Eine Scheibe Rückgrat

Wenn man Politik kommentiert wie nicht wenige ÖR-Leute, sollte man nicht nur Rundfunkbeitrag von jedem Haushalt kassieren, sondern konsequenterweise zur politischen Partei umfirmieren.

© Clem Onojeghuo

Vor langen Zeiten, als Anetta Kahane noch nicht für eine gesamtdeutsche Nichtregierungs-, sondern eine Regierungsorganisation der DDR arbeitete, als sich im Westen die SPD noch einen alten weißen antikommunistischen Mann als Parteichef leistete und als es den Medien noch gut ging, in diesen Zeiten gab es ein berühmtes Lied des Oktoberklub, einer von der SED und der Freien Deutschen Jugend geförderten Musiktruppe, das den Titel trug: „Sag mir, wo du stehst“.

Der Liedtext appellierte speziell an die jungen DDR-Bürger, Haltung zu zeigen:

„Zurück oder Vorwärts, du musst dich entschließen.
Wir bringen die Zeit nach vorn Stück um Stück.
Du kannst nicht bei uns und bei ihnen genießen,
denn wenn du im Kreis gehst, dann bleibst du zurück.

Sag mir, wo du stehst.
Sag mir, wo du stehst.
Sag mir, wo du stehst,
und welchen Weg du gehst.
und welchen Weg du gehst.

Wir haben ein Recht darauf, dich zu erkennen.
Auch nickende Masken nützen uns nichts.
Ich will beim richtigen Namen dich nennen
und darum zeig mir dein wahres Gesicht.“

Die Botschaft war nun wirklich nicht schwer zu verstehen: Entweder gehörte man zu den Richtigen oder zu denjenigen „auf der falschen Seite der Geschichte“ (Frank-Walter Steinmeier im August 2019). Nur sich selbst durfte niemand gehören. Haltung, so oder so, war etwas Kollektives.

Nun will der Autor nicht behaupten, die Bundesrepublik des Jahres 2019 wäre eine DDR mit Westgeld. Denn das mit dem Westgeld stimmt ja auch nur noch sehr bedingt. Nein, das war ein unverantwortlicher, populistischer Scherz, nicht ganz so flach wie eine Böhmermann-Sendung, aber fast. Ernsthaft: Da der in Leipzig geborene Autor dieses Rückblicks beide Seiten der Geschichte kennt, kann er auch die Unterschiede würdigen. Und wer in diesem an Gedenktagen reichen August 2019 zumindest temporär von der Neureuth-Alm über das Tegernseer Land Richtung Norden schaut, der sieht die Lage trotz dieser Vorbildung milder als jemand, der in einer Berliner Redaktionsbürobox hockt.

In der vergangenen Woche jährte sich der Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1961. Das Ereignis liegt heute schon weit zurück im Nebel der Geschichte. In seiner Erklärung zum 13. August 2019 erwähnte der Regierende Bürgermeister Berlins Michael Müller mit keinem Wort, von dem die Mauer eigentlich errichtet wurde, und welchem Zweck sie diente. „Die Mauer“, so Müller, „hat über Jahrzehnte tief in das Schicksal unserer Stadt und ihrer Bürgerinnen und Bürger eingegriffen, und sie hat Opfer gefordert und über viele Menschen schweres Leid gebracht, dessen Folgen bis heute wirken“, sie kam offenbar wie eine nichtmenschengemachte Klimaveränderung über Berlin.

