Die Revolution schickt ihre Kinder nach Hause

Weiterhin stürzen Statuen, eine Teil Seattles bleibt vorerst noch besetzt, auch in Washington wollen manche eine »autonome Zone« errichten. Trump will das nicht dulden. Droht Amerika also eine neue Revolution? Am Ende wohl nicht. 

imago Images/Zuma Wire
Den Massen, die derzeit trotz Pandemie die Straßen und Plätze der USA bevölkern, muss man keine besondere Bildung unterstellen. Auch wenn die Revolte gegen die traditionellen Quellen der Macht zum großen Teil an den Universitäten – ihren Lehrgängen in Postcolonial Studies ebenso wie denen in Gender Studies – gezüchtet wurde, ist in der Black-Lives-Matter-Bewegung weniger die intellektuelle Elite als eine halbgebildete, einseitig politisierte Intelligentsia versammelt. Die Halbbildung zeigt sich natürlich an den Taten: So wurde Anfang Juni in London die Statue Abraham Lincolns nicht weniger beschmiert als die von Winston Churchill. Im amerikanischen Bundesstaat Wisconsin fiel jetzt die Statue eines norwegischen Immigranten und Unionsgenerals den Protestlern zum Opfer, der 1863 gegen die Sklaverei gekämpft und dabei sein Leben verloren hatte. 

Donald Trump hat inzwischen deutlich gemacht, dass er Vandalismus an Statuen künftig ebensowenig zulassen will wie die Errichtung einer autonomen Zone in Washington D.C., die einige Protestler gefordert haben. Der Nachrichtendienst Twitter versuchte wiederum, den Präsidenten einzuhegen. Wer schaut wohl in den Twitter-Hallen auf die Donald-Tweets und setzt dann den Schutzschild gegen Gewaltverherrlichung in Kraft. Oder muss er erst eine Rund-Mail schreiben und den Community-Konsens einholen? Man weiß es nicht. Jedenfalls beschloss man, das Präsidentenwort von der »serious force« wiederum hinter einer Hausnotiz zu verbergen. 

Die autonome Zone, die Protestler auf dem Capitol Hill von Seattle errichtet haben, bekommt derzeit erste Risse. Einige der Anführer raten ihren »Kampfgenossen«, sich aus der »direkten Aktion« zurückzuziehen und sich dem »virtuellen Aktivismus« zu verschreiben, der angeblich die »nächste Phase« des gemeinsamen Projekts bilden werde. Das ist allerdings neu: Eine vermeintlich revolutionäre Bewegung zieht sich nach einem Vorstoß in die Wirklichkeit wieder aus derselben zurück, um noch etwas mehr Zeit mit virtueller Agitation und Selbstorganisation zu verbringen. Das Scheitern wird kaum verhüllt. In früheren Zeiten hätte man gesagt: Die Zeit war noch nicht reif. Heute spricht man einfach von »virtuellem Aktivismus« und dergleichen. Auslöser für den Aufruf war offenbar die anstehende Wiederbesetzung des örtlichen Polizeiabschnitts, der in den nächsten Tagen erwartet wird. 

Zugleich stellen sich die Autoren des Aufrufs damit wieder in den Parteidienst der Demokraten. Nun gilt es offenbar, Joe Biden im Präsidentschaftswahlkampf zu unterstützen, den demokratischen Gouverneur des Pazifik-Staats und auch den Bürgermeister wiederzuwählen. Die in der autonomen Zone geschehene Gewalt – so eine weitere Einsicht der Autoren – hat die »Erzählung« verändert und lässt die Autoritäten inzwischen mit anderem Blick auf die Vorgänge schauen. In den letzten Tagen waren vier Menschen angeschossen worden. Der 19-jährige Schwarze Lorenzo Anderson starb am vergangenen Samstag durch Schüsse im Capitol Hill Organized Protest (kurz CHOP), wie sich die autonome Zone inzwischen nennt. Zuvor hatte man sich Capitol Hill Autonomous Zone (CHAZ) getauft, aber das war wohl schon zu radikal für das gemäßigt-demokratische Umfeld. 

