganzen Sophistereien, treffender als Rhetorik fände ich hier den Begriff der Rabulistik.
https://de.wikipedia.org/wiki/Rabulistik