ARD instrumentalisiert Mauerbau-Jahrestag
Der große Linksruck
In der Tagesschau-Meldung zum 58. Jahrestag des Mauerbaus wurde zwar immerhin erwähnt, dass die Errichtung der Sperranlagen etwas mit der SED und einem Walter Ulbricht zu tun hatte – aber nicht, was. Warum wollten so viele DDR-Bürger ihren Staat verlassen? Warum erlaubte es ihnen der Staat nicht? Darüber gab die ARD-Nachrichtensendung keinen Aufschluss, dafür nannte die Sprecherin die Mauer ein „Bollwerk“, also etwas, das zur Abwehr einer Gefahr errichtet wird. Das klingt schon fast ein wenig wie Schutzwall. Im Kommentar aus dem Off zu Bildern von der Mauergedenkstätte Bernauer Straße dann die ermahnende Erinnerung daran, dass es auch heute noch Mauern in der Welt gebe, beispielsweise „zwischen der USA und Mexiko“ und „in Israel“. Nicht über die Intention von Mauern zu sprechen: das ist auch eine Intention beziehungsweise eine Haltung mit ganz klarer Kante.

Übrigens, das nur als kleiner Einschub: Bei ihrer Rede zum Mauerbaugedenken in der vergangenen Woche sagte die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer den Satz über die Demonstranten, die im Hebst 1989 die Mauer zum Einsturz gebracht hatten: „Von ihrem Mut, von ihrem Rückgrat, können manche auch im westlichen Teil Deutschlands sich eine Scheibe abschneiden.“ Als Parteivorsitzende taugt sie zwar nichts. Aber möglicherweise geht sie als komischste Person der CDU seit Heinrich Lübke in die Geschichtsbücher ein.

Aber zurück zur Haltung. Auch in der Tagesschau-Sendung zum 30. Jahrestag des paneuropäischen Picknick in Sopron, wo der damalige ungarische Außenminister Guyla Horn und sein österreichischer Kollege Mock den Ostblock-Grenzzaun zerschnitten, erfahren die Zuschauer keinen Mucks darüber, warum und wovor die DDR-Bürger damals aus der DDR herauswollten.

Fake-Nuss der Woche
Der ARD-Chefredakteur biegt Geschichte zugunsten der Linkspartei zurecht
Und auch hier folgt die flotte Überleitung zu den fremdenfeindlichen Ungarn unter Viktor Orban.

In diesem großen Gedenkjahr – 30 Jahre Montagsdemonstrationen in Leipzig, 30 Jahre Mauerfall, 70 Jahre DDR – gelingt vielen Qualitätsmedien der Zaubertrick, den roten Elefanten namens SED einfach von der Bühne verschwinden zu lassen. Bestenfalls fällt noch irgendwo das Kürzel, aber ohne jeden Hinweis, für welches Gesellschaftsbild diese Partei stand. Und vor Kurzem gab es eine gewisse Aufregung, als der ARD-Chefredakteur Rainald Becker einen aus der DDR stammenden Journalisten – nämlich Ralf Schuler – belehrte: „Wer nach 30 Jahren Einheit Die Linke immer noch als ‚SED-Erben’ bezeichnet, hat nichts verstanden und gelernt.“

SED-Erben – das ist ja auch nicht ganz richtig. Tatsächlich existiert ein juristisches Kontinuum von der SED über die SED-PDS und die PDS bis zur heutigen Linkspartei, der Partei, die seit vergangener Woche zum ersten Mal auch in einem West-Bundesland mitregiert. Und die nach Ansicht vieler Journalisten mit guter Haltung heute so wertvoll ist wie noch nie. Wer findet, Becker sei ein typischer Haltungsjournalist, der jedem sofort ungefragt auf die Nase schmiert, wo er steht, der sollte sich erst einmal den Kommentar des NDR-Journalisten Michael Weidemann zu der neuen Bremer Koalition ansehen. Denn der sieht die Koalition von der Weser als Modell für Deutschland:

