Deutschland im Sommer: Friedrichstadt nah am Wasser gebaut

Das Städtchen wurde einst von niederländischen Einwanderern erbaut, die hier erstmals ihre Religion frei ausleben konnten, hier ihre erste Kirche überhaupt bauen konnten, was den abtrünnigen Remonstranten in ihrem Herkunftsland nicht gestattet wurde.

Alexander Wallasch

Ok, machen wir uns bei Saunatemperaturen mal nackig und sagen es, wie es ist bzw. gerade war: Eine Woche Urlaub mitten in Deutschland. Friedrichstadt in Schleswig, Grachten und breite Flüsse, Ebbe und Flut im Hinterland, Treene und Eider, Nordsee auch in der Nähe. Zuwanderungs- oder Flüchtlingsprobleme? Keine vorhanden. Keine sichtbar. Zwischen Fischbude und alter Hafenmole alles wie gehabt. Deutschland tiefgefroren bei gefühlten vierzig Plusgraden.

Die Husumer Nachrichten vermeldeten 2014, in Friedrichstadt wäre ein Strandkorb am besten Platz am Strand zugunsten von „Flüchtlingen” versteigert worden. Der Erlös der Versteigerung kam den Zugewanderten im kaum mehr als zweitausendfünfhundert Einwohner kleinen Städtchen zugute. Und die Landfrauen haben damals Apfelkuchen um die Wette gebacken und sammelten so ebenfalls ein paar Euro mit ein, die einer syrischen Familie zugute kamen, deren zwei Kinder die Treene-Grundschule besuchten.


Fragt man heute die Friedrichstädter, dann hat sich nichts verändert. Die paar „Flüchtlinge”, die da sind, wären alles nette Leute. Hamburger oder Berliner Verhältnisse gibt es hier nicht. Das Stadtbild ist unverändert. Hier allerdings richtet sich die Zuweisungszahl von Asylbewerbern nach der Einwohnerzahl, nicht nach den die Stadt erkundenden zahlreichen Touristen. Nicht nach den Gästen dieses als Klein-Amsterdam bekannten Städtchens, das einst von niederländischen Einwanderern erbaut wurde, die hier erstmals ihre Religion frei ausleben konnten, die hier ihre erste Kirche überhaupt bauen konnten, was den abtrünnigen Remonstranten in ihrem Herkunftsland nicht gestattet wurde.

Die lebenslustige Fischfachgeschäftverkäuferin aus der Nebenstraße weiß um keine Probleme mit den paar dutzend Zuwanderern, das seien alles gute Leute. „Wir kümmern uns um die. Da sagt man „Moin“ und dann ist alles gut“, sagt sie, während sie die vorgebackene panierte Scholle in die Mikrowelle schiebt und den hausgemachten Kartoffelsalat schon mal auf den Pappteller schlägt. Vor der Tür auf der Holzbank mit Sitzpolsterung ein sonnengebräunter Alter mit weißem Brusthaar, der von Aalfängen erzählt. Einmal viel früher sollen es mit dem vier Mal vier Meter großen Senknetz ganze 164 Stück auf einen Streich gewesen sein: „Und keine kleinen Dinger!“

Links von der Bank an der Hauswand hinauf wachsen Stockrosen so wie vor den meisten zwei oder dreistöckigen Häuschen, die hier Wand an Wand kleben, aber doch jedes für sich sein eigenes Spitzdach oder wenigstens einen Schmuckgiebel vorweisen. Die Rosen scheinen miteinander zu wetteifern. Die schönsten sind zweifarbig, tieforange im Kern und blutrot auslaufend an ihren Blütenspitzen.

