Gewohnheits-Wähler, Gegen-Wähler und Mit-Wähler

Mit den Motiven der Wahlberechtigten ist es viel einfacher, als Politwissenschaftler und andere als sachkundig geltende laufend erklären.

imago images / Alexander Pohl

Die Darstellung des Ergebnisses der Schweizer Nationalratswahlen in den Salzburger Nachrichten ist ebenso korrekt wie konventionell:

„Die rechtsgerichtete Schweizerische Volkspartei (SVP) verlor an Rückhalt, blieb mit 25,6 Prozent der Stimmen aber stärkste Kraft. Sie büßte im Vergleich zur letzten Wahl knapp vier Punkte und damit zwölf Mandate ein. Sie stellt im neuen Nationalrat mit mehr als 50 Abgeordneten aber weiterhin die größte Gruppierung. Die Grünen gewannen 17 Abgeordnete hinzu und sind mit 28 Mandaten fortan viertstärkste Kraft im Nationalrat. Die Grünliberalen legten um neun Mandate auf 16 Abgeordnete zu.

Die Sozialdemokratische Partei (SP) kam als zweitstärkste Kraft auf 39 Sitze, die rechtsliberale FDP auf 29 Sitze und die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) auf 25 Sitze. Alle drei Parteien verbuchten Stimmverluste.“

Auch der Erklärungsansatz der Zeitung ist nicht falsch:

„Experten gingen davon aus, dass die grünen Parteien angesichts der Klima-Debatte viele junge Wähler mobilisieren konnten, die sonst den Wahlurnen fern geblieben wären. Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Oscar Mazzoleni gelang es der SVP hingegen nicht, mit ihren Warnungen vor einer ‚Klimahysterie‘ junge Wähler anzusprechen.“

Der Fokus auf die Parteien ist verständlich, da sie als Organisationsform der Politik das Bild in Medien und Öffentlichkeit dominieren. Was gerade in der Schweiz schade ist, weil die Fragen des wirklichen Lebens der Bürger in den Ortschaften, Gemeinden und Kleinregionen von den Parteien am allerwenigsten bestimmt sind. Weil den meisten Bürgern grad egal ist, was die dort in Bern treiben.

Beim Blick auf die Wahlberechtigten habe ich mich mit den Jahrzehnten immer mehr von den bei Journalisten, Politologen und Berufspolitikern üblichen Mustern der Erklärung von Wahlverhalten und Wahlmotiven entfernt. Der Reihe nach:

Treue Mitglieder und Anhänger von Parteien – auch Stammwähler genannt – sind der Meinung, dass im Programm ihrer Partei das Wahlmotiv liegt. Keine einzige Partei käme mit solchen Programmwählern allein je über die Prozenthürden in den verschiedenen Ländern. Die sogenannten Spitzenkandidaten ziehen Wähler in nennenswerten Mengen nur an, wenn sie aus der Masse ihrer Parteigänger deutlich herausragen. Aber auch sie erklären große Wählerbewegungen nicht.

Es ist viel einfacher. Erst einmal teilen sich die Wahlberechtigten in zwei Großgruppen: Wähler und Nichtwähler.

Ich behaupte, der Anteil der politisch besonders interessierten, informierten, kritischen und eigenständig urteilenden Bürger ist unter den Nichtwählern dramatisch höher als unter den Wählern aller Parteien. Aber mit den Nichtwählern, dem größten Teil der Wahlberechtigten, befasst sich die Classe Politique nicht ernsthaft.

Die Wähler unterscheide ich in Gewohnheits-Wähler, Gegen-Wähler und Mit-Wähler. Stammwähler und Wechselwähler war vorgestern.

Gewohnheitswähler und Stammwähler sind heute praktisch deckungsgleich. Lieschen und Otto Müller – mit und ohne Dr. – machen ihr Kreuz bei Wahlen schon seit ihrer Jugend immer an der gleichen Stelle. Hauptgrund: in ihrem Milieu, ihrem Umfeld tut man das. Hilfsgrund: die anderen Parteien sind noch schlimmer.

Gegen-Wähler sind nahezu deckungsgleich mit Wechselwählern und stellen den höchsten Anteil am Stimmensplitting. Gegen-Wähler ist nicht selten die Vorstufe zum Nichtwähler. Hauptmotiv: Denkzettel. Zweitmotiv: das kleinere Übel.