„Nein, Rot-Grün-Rot – oder Grün-Rot-Rot – wäre zwar absolut ungewöhnlich für unsere an Jahrzehnte alte Koalitionsmodelle gewöhnte Republik. Der Super-GAU wäre die neue Allianz mit Sicherheit nicht.
Dafür bietet das Links-Bündnis die zusätzliche Möglichkeit, eine Regierung zu bilden, die ausschließlich aus demokratischen Parteien besteht. Sie ist eine Alternative zur GroKo, zu Jamaika oder eventuell auch zu Schwarz-Grün – und damit in Zeiten des erstarkenden Populismus schon allein deshalb eine Bereicherung, weil sie der Politik des Fremdenhasses, der Abschottung und der Ausgrenzung ein weiteres demokratisches Gegenmodell entgegenstellt. Die scharfen Kritiker einer Links-Koalition sollten diesen Aspekt im Hinterkopf behalten, wenn sie das rot-grün-rote Experiment wortgewaltig an den Pranger stellen. Wer weiß denn, ob nicht schon bald auch eine der bürgerlichen Parteien vor der Alternative steht, entweder die Linke mit ins Kabinett zu holen – oder die Regierungsmehrheit zu verlieren.“

So kann man Politik natürlich kommentieren. Man sollte dann nur nicht Rundfunkbeitrag von jedem Haushalt kassieren, sondern konsequenterweise zur politischen Partei umfirmieren.

Darin liegt übrigens einer der vielen Unterschiede zwischen DDR und heutiger Bundesrepublik: Ein Karl-Eduard von Schnitzler hatte wenigstens nicht so getan, als wäre er eigentlich ganz offen und ließe gern mit sich reden. Apropos: Er ist wieder da. Jedenfalls ein bisschen.

„Laut einer Pressemitteilung hatte Márta Rafael, Ehefrau des im Jahr 2001 verstorbenen Journalisten Karl-Eduard von Schnitzler, der ‚Jungen Welt’ gestattet“, schreibt der Berliner Tagesspiegel, „unter dem Titel ‚Schwarzer Kanal’ die Tradition aufklärerischer Medienkritik im Geiste ihres Mannes fortzusetzen. Dies habe die Zeitung stets als Auftrag verstanden. Auch die Verfügbarmachung in Audio- und Videoformaten sieht die ‚Junge Welt’ in diesem Sinne: ‚Ich werde meine Arbeit als Kommunist und Journalist für die einzige Alternative zum unmenschlichen Kapitalismus fortsetzen. Als Waffe im Klassenkampf (…) Auf Wiederschauen’, hatte Karl-Eduard von Schnitzler im letzten ausgestrahlten ‚Schwarzen Kanal’ des DDR-Fernsehens am 30.10.1989 gesagt.“

„Aufklärerische Medienkritik“ – das steht im Tagesspiegel genau so da, eins zu eins aus einer Pressemitteilung abgeschrieben, als hieße man Lorenz Hemicker und hätte mit einer Verlautbarung von netzpolitik.org zu tun.

Wie es weiter geht mit der Geschichtspolitik, dem Ungedenken, der Haltung, der Alm über dem Tegernsee und der Frage, ob Annegret Kramp-Karrenbauer nach dem 1. September ein paar Scheiben Rückgrat von den CDU-Landesverbänden in Sachsen und Brandenburg abschneiden wird, das erfahren Sie in den nächsten Folgen meiner aufklärerischen Medienkritik.

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Kommentare ( 67 )

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Piet L.
4 Jahre her

Damals in der DDR musste ich genau überlegen wen und wo ich etwas sage und wo ich lieber den Mund halte. Heute ist es schon wieder so. Ich staune immer wieder über die Naivität vieler Westdeutscher die die LINKE irgendwie für eine nette menschenfreundliche Organisation halten die nur Gutes im Sinn hat. Das Erwachen wird böse ausgehen.
Was die Medien betrifft: Es fehlt nicht mehr allzuviel um das Niveau der DDR ( eine Partei- eine Meinung, keine Alternativen) zu erreichen.
Heute ist es lediglich das Konglomerat SPDLINKECDUGRÜNE was die SED ersetzt.

Dieter Rose
4 Jahre her

wer hat bei AKK
was vom Rückgrat
abgeschnitten?
war da überhaupt
eines da?

