Frau Merkel läuft ihrer Identität davon, Jamaika soll folgen

Ein Gespenst geistert durch den Medienwald: die Jamaika genannte Schwampel. Fast noch gespenstischer ist, dass praktisch alle Journalisten und Medien Sondierungen und demnächst Verhandlungen berichtend begleiten wie die unvermeidliche Papstwahl.

© John MacDougall/AFP/Getty Images

Ein Gespenst geistert durch den Medienwald: die Jamaika genannte Schwampel. Gespenstisch ist nicht nur, wie politische Personen überhaupt auf die Idee kommen können, eine „Koalition“ aus Parteien zu bilden, die an der Koalitionsgarderobe alles abgeben müssten, was sie sich als Parteien und Personen an politischen Grundsätzen und Zielen selbst nachsagen. Die CDU und ihre handelnden Personen müssen an dieser Garderobe nichts mehr abgeben, sie haben das längst getan.

Fast noch gespenstischer ist, dass praktisch alle Journalisten und Medien die sogenannten Sondierungen und demnächst Verhandlungen mit einer Selbstverständlichkeit berichtend begleiten wie ein Fußballspiel, das eben ausgetragen werden, oder die Papstwahl, die in der katholischen Kirche unabweislich stattfinden muss. Die Frage der Sinnhaftigkeit der Kombination von Unvereinbarem wird gar nicht erst gestellt. Für alle scheint unabwendbar und zwangsläufig zu sein, dass eine Parlamentsmehrheit für die nächste Amtszeit von Frau Merkel gebildet werden muss. Wolfgang Michal konstatiert, «die Aussicht auf eine Jamaika-Koalition versetzt viele Politik-Journalisten in Euphorie „Warum Jamaika ein Erfolg werden muss“ heißt es dann, oder „Jamaika darf nicht scheitern“.» Merkels Büchsenspanner wissen diese Medien-Erregung, die sich als Meinungs-Automatismus verselbständigt hat, für die Frau ohne Identität zu nutzen.

Dass dabei sämtliche begründeten Urteile und gefühlten Vorurteile über den deutschen Parteienstaat und seine Staatsparteien nebst dazu gehörenden Mainstream-Medien (MSM) bestätigt werden, kümmert offensichtlich keine Kraft in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Dass genau hier der strukturelle Grund für das Entstehen der AfD liegt, bleibt den Büchsenspannern in den Apparaten der Genannten verborgen oder ist ihnen egal.

Akute Ignoranz
Politisch gewollte Staatsverwahrlosung
Unter den Lesern von Tichys Einblick mehren sich die Stimmen, die sagen, wer führt uns zur Tat. Wer gibt uns die Möglichkeit, als Bürger mehr zu tun, als das, was wir bei euch lesen, weiterzuverbreiten. Vereinzelt muss einer von uns bei TE dem einen oder der anderen außerhalb des Forums per Mail erklären, warum ein Medium wie TE den Schritt vom Sagen, was ist, zur Aktionsplattform nicht tun darf. Weil TE damit Partei würde, sich „gemein machte“, wie Hanns Joachim Friedrichs einst in Medien-Marmor meißelte: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache …“.

Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass ernsthafte Zeitgenossen darüber brüten, welche NGO-artigen Aktionsformen sich jenseits und in großer Distanz zur Parteienlandschaft bilden lassen, um der gleichförmigen Öffentlichkeit etwas entgegen zu setzen, was sich der modernen Medien gekonnt bedient, ohne sich den systemisch vereinnahmenden Strukturen des Parteienstaates auszusetzen. Sobald sich da Konkretes berichten lässt, wird TE das tun.

Innerhalb der alten Medien rumort es nicht weniger als in anderen Teilen der Gesellschaft. Dort ist das Gespräch unter Kollegen noch gefährlicher als in Betrieben, Behörden und Organisationen. Erst dieser Tage fragte mich einer zum wiederholten Mal, der nach wie vor sein Geld bei einem der herkömmlichen Blätter verdient, weil er ohne Umschweife begründet, dass er die wenigen Jahre Dienst nach Vorschrift macht weitab vom Ressort Politik, um seine gute Altersversorgung in die Scheune zu fahren: Wie haltet ihr das bei TE mit den Lesern aus, die etwas anderes als ihre Meinung bei Euch nicht lesen wollen und den anderen, denen Lesen zu wenig wird? Meine Antwort: Erstens sind Eingleisige eine kleine Minderheit, die Ungeduldigen akzeptieren unsere Erklärung, und zweitens lerne ich oft von Lesern, was uns Autoren durchgeht, was wir beim nächsten mal nicht übersehen und welche Fragestellung wir neu aufgreifen sollten.

In der Notwendigkeit des Eintritts von Angela Merkel in den politischenRuhestand gibt es zwischen (fast) allen Autoren und Lesern von TE große Übereinstimmung. Auf die besten Wege zur fälligen Runderneuerung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Infrastruktur der Republik und ihrer Rolle in Europa und der Welt sollte der Streit sich regelmäßig konzentrieren.