Das größte Übel sind die Mit-Wähler. Sie folgen dem von den Massenmedien vorgegebenen Trend (politische Inhalte interessieren sie nicht). Genosse Trend trägt zur Zeit die Farbe Grün. „Klimaschutz“ ist nicht das Ziel, „Klimaschutz“ ist für Grüne und Co. mithilfe der sie hätschelnden Journalisten die General-Ermächtigung, den Bürgern in allen Fragen vorschreiben zu dürfen, wie sie zu leben haben und wie nicht.

Zwischenbemerkung: Die vom Trend durch Stimmverluste negativ betroffenen Träger der anderen politischen Farben Schwarz, Rot, Gelb und auch Blau folgen dem Trendträger Grün beim „Klimaschutz“ in abgeschwächter Form und merken nicht, dass sie den Trendträger damit stärken uns sich selbst schwächen.

Die Mit-Wähler entscheiden sich für’s Original, nicht eine Kopie. Sie wollen bei den „Richtigen“ ganz dabei sein. Wenn eine politische Losung wie heute die vom „Klimaschutz“ das ganze öffentliche Klima durch die von Massenmedien veröffentlichte Meinung beherrscht, bricht der früher zuverlässige Damm der Gewohnheitswähler. Das erste unübersehbare Opfer ist die SPD. Eine SPD, die nur noch eine Kopie der Grünen sein will, braucht es neben denselben nicht. Die Union ist auf dem gleichen Holzweg.

Wenn der eine oder andere Leser den Eindruck hat, ich hätte den Ausdruck Mit-Wähler wegen seiner Wortnähe zum Begriff Mitläufer gewählt, liegt er damit richtig. Der plötzlich übergroße Zulauf zu den Grünen ist in Deutschland bisher nur ein demoskopischer. In der Schweiz fiel er nun bei der tatsächlichen Wahl für die Grünen und Grünliberalen nicht so groß aus wie der demoskopische in Deutschland, aber durchaus deutlich – bei den Eidgenossen verläuft alles langsamer und moderater, hält dafür dann länger.

Worauf ich hinaus will, ist etwas sehr simples. Mit-Wähler entscheiden sich nicht für eine Partei, sondern ein Image. Grün genießt heute das (ver)öffentlich(t)e Image, die Welt von morgen zu repräsentieren. Mit-Wähler wollen modern sein, wollen zu denen mit Zukunft gehören, zu denen zählen, von denen ein Lied der einst modernen Arbeiterbewegung sang: mit uns zieht die neue Zeit.

Eingangs zitierte ich zum Wahlausgang in der Schweiz:

„Experten gingen davon aus, dass die grünen Parteien angesichts der Klima-Debatte viele junge Wähler mobilisieren konnten, die sonst den Wahlurnen fern geblieben wären. Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Oscar Mazzoleni gelang es der SVP hingegen nicht, mit ihren Warnungen vor einer ‚Klimahysterie‘ junge Wähler anzusprechen.“

Wie fundiert die Behauptung von der Mobilisierung junger Nichtwähler ist, weiß ich nicht. Plausibel scheint sie mir durchaus. Aber dass die Schweizer Volkspartei – wie jede andere – mit rationalen Argumenten gegen „Klimahysterie“ keine neuen Wählerschichten erschließen kann, liegt auf der Hand. „Klimaschutz“ ist eine emotionale Kategorie, eine von den Massenmedien so hoch emotional verbreitete und täglich unterstützte, der zur Zeit niemand etwas Wirkungsvolles entgegen zu setzen hat. Was aber auch bedeutet, wenn der Klimahype endet, plumpsen Grüne und Co. von jetzt auf gleich ins Nichts.

Gemeinsam ist den Wahlergebnissen in ganz Westeuropa, dass die Parteien mit dem Image des Gestern verlieren und die mit dem Image des Morgen gewinnen. Mit-Wähler sind Mitläufer. Sie laufen morgen zu der politischen Kraft über, die der Gruppierung von Grünen und Co. das Image des Morgen wegnimmt. Eine solche Kraft ist bisher nicht in Sicht: Eine Partei kann das auch gar nicht. Parteien profitieren vom Zeitgeist, sie erschaffen keinen.