Spät am Abend versammeln sich ein paar Einheimische und Touristen an der alten Hafenmole zum Angeln. Der Zander soll hier um diese Zeit zwischen Anleger und blauer Brücke jagen, aber bei der anhaltenden Hitze bis in die Nacht hinein will er nicht beißen. Zwischen den umliegenden kleinen Baumgruppen am Ufer der Grachten bis hinauf zur Treene trifft sich die Jugend versteckt vor den Blicken der Älteren. Wie aus der Zeit gefallen schallt ab und an ein glockenhelles Lachen übers Wasser gefolgt von etwas Zotigem im Stimmbruch zurückgerufen. Ein Angler ist unachtsam, seine wasserdichte Taschenlampe fällt ins Hafenbecken, der Lichtschein versinkt langsam im trüben Dunkel, bis es nur noch sphärisch aus der Tiefe hinauf scheint. Ein Tiefenleuchten, das noch zwei weitere Nächte anhält, bis es endgültig erlischt. Irgendetwas Kleinpelziges huscht über die steinigen Uferböschungen unterhalb der Liegewiesen, aber die Nager kommen nie in die Häuser, wenn nicht gerade ein Jahrhunderthochwasser käme, versichern die befragten Anwohner.

Gegenüber des einziges Hundestrandes am Ort sind die weniger gut betuchten Friedrichstädter untergebracht. Abends sitzen sie auf ihren Bänken, eine alte Dame hat ihre schweren bandagierten Füße vor sich auf ihre Gehhilfen gelegt, man trinkt gemeinsam aus angeschlagenen Porzellantassen. Hier kreiste der billige Hochprozentige über Generationen auch dann noch, als der Fang ausblieb.

Im siebzehnten Jahrhundert galt dieser Ort über seine Wassergrenzen hinaus als „Stadt der Toleranz““. Wer hier bereit war, fleißig zu sein, der durfte seine Religion mitbringen. Der gottorfsche Herzog gewährte Religionsfreiheit. Den Juden hat das Jahrhunderte später nicht viel genutzt, heute zeugen zwei dutzend Stolpersteine und ein Gedenkstein aus den 1980er Jahren und mit Blick aufs Wasser der Treene von der Existenz jener, die hier einst ein Fünftel der Gesamtbevölkerung stellten.

Die niederländische Backstein-Renaissance ist an diesem Ort allgegenwärtig. Hinter jeder Fassade Geschichten, die den Touristen vom Wasser aus nahe gebracht werden, die hier im Viertelstundentakt in einem der nach oben offenen Ausflugsboote durch die trüben Grachten schippern. Die Kanus, Tret- und Elektroboote sollten dann besser ausweichen, wollen sie nicht mit den schwimmenden Führungen havarieren. Neuerdings wird sporadisch auch modernes Standup-Paddeling angeboten, dafür kommt extra ein Wagen mit Anhänger an den Hundestrand gefahren, die Bretter werden ausgepackt und für fünfzehn Euro die Stunde wird stehend gepaddelt, bis der Wagen weiterfährt und wieder die verbeulten Tretboote dominieren.

Fisch gefangen wird kaum noch selbst, was es hier auf’s Brötchen gibt, ist aus Dänemark oder anderswo in Kühlwagen hergefahren worden. Ja, im nahen Husum fährt noch ein Krabbenkutter raus, aber früher waren bis zu fünfzig unterwegs, weiß die rüstige Neunzigjährige, die auf der Bank mit Blick auf das Watt von der Kunst des Alterns berichtet, die etwas von Disziplin, Lebensfreunde und Kreuzworträtseln als Gedächtnistraining erzählt und erklärt, was es mit der Landgewinnung auf sich hat und den Sedimenten, die man an Barrieren im Wasser auffängt, weshalb wir das Schlauchboot lieber am Ufer lassen sollten, es würde aufgeschlitzt, wenn man Pech hat.

Aber in fünfzig Jahren etwa wäre das Meer vor uns sowieso verschwunden, dann würden zuerst die Schafe grasen, die verdichten den Boden, dann irgendwann … also dann wäre Deutschland eben ein bisschen größer geworden, möchte man anfügen und das ganz ohne Kriege oder Schlachten. Nur durch überlieferte Techniken und wo es immer noch zu matschig und sumpfig ist, da erinnert man sich vielleicht wieder an die Remonstranten, die eben Grachten bauten zur Entwässerung, die ihre Häuschen auf Eichenpfähle stellten, die komplizierte Ebbe-Flut-Schleusen bauten, damit diese Pfähle bitte niemals im Trockenen stehen müssen.