— Ian Miles Cheong (@stillgray) June 25, 2020

War also alles ein großangelegtes Täuschungsmanöver? Keine Revolution, keine Anarchie, schon gar keine Autonomie, sondern nur ein theatralischer Protest, bei dem unglücklicherweise drei Menschen angeschossen wurden und ein weiterer Schwarzer sterben musste? Doch noch im Scheitern fühlt man sich zu Größerem berufen: »CHOP ist eine Idee, und mit dieser Idee im Sinn kannst du diese Idee in diesem Land und dann in dieser Welt verbreiten. Ideen kann man nicht töten«, formuliert Andre Taylor, der Gründer einer Organisation gegen Polizeigewalt, im gewohnten Schwurbelstil der sanften Revolution. Taylors Bruder Che war 2016 von einer Polizeikugel tödlich getroffen worden. Andre Taylor selbst hat eine Zeit lang wegen Zuhälterei eingesessen. Eine in Seattle erscheinende Zeitung titelte daher einst: »Vom Gesetzesbrecher zum Gesetzmacher«. Und tatsächlich hat der Ex-Häftling Taylor eine Reihe von Änderungen in den Polizeigesetzen des Staates Washington erreichen können. 

Der Klage, die die geschädigten Geschäftsleute vom Capitol Hill einbringen wollen, werden nur geringe Chancen eingeräumt. Richter Andrew Napolitano sagte auf Fox News, dass die Schutzpflicht gegenüber den Bürgern nicht etwa bei der Polizei liegt, sondern beim Staat selbst. Die Lösung des Konflikts werde daher »politisch«, nicht juristisch sein. Die Stadtverwaltung von Seattle hatte einen gesamten Stadtteil aufgegeben und auf die Durchsetzung von Recht und Gesetz dort verzichtet. Nun wollen anscheinend Teile der Autonomen wieder rechtstreu werden. 

Academia auf dem Weg zu einer neuen amerikanischen Revolution? 

Es gibt aber natürlich auch den umgekehrten Weg, wie der Spectator USA berichtet: Am 30. Mai wurden nach einer Nacht gewaltsamer Proteste zwei junge Juristen in New York festgenommen, da sie Molotow-Cocktails auf ein Polizeifahrzeug geworfen haben sollen. Insgesamt werden den beiden Rechtsgelehrten sieben schwere Straftaten zur Last gelegt, die sie auf einige Zeit hinter Gitter bringen könnten. Wie konnten sich also zwei examinierte, mit der Materie also zumindest theoretisch bestens vertraute Rechtsabsolventen so sehr in Verbrechen und Anarchie verrennen? 

Ist die intellektuelle Unruhe in der gebildeten Mittelschicht schon so groß? Manch ein Universitätsdozent zieht bereits Parallelen zwischen den USA im Jahr 2020 und dem imperialen Russland vor 1917. Ganz überzeugt das nicht. Aber sehen wir einmal nach, was trotzdem dafür sprechen könnte. Was man dabei zunächst findet, sind allerdings zunächst die Vorurteile jener Weltgegend namens Academia. 

So findet der Slawist Gary Saul Morson im heutigen Amerika wie im Russland der Belle Époque eine tiefe Ablehnung der Regierung (er nennt es praktischerweise »regime«) in fast »der gesamten gebildeten Klasse«, die sich folglich irgendwie »revolutionär« fühle. Das ist gar nicht mal so schlecht gesagt. Die Unschärfe des Regime-Begriffs legt offen, dass es den meisten nicht um das politische System der USA geht, sondern nur um den – allerdings nach den Regeln dieses Systems frei gewählten – Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ganz nebenher erklärt sich so auch, warum einige der Anführer in der autonomen Zone von Seattle sich gerade jetzt hinter die demokratischen Wahlkampflinien zurückziehen. Man wollte eben nur ein bisschen Stunk machen und so die Umfragewerte von Joe Biden etwas aufbessern.  