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Kommentare ( 20 )

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4 Jahre her

Selbst Mitterand wie viele seiner Kollegen in Europa, hat das Prinzip Schweiz nicht verstanden, so einer seiner Mitstreiter. Subsidiarität gilt in der Schweiz überall. Von der kleinsten Einheit > Gemeinde über die mittlere > Kanton bis zur größten > Bund. Dh der Bürger wählt Parteien nur subsidiär als Teilnehmer der politischen Diskussion. Keine Partei ist repräsentativ für die Bürger. In der Regierung können Partien zwar handeln, aber nie in der machtvolkommenen Arroganz einer repräsentativen Demokratie. Sie stehen immer unter Beobachtung und der Kontrolle der Eidgenossen. Literatur zum kritischen Nachlesen: Die Bessermacher Die Schweiz kann’s einfach besser Autor: Koydl, Wolfgang Insofern… Mehr

jansobieski
4 Jahre her

Der Fehler muss in der einseitigen Berichterstattung von Massenmedien, in Indoktrination in Schulen und in einem Elternhaus liegen, wo nicht mehr über Probleme gesprochen und Fakten analysiert werden. Anders ist es nicht vorstellbar, dass junge Menschen die Hauptbedrohung für ihre Zukunft (Wohlstands- und Arbeitsplatzverlust mit Verlust der Altersvorsorge) nicht erkennen und sich vor einen linken „Klima-Wagen“ spannen lassen, der in Richtung Untergang Fahrt aufgenommen hat.

rolf
4 Jahre her

Hallo Herr Goergen – ihr Statement: „Das größte Übel sind die Mit-Wähler. Sie folgen dem von den Massenmedien vorgegebenen Trend (politische Inhalte interessieren sie nicht). Genosse Trend trägt zur Zeit die Farbe Grün. „Klimaschutz“ ist nicht das Ziel, „Klimaschutz“ ist für Grüne und Co. mithilfe der sie hätschelnden Journalisten die General-Ermächtigung, den Bürgern in allen Fragen vorschreiben zu dürfen, wie sie zu leben haben und wie nicht.“ Meine Meinung!! Das sind die toten Fische, die immer mit dem Strom schwimmen. Heute sind es Personen , die aufgrund ihrer „Flexibilität“ um nicht zu sagen „Anpassungsfähigkeit“ in Leitungsfunktionen der Gewerkschaften, NGO’s und… Mehr

rolf
4 Jahre her

Hallo Herr Goergen,

Ich behaupte, der Anteil der politisch besonders interessierten, informierten, kritischen und eigenständig urteilenden Bürger ist unter den AFD Wählern dramatisch höher als unter den Wählern aller Block-Parteien und Nichtwählern zusammen (FDP eingeschlossen). Aber mit diesen Menschen, i.d.R. Leistungsträger (und Steuerzahler) dieser Gesellschaft, befasst sich die Classe Politique nicht ernsthaft.

In Thüringen waren unter den AFD Unterstützern ca. 35 % Selbstständige! Unsere politische Kaste glaubt immer noch, dass man den verirrten, alten weißen, männlichen Abgehängten die Welt nur besser (und langsamer) erklären müsste.

Aber wie sagt die SEDSPDCDUCSUGRÜNE&SPD Kaste: “ wir haben verstanden…“

..was eigentlich…???

Gruß

Werner Geiselhart
4 Jahre her

Am schlimmsten sind die Mit-Wähler, die sich durch das angebliche Charisma eines Parteiführers beeinflussen lassen. Denen es vollkommen egal ist, welche Politik dieser vertritt und was die Auswirkungen dieser Politik sein werden.
Wahlentscheidend ist hier z.B. die Kuschelbären-Attitude mit Zottelhaar und Dreitagebart.
Che Guevara war ja auch ein cooler Typ, obwohl er andere kaltblütig umbrachte.

Tesla
4 Jahre her

Gute Wähleranalyse. Was die „jungen Nichtwähler“ (aus Ihrem Zitat) betrifft, dann glaube ich nicht, dass diese einen so entscheidenden Anteil im Sinne dieser Klassifizierung haben sollten. Denn Nichtwähler würde ich wiederum auch noch in 2 Kategorien einteilen: (1) Wähler, die sich nach früheren Wahlerfahrungen von den Parteien insgesamt verschaukelt fühlen daher aus Protest nicht wählen – und (2) Wähler, denen die Wahlen gleichgültig sind. Von den „Protestnichtwählern“ würde ich jedoch nicht erwarten, einfach so einen neuen Trend zu folgen, wie es die Mitwähler tun. Dafür sind sie zu desillusioniert. Die „Gleichgültigkeitsnichtwähler“ halte ich zwar eher empfänglich für solche gemachten Meinungstrends,… Mehr