Und während die Sonne untergeht über diesem Deutschland, dass so Deutschland ist, wie ein Fischbrötchen mit Bismarckhering drauf, das einen Marktplatz hat mit einem Edelitaliener mit Pizzasteinofen und San Pellegrino aus dem Plastikkühler, serviert am Tisch für sechs Euro die Flasche, während also die Krähenschwärme in den hohen Linden am Marktplatz noch um die besten Plätze streiten, lässt eine Gastfamilie aus dem bayrischen den Canadier zu Wasser, für eine letzte Tour vor Sonnenuntergang.

Es geht die Gracht hinauf bis hoch zur breiten Treene: Die Stechpaddel laufen lange nicht synchron, der Vater schimpft mit den Jungs, die Jungs miteinander, während die Mutter nur weiter unermüdlich ins Wasser sticht. Aber das Wunder passiert: Nach noch einmal ein paar hundert Metern Slalomfahrt flitzt das schlanke Kanu schnurgerade übers Wasser, als hätten die vier nie etwas anderes gemacht. Als wäre, was man da schaut, eine erfolgreiche Familientherapie auf dem Wasser. Oder einfach nur ein tolles Urlaubserlebnis. Fahren Sie doch auch mal hin.

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Kommentare ( 40 )

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GermanMichel
5 Jahre her

Der Beitrag ist irreführend, da er suggeriert, das Flüchtlingsproblem wäre in der Norddeutschen Provinz noch nicht angekommen. Nun weiß ich aus eigener Anschauung und aus erster Hand, dass das Gegenteil der Fall ist (Friedrichsstadt ist nicht überall). Bei der Ankunft auf norddeutschen Provinzbahnhöfen kann der Araberanteil auf den Bahnsteigen durchaus mal 50-80% betragen, und eine Regionalbahnfahrt ohne den sanften Klang der melodiösen arabischen Sprache im Hintergrund ist kaum noch möglich. Zudem weiß ich von Hausverkäufen alteingesesener Norddeutscher, die damit dem zunehmenden Werteverfall ihres Hauses zuvorkommen wollen, dessen Ursache sie aber so direkt nicht ansprechen möchten. 2015 war der Generalangriff auf… Mehr

Alexander Wallasch
5 Jahre her
Antworten an  GermanMichel

Wie erlebt, so beschrieben. Ohne wenn, aber oder Hintergedanken

GermanMichel
5 Jahre her
Antworten an  Alexander Wallasch

Glaube ich unbesehen, aber lässt sich leider nicht auf ganz S.H. verallgemeinern.

Neumünster ganz schlimm, aber das Stadtbild hat sich überall doch sehr geändert … das war einmal eine wirklich strohblonde Gegend da oben, inzwischen ganz schön bunt überall.

Nachdenkerin
5 Jahre her

Oh ja, kann ich alles bestätigen. Es ist zwar gute 15 Jahre her, dass ich dort war, aber viel verändert hat sich anscheinend nicht. Ein toller Urlaubsort.

josefine
5 Jahre her

Danke, Herr Wallasch! Diese ruhige Beschreibung eines kleinen Städtchens tut dem Leser richtig gut. Genau passend für einen schönen Sonntagmorgen.
Hier zeigen Sie, dass Sie nicht nur Politik „können“, sondern dass Ihnen die kleinen Dinge (natürlich verbrämt mit Geschichte) auch liegen.

Hegauhenne
5 Jahre her

Wunderbar, Herr Wallasch.
Ich kenne etliche solcher Orte im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet, fernab der Welt, und doch ist man in einer Stunde in Stuttgart, Konstanz, Basel, Zürich, Bregenz.
Neben versteckten landschaftlichen Highlights ist es die völlige Ereignislosigkeit, die den Menschen hier vollkommen glücklich macht. Einfach nur da sein, das isses.
Man darf es nur nicht weitersagen.

