Tichys Einblick
„Wunder von Madrid“

Die spanische Haupstadt lässt alles offen. Geht auch.

Während anderswo vieles zu ist, stellt Madrids Regionalregierung auf Durchzug. Die Welt schmunzelt, aber diese Strategie ist nicht falsch.

picture alliance / AA | Burak Akbulut

Die braungelockte Isabel Díaz Ayuso redet oft wie unter Drogen, schaut selten direkt in die Kamera und wird von vielen nicht ernst genommen. Kritiker in ihrem Heimatland vergleichen sie mit Donald Trump, mit dem sie nicht nur die Twitter-Leidenschaft teilt. Aber in diesen Tagen gewinnt die Madrider Regional-Präsidentin viele Fans, da sie Mut bewiesen und sich gegen die allgemeine Lockdown-Panik in Europa und ihrem Land gestellt hat. Seit Juli sind Theater, Museen, Restaurants und Oper offen, trotz des medialen Drucks, auch im November.

Nur an den Brückentagen wurde die Mobilität in andere Regionen in diesem Monat beschränkt. Der Rest des Landes geht einen anderen Weg. Die Madrider Künstler sind Díaz Ayuso dagegen dankbar, auch die Gastronomie. Falsch scheint dieser Weg nicht zu sein, war im Sommer Madrid noch „Corona-Hauptstadt“ Europas, sinkt die Belastung der Krankenhäuser nun, auch wenn die Infektionszahlen wieder leicht in die Höhe gehen. Die deutsche Presse spricht polemisch vom „Wunder von Madrid“. Aber ist es ein Wunder?

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Díaz Ayuso und ihre konservative Partei PP feiern das dagegen groβ im Netz als ihren Erfolg, auch wenn die offiziellen Zahlen teilweise falsche Referenzwerte ausweisen, wie einige Ärzte kritisieren, zum Beispiel bei der Intensivbetreuung, wo von Kapazitäten aus dem Frühjahr ausgegangen wird. Aber eigentlich hat Díaz Ayuso diesen kleinen Teilerfolg im Kampf gegen die Pandemie den sehr disziplinierten und solidarischen Madrilenen zu verdanken, die überall die Maske tragen und sich seit Wochen an die „nicht mehr als 6 an einem Tisch“-Regel halten.

Die Ausgangssperre von Mitternacht bis morgens sorgt zudem dafür, dass sich auch die ausgehfreudigen Jugendlichen en gros benehmen. Das gilt auch in den eigenen vier Wänden. Denn nirgendwo sitzt das Trauma vom Frühjahr tiefer in den Knochen als in Madrid, wo jeder einen kennt, der schwer erkrankt oder sogar gestorben ist oder als Arzt unter unmenschlichen Bedingungen im Krankenhaus gegen die Pandemie arbeitet. Die Angst treibt die sonst nach Nähe und Gespräch suchenden Menschen in Madrid auch ohne Lockdown auseinander. Diese neue Distanz ist schlimm für die Psyche vieler, aber gut für den Rückgang der akuten Belastung durch das Virus, den auch Ärzte von 61 Madrider Krankenhäusern auf einem Twitteraccount bestätigen.

Gesundheitspersonal gehört zu den schlechbezahltesten der OECD

Die Gewerkschafterin und Madrider Chirurgin Ángela Hernández warnt vor Jubelschreien: „Die Überlastung der Ärzte ist immer noch zu hoch in Madrid und die primäre Gesundheitsversorgung funktioniert nicht so, wie es sein sollte“. Über 70 dieser „Centros de salud“ in Stadtteilen und Dörfern auf dem Hinterland sind seit der ersten Infektionswelle im Frühjahr geschlossen, weil das Personal teilweise zur Covid-19-Bekämpfung in die groβen Spitäler abgezogen wurde. Der 42jährigen Díaz Ayuso – wie vielen anderen spanischen Politikern – fehlt das Verständnis oder der Wille zu mehr Investitionen in die Menschen des überlasteten Gesundheitssystems, wozu auch professionelle Kontaktverfolger gehören und letzendlich auch höhere Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Stattdessen lässt sie groβ verkünden, dass sie nun mit neuster Technik im Madrider Abwasser nach Covid-19 suchen lässt.

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Sie fragt sich aber nicht, warum Madrids Krankenschwester und Ärzte lieber nach Norwegen, Deutschland oder England gehen. „Unsere Gehälter liegen unter dem OECD-Durchschnitt. Wir Ärzte verdienen am viertschlechtesten von allen Mitgliedsstaaten. Im Wettbewerb um Talente verliert Spanien klar“, weiβ Hernández. Sie kritisiert auch, dass gerade in Madrid zu sehr Wert auf medienwirksame Investitionen in moderne Technik wie chirugische Roboter gelegt werde: „Es ist gut, KI einzusetzen, aber wir müssen vorher erstmal bei der ordentlichen Arbeitsbedingungen des menschenlichen Personals beginnen“.