Lara Berger
4 Jahre her

Ich denke auch, dass wir die „Wählerlandschaft“ anders einordnen müssen als wir es bisher gewohnt waren. Ich war bei den letzten Wahlen freiwillige Wahlhelferin. Bei den Wahlen, die ich „an der Front“ begleitet habe, fiel mir eines auf, dass ich ohne diesen intensiven Einblick niemals bemerkt hätte. Ich sah das gesamte (Nichtwähler natürlich ausgenommen) Wahlvolk meines Bezirks. Und ich war perplex. Ich hatte keine Ahnung, wohin klammheimliche Änderungen unsere Staatsbürgerschaftgesetze schon heute geführt haben. Eine wirklich nicht unerhebliche Zahl an Wahlberechtigten waren keine Deutschen. Da waren Schwarzafrikaner in großer Zahl dabei, darunter sogar ein „Scheich“ der mit seinen Frauen und… Mehr

Albert Pflueger
4 Jahre her

Was wichtig wäre, ist eine Erklärung für das Phänomen „Zeitgeist“. Wie kommt es im Gewirr unterschiedlicher Prioritäten und Bedürfnisse der Wähler zu solchen „Resonanzwellen“ wie Klimaschutz, Migrationsförderung, MeToo, etc., die sich ja nicht unbedingt am nachvollziehbaren Eigeninteresse der so Bewegten ausrichten. Mir stellte neulich jemand die Frage: „wer sind „die“?“ Gemeint war: wenn man sagt, „die“ wollen die individuelle Mobilität abschaffen, „die“wollen die Autoindustrie zu Grunde richten, was auch immer, dann sind da sicherlich denkbare Profiteure im Hintergrund zu erkennen, wenn man genau hinschaut, aber die Frage, warum so viele deren Geschäft betreiben, ohne selbst zu profitieren, ist damit nicht… Mehr

bfwied
4 Jahre her
Antworten an  Albert Pflueger

Aus dem Nichts entsteht nichts. Es braucht einen Anstoß in einem dafür prädistinierten Umfeld. Die Migrationsprobleme sind nicht friedlich zu lösen mit Merkel und ihrem Block, das läuft so weiter, und um das abzustützen stürzt man sich auf etwas anderes, das im Gespräch ist. Das war das Klima, seit Jahren in den dunkelsten Farben von Schellnhuber und Co im Institut zur Propagierung einer „offiziellen“ Warhrheit verbreitet, vorbereitet unter Außerachtlassung jeder wissenschaftlichen Vorgehensweise und mit Unterstützung des politischen Gremiums, des IPCC. Das Schellnhuber-Institut befasst sich nicht mit der Forschung, sondern mit der Verbreitung von Folgen. Wie diese Annahmen zustandekommen, ist jedoch… Mehr

elly
4 Jahre her

zumindest in Deutschland beginnt der Stern der Gretianer zu sinken:
„UMWELTPREIS-VERLEIHUNG
Steinmeier sendet eine Warnung an die Klimaaktivisten“
https://www.welt.de/politik/deutschland/article202551322/Umweltpreis-Verleihung-Steinmeier-sendet-Warnung-an-Klimaaktivisten.html
selbst das Propaganda Blatt der NGOs schrieb gestern:““Klimakrise
:Alles, sofort? Das geht nicht
Warum es für eine moderne Gesellschaft so schwierig ist, die Klimakrise zu bekämpfen“
https://www.zeit.de/2019/44/klimakrise-bekaempfung-moderne-gesellschaft-armin-nassehi
Die Freitagskinder haben ihre Schuldigkeit getan und dem Staat zusätzliche Steuereinnahmen generiert ohne dass die verantwortlichen Politiker , Parteien dafür zur Verantwortung gezogen werden. Die Freitagskinder können jetzt langsam abdanken.

tavor1
4 Jahre her

Gute Idee! – Die meisten Leute glauben, der Nichtwähler sei so eine Art Analphabet. Das könnte aber ein Irrtum sein. Würde man diese Gruppe soziologisch durchleuchten, käme man wahrscheinlich auf überraschende Befunde. Drei Hypothesen bieten sich an: 1) Der Nichtwähler ist tasächlich so eine Art sozialer Zombie. 2) Die Nichtwählerschaft bildet eine heterogene Gruppe, die sich jeder Idealtypisierung entzieht. 3) Der Nichtwähler ist überdurchschnittlich gebildet, kann aber die Dummheiten seiner Mitbürger nicht mehr ertragen und klinkt sich deshalb (wie Platon) aus der Demokratie aus. Apropos: Haselhoff sagte vor wenigen Minuten auf phoenix: Bisherige Nichtwähler trügen die Schuld am Erfolg der… Mehr