Alexander Wallasch
5 Jahre her
Antworten an  Hegauhenne

Und gerade wollte ich eine Serie vorschlagen, da las ich Ihren letzten Satz ?

W aus der Diaspora
5 Jahre her

„Die lebenslustige Fischfachgeschäftverkäuferin …“

Das ist keine Fischfachgeschäftverkäuferin, sondern eine Fischfachverkäuferin. Denn die Dame verkauft Fische und nicht Fischgeschäfte.

maxmink
5 Jahre her
Antworten an  W aus der Diaspora

Ja ein bisschen Belehrung muss schon sein.
Besonders bei einem so wichtigen Aspekt.

W aus der Diaspora
5 Jahre her
Antworten an  maxmink

Wenn schon hier auf Tichy die deutsche Sprache nicht mehr korrekt angewandt wird? Ja, das ist ein wichtiger Aspekt.

Alexander Wallasch
5 Jahre her
Antworten an  maxmink

???

Alexander Wallasch
5 Jahre her
Antworten an  W aus der Diaspora

Sie haben recht, ich nahm den Namen am Fenster und habs zusammengefrickelt. Danke Ihnen !

Tizian
5 Jahre her

Da hat Friedrichstadt bislang einfach Glück gehabt. Glück, das es keinen Bürgermeister hat, der nach noch mehr Einwanderern schreit und vor allem Glück, das dieses kleine Städtchen zumindest bislang kein interessanter und lukrativer Zielort für diese Gruppe ist. Es gibt viele andere kleine ehemals friedliche und ruhige Städtchen, die heute ganz andere und bislang unbekannte Probleme haben und wo der soziale Frieden gestört ist oder in der Schwebe hängt.

Ulrich Bohl
5 Jahre her

Sehr geehrter Herr Wallasch sie beschreiben eine Idylle die immer seltener zu finden ist . Das resultiert sicher aus allgemeinen Ent- wicklungstendenzen, wird aber durch das Handeln unserer Politiker auf jeden Fall verstärkt anstatt sich Entwicklungen die uns Deutschen gefallen verpflichtet zu fühlen. Ständig sollen wir Leute integrieren die sich nicht integrieren wollen. Sie sind selbst wenn man die Unrecht- mäßigkeit ihrer Anwesenheit ausblendet nur temporär in Deutschland, werden aber immer mehr zum Lieblingsobjekt der Integrations- süchtigen . Wir sollen Sie integrieren. Warum eigentlich? Sie können hier zeitweilig leben, etwas lernen und dann in ihre Heimatländer zurückkehren. Stattdessen bemühen sich… Mehr

Andrea Dickerson
5 Jahre her

Sehr schöner Artikel über Orte, wo man noch nie war, einen Menschenschlag, den man nicht kennt. Kompliment!

LaLicorne
5 Jahre her

Das ist ein feuilletonistischer Beitrag vom Feinsten, den uns Herr Wallasch hier in Bestform serviert. Abgesehen von den (zurecht) in Anführungszeichen gesetzten Flüchtlilanten kaum ein unmittelbares Wort zu dem existenzbedrohendsten Problem unserer Zeit überhaupt.

Doch Deutschland als etwas ungeheuer Fragiles, gerade im Provinziellen Liebens- und Bewahrenswertes klingt darin an.

Für diese raffinierte Erinnerung daran, was aktuell auf dem Spiel steht, während sich Tag für Tag neue Landungsboote aus Afrika auf den Weg machen, ein herzliches Dankeschön!

manni_meier
5 Jahre her

Ich vergaß, dies war eine Replik auf Cojo Tee: „So viel Frieden und Harmonie ist mir suspekt. ?“! Also keine Angst, lieber Herr Tee, wir kommen auch noch dran!