Die Verantwortung bleibt
Maas ade
Bei der Frage, was für die meisten TE-Autoren liberal ist, sind diese sehr konservativ. Eine FDP, die in eine Regierung eintritt, die nicht als erstes das Zensurgesetz NetzDG außer Kraft setzt, hätte den Rest-Anspruch auf das Label liberal verspielt. Die Union, die Merkel weiter folgt, ist erkennbar weder konservativ noch liberal, sondern einfach nur beliebig. Beliebig kann auch nur das Einzige sein, was eine Schwampel namens Jamaika tun und lassen kann. Diese Wahrheit können alle Formelkompromisse nicht überdecken, so sehr sich die Mehrzahl der Journalisten in der Mehrzahl der Medien darum auch bemühen wird.

Wie schön dann einen Artikel – in diesem Fall der WELT – zu finden, der in anderen Worten ausspricht, was ich von Frau Merkel und der Schwampel behaupte: Jamaika soll Merkel vor dem Parlament schützen, sonst soll Jamaika nichts – weil in einer Koalition ohne Identität nicht auffällt, dass die Kanzlerin vor ihrer eigenen flieht. Frau Merkel läuft ihrer Identität davon, Jamaika soll folgen.

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Kommentare ( 60 )

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H. Hoffmeister
6 Jahre her

Herr Neuhaus, ich habe mich als ehrenamtliches Vorstandsmitglied in einem Wirtschaftsförderverein und Beirat verschiedener öffentlicher Einrichtungen engagiert. In vielen Veranstaltungen in kleinerem und grösserem Kreis – vielfach unter Anwesenheit von politischen Entscheidungsträgern und anderen massgeblichen Themensetzern – habe ich zu Sachverhalten wie Europolitik, Klimawandel und Migration sachgerecht und wie ich denke wohlbegründet über Jahre hinweg klar Stellung bezogen. Als Unternehmer war ich stets frei von Zwängen und habe nicht versuchen müssen, alles in politisch korrektes wording zu pressen. Meine deutlichen Worte wurden akzeptiert – von einer nicht geringen Anzahl von Gesprächspartnern im kleinen Kreis sogar ausdrücklich unterstützt – bis zu… Mehr

Wolfgang Lang
6 Jahre her

Für KGE ist Jamaika die Chance für ihre letzten Tage fürstliche Apanage zu generieren. Das wird sie sich nicht entgehen lassen. Warum war sie sonst in der Atlantikbrücke?

Marcel Börger
6 Jahre her

„Gebt mir etwas Neues zum Nachdenken und ich werde mir darüber Gedanken machen. Aber seht davon ab, mich zu belehren und mich anzuöden.„

Applaus, Applaus!
Genau das ist es doch! Wo sind die Argumente, das echte Ringen um Überzeugungen, das Abwägen von Pro und Contra?

Es ist fast schon ein Alleinstellungsmerkmal von TE, daß eben dies hier stattfindet.

Dieser einzigartige Hybrid aus Blog und Print führt zumindest für mich oft zu echtem Erkenntnisgewinn, was ich für das mir vorstellbare, höchste Kompliment für Medienschaffende halte.

Danke dafür!

Marcel Börger
6 Jahre her

….was das allergrößte…..
Oder wenn Kommentatoren zu Gastautoren werden…..

Das ist schon ziemlich einzigartig, klasse und Danke an die Redaktion!

Anna Martha
6 Jahre her
Antworten an  Marcel Börger

Genau, ich kann mich gut an die Glückwünsche der Kommentatoren zu Ihrem ersten Artikel erinnern.

CharleneRi
6 Jahre her

Ich bin FÜR diese Koalition, weil es mit Abstand die amüsanteste Legislaturperiode werden wird. Ich werde alle Debatten aufnehmen und abends mit Chips und Bier genüßlich Parlamentsfernsehen gucken. Wenn die AfD angreift und Lindner und Seehofer Merkel verteidigen müssen, dann werde ich mir brüllend auf die Schenkel klopfen. Die Grünen werden bald nicht mehr wissen, ob sie Männlein oder Weiblein sind. Sie kriegen auf die Mütze von der SPD, den Linken, der AfD und aus den eigenen Reihen. FDP und CSU werden sich jeden Tag profilieren müssen. Sie werden keinen Tag Ruhe geben und Unruhe stiften in den eigenen Reihen.… Mehr

Kassandra
6 Jahre her

Okay – Sie sind deutlich näher am Ort des Geschehens als ich. Man sucht halt nach jedem Strohhalm…

Fritz Goergen
6 Jahre her

Grundsätze und Regeln sind der von Ihnen genannten „Kreativität“ nicht zugänglich.

Reiner Doderer
6 Jahre her

Der Mischmasch aus CDU, CSU,FDP und Grünen kommt einem vor wie ein veganer Eintopf mit extra viel Lammfleisch ind den man viel Essig gibt. Also eine Absudität, die weder erwartet, noch so gewollt wird. Das Einzige über das sich die Köche problemlos einig werden ist ihr Honorar und die Temperatur und Größe der Teller, aber bereits die Form und Farbe lässt die Fetzen fliegen. Aber man geht froh ans Werk um eine Speise zu kochen, von der vorher absehbar ist, dass diese im Saukübel landet, weil sie geschmacklich und von den Zutaten her nicht zumutbar sein wird und nur als… Mehr

Fritz Goergen
6 Jahre her

Ihre Identität besteht im davor weglaufen, die Richtung ergibt sich aus der Zustimmung in den Medien. Standort der Standortlosigkeit.

Friedrich - W ilhelm Becker
6 Jahre her

ddanke für den tip!