Aber ähnlich wie Trump, der mit seinen Reden oft komplett ins Fettnäpchen tritt, hat Díaz Ayuso immer wieder ungewöhnliche Lichtblicke. So hat sie die EU-Kommission in einem Schreiben an Ursula Von der Leyen aufgefordert, Covid-19-Tests in Apotheken zuzulassen. Spanien hat eines der dichtesten Netze in Europa und könnte auf diese Weise die primäre Gesundheitsversorgung entlasten, auch finanziell.

Chaos bei Verwaltung und Nachverfolgung

Insgesamt leidet Madrids Gesundheits- und Versorgungssystem unter einer ineffizienten öffentlichen Verwaltung. Zwar funktioniert hier schon einiges digital, aber immer noch zu bürokratisch. Viele der Beamten arbeiten derzeit im Homeoffice. Für jeden persönlichen Besuch beim Finanz- oder Arbeitsamt ist ein Termin notwendig. Wegen der stark eingeschränkten direkten Kontakte gibt es davon sehr wenige. Auch die Ärzte haben weitgehend auf Telematik umgestellt, wenn es nichts „Ernstes“ ist.

Nicht nur fühlen sich viele Kranke in diesen Tagen alleine gelassen, das Kurzarbeitergeld kommt auch erst Monate später an, bestätigt der im Tourismus arbeitende Ricardo Zafra. Der junge Deutsch-Spanier glaubt, dass diese wirtschaftlichen Ängste die Menschen zusätzlich belasten: „Wie soll sich jemand finanzieren, wenn er drei Monate auf seine Hilfen warten muss und die Anträge für die gerade verabschiedete Sozialhilfe nicht durchgehen. Wer arm ist, braucht das Geld sofort“. Er glaubt, dass Madrids wirtschaftlicher Sonderweg deswegen der richtige ist, wenn auch mit vielen „aber“.

In Spanien hat die Politik in dieser Krise komplett versagt

Fakt ist, dass die Schlangen bei der Caritas in Madrid wachsen, wo auch viele aus der Mittelklasse inzwischen Essen abholen. Díaz Ayuso weiβ, dass sie auch deswegen versuchen muss, die Wirtschaft nicht weiter zu belasten. 6,5 Millionen Menschen in der autonomen Region überwachen jeden ihrer Schritte. Im stark zentralisierten Spanien ist Madrid der Mittelpunkt des gesamten Verkehrsnetzes bei Landstraßen, Autobahnen, Eisenbahnen und im Luftverkehr, auch deswegen ist es wichtig, dass die Region funktioniert.

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Die Arbeitslosenrate betrug hier vor Covid-19 10%, deutlich weniger als im Rest des Landes. Bis Ende des Jahres wird sie aber nach Schätzungen der Sparkassen-Stiftung Funcas bei bis zu 23% im ganzen Land liegen. Díaz Ayuso feiert sich gerne als „Mutter von Madrid“, sie ist aber trotz der derzeitigen Lichtblicke eher eine Marionette ganz anderer Machtinteressen. In den kommenden Tagen wird sie ein neues Krankenhaus einweihen, dass nur für Pandemien funktionieren soll. Eine gute Idee, aber auch hier fehlt Hand und Fuβ oder einfacher gesunder Menschenverstand. Statt neues Personal zu rekrutieren und Jobs zu schaffen, sollen aus anderen Krankhäusern Ärzte und Krankschwestern abgezogen werden.

Derweil steigt die Politikverdrossenheit bei den Spaniern. Immer noch streiten sich die Parteien in Spanien über die Pandemie-Zahlen, beschuldigen sich gegenseitig als Mörder, Verleugner oder Extremisten, während viele Spanier nicht wissen, wie sie den nächsten Monat überleben sollen, und das Krankenhauspersonal kurz vor dem Kollaps steht und viele Kapazitäten von bestehenden oder halbgeschlossenen Spitälern nicht genutzt werden. „Die Politiker haben einfach nicht kapiert, dass unsere Gesundheitsversorgung derzeit lahmt, weil wir nicht genug Menschen haben, die helfen, und das bezieht sich nicht nur auf die Intensivbetten“, sagt Ärztin Hernández. Die in Madrid in Koalition mit anderen Rechtsparteien regierende PP, deren Verstrickung in Korruptionsskandale nicht abreisst, muss sich deswegen Hohn gefallen lassen und von einem Wunder kann wahrhaft nicht die Rede sein: „Nach den Flughäfen ohne Flugzeuge kommen jetzt die Spitäler ohne Personal“, beschwert sich die Sprecherin der regionalen Oppositionspartei Más Madrid, Mónica García.

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