Ebenso modisch sind allerdings Morsons weitere Ausführungen, wenn er Amerika »auf abschüssiger Bahn« sieht: »Wir haben eine große Depression, eine schreckliche Furcht vor der Krankheit, und jetzt haben wir auch noch Unruhen auf den Straßen …« Das Rutschen könnte weitergehen, wohl wahr. Da scheint sich etwas zusammenzufügen im apokalyptischen Kopfs des Literaturprofessors. 

Ein genauerer Blick auf die allgemeinen Ursachen der Unrast in der Geschichte könnte eher Aufschluss geben. Der Soziologe, Politologe und Historiker Jack Goldstone hat sich zusammen mit dem Statistiker Peter Turchin bemüht, solche allgemeinen Muster zu finden. Goldstone glaubt, dass die amerikanische Gesellschaft sicher stark polarisiert ist, und das genauso wirtschaftlich wie politisch, so dass zum Teil sogar das Vertrauen in die politischen Institutionen selbst (also die Regierung) fehlt. Solche Ungleichverteilungen können angeblich zu Revolutionen führen, auch wenn man sich über deren Ursachen wohl auch in der historischen Zunft noch nicht ganz einig ist und eher zu »multikausalen« Erklärungen neigt. 

Goldstone versucht in diesen Bereich etwas Klarheit hineinzubringen. Nach ihm gibt es »soziale Revolutionen« wie die Französische Revolution oder die Oktoberrevolution in Russland, »antikoloniale Revolutionen« wie in Amerika und Haiti und »demokratisierende Revolutionen« wie zuletzt die Farbrevolutionen in Georgien oder der Ukraine. Eine solche Farbrevolution hält Goldstone nun auch in den heutigen USA für möglich – sogar mit einem Donald Trump, der sich dann per Hubschrauber nach Russland abseilt. Geht es noch etwas südamerikanischer? Der Soziologe vergisst offenbar, dass er nicht von einer x-beliebigen Bananenrepublik (einmal noch sei der Begriff erlaubt) spricht, sondern von dem Land, das in anderen Ländern (den sogenannten Bananenrepubliken, zum allerletzten Mal) Regierungschefs ein- und abgesetzt hat, natürlich im steten Wechsel mit der untergegangenen Sowjetunion. 

Die wahren Ursachen der Stabilität 

Also noch eine Analyse, die eher zum Windei wurde. Den gelungensten Beitrag liefert der Historiker Walter Scheidel, der gebürtiger Österreicher ist und derzeit in Stanford lehrt. Er erinnert daran, dass eine Revolution per se nur dort wahrscheinlich ist, wo das Bruttoinlandsprodukt einen gewissen Wert nicht überschreitet. Bei einem fünfstelligen BIP pro Kopf sei ein Umsturz schlicht unwahrscheinlich. Scheidel erwartet sich also wohl anhaltende, vielleicht auch in Teilen gewaltsame Konflikte, was einerseits verständlich anmutet, wenn man bedenkt, wie verbreitet der legale Waffenbesitz in den USA ist. Doch dass ein Großteil dieser Waffenbesitzer zu den Veteranen der US-Army gehört und daneben häufig in den Nationalgarden organisiert ist, scheint eher ein stabilisierender Faktor zu sein. Das meint auch Scheidel: »Sie würden wahrscheinlich auf Seiten der Regierung stehen.« 

Außerdem haben die meisten US-Bürger – auch die, die sich vielleicht am meisten benachteiligt fühlen – aufgrund des hohen Durchschnittseinkommens noch immer viel zu verlieren (zum Beispiel staatliche Zuwendungen, doch das scheinen sich die Randalierer der letzten Wochen in Minneapolis und anderswo nicht immer klargemacht zu haben). Mit »Quantitative Easing«, so Scheidel, meistere man die Krise derzeit weltweit zudem auf einem zufriedenstellenden Niveau und vermeide derzeit zu starke Einkommensverluste. Dass sich daraus ein Ausgleich der ökonomischen Gegensätze ergibt, dürfte dagegen eher unwahrscheinlich und das Gegenteil der Fall sein. Hier erheben sich wohl die größten, vielleicht die wahren Zweifel an der Stabilität unserer Gesellschaften in der nahen Zukunft. Nun gut, was soll’s: Verschieben wir’s auf morgen! 

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