Lu Ziffer
4 Jahre her

Irgendwie steht an den ganzen sogenannten Gesellschaftsformen immer ein ..mus(s) am Ende? Und diese Pflichtkategorisierung zeigt sich auch immer in der fehlenden Toleranz. Aber die Kategorisierung in Schubladen ist einfach und menschlich. Die Demokratie mit der dazu notwendigen Toleranz erfordert nun mal eine gewisse Grundintelligenz, die vielen fehlt. Oder anders ausgedrückt: Der Kluge gibt so lange nach, bis er der Dumme ist!

Corvus
4 Jahre her

Die ehemalige SED hat die BRD fest im Griff und hat viele Fürsprecher im Bundestag. Warum? Viele (ach so aufgeklärte Menschen) lassen sich leider viel zu leicht täuschen!

P.Reinike
4 Jahre her

Meinetwegen könnte der NDR das „Neue Deutschland“ rauf- und runtersenden. Das Problem ist, man kann nicht wie bei Printmedien einfach den Unsinn an der Ladentheke mit ungnädiger Ignoranz links liegen lassen, sondern muss ihn zwangseinkaufen.

Diese Dreistheit galt nicht mal für Schnitzler, der im Gegensatz zu Gesinnungsjournalisten im Duktus vom Selbstüberschätzung und Haltungsschäden ja einen gewissen Unterhaltungswert hatte, wenn er im Geiste „auklärerischer Medienkritik“ heftig unterwegs war. Das war fast wie Böhmermann, nur mit mehr Verve und festem ideologischem Überbau vorgetragen.

Stefan L.
4 Jahre her

Das mit den Fotos als Stilmittel, erinnert mich a bisserl an Don Alphonso…

Aber ich find ja beide guad!

erwin16
4 Jahre her

Hat mal jemand geguckt wie alt Herr Wendt ist? ich bin 5 Jahre älter und habe im Erwerbsleben, die DDR nur wenig erlebt, wegen Studium und weiterführende Ausbildung, aber was rein praktisches nichts mit Gesellschaft und so. Ich war 89 auch in Leipzig. Ich sehe das mit der Linkspartei anders, aber das traue ich mich hier nicht zu schreiben. Weil das sowieso keiner versteht. Dabei wähle ich die Linkspartei nicht, weil ich nicht weiß, was das soll. Ich sehe das Ziel bei denen nicht, weil der Soz. ist gescheitert. Ich hatte damals keine Wahl, es gab die Mauer und die… Mehr

Hoffnungslos
4 Jahre her
Antworten an  erwin16

Hallo erwin16, trauen Sie sich zu schreiben, wie Sie die Entwicklung sehen. In diesem Forum darf sich jeder frei äußern. Darum geht es ja gerade. Die freie Rede muss erlaubt sein. Wir müssen nicht alle einer Meinung sein, aber alle müssen das Recht haben, offen zu diskutieren! Das unterscheidet uns von den Einheitsmeinungsvertretern: Das freie Wort!

Vielfahrer
4 Jahre her

Nun, Karl Eduard von Klick kam zu Beginn der 1950er Jahre ja auch vom NDR zum DDR-Fernsehen. Um bis zum Ende der DDR in Westberlin beim Klassenfeind einzukaufen. Wasser predigen und Wein saufen – diese Tradition bleibt also erhalten. So lässt es sich ja auch prima im Sozialismus leben!

pcn
4 Jahre her

Lese Ihre Beiträge immer wieder gerne, Herr Wendt! Und nun habe ich Sie auch ein Stückchen weiter kennengelernt, Ich als gebürtiger Wessi hatte mir als Schüler 1964 die Mauer und natürlich die bedrückenden Stellen am Brandenburger Tor und der Bernauerstrasse mit dem kleinen Museum angesehen. War dort mit dem Fahrrad unterwegs und dachte bei mir: Welch ein gigantisches Freiluftgefängnis. „Weg mit der Hallstein-Doktrin“ und Ähnliches war über die Mauer hinweg gen Westteil der Stadt Berlin gerichtet. Ich sah die Vopos patrouillieren und den T34 des Sowj.Ehrenmals auf dem Sockel wie eine Bedrohung, die durchaus damals hätte realistisch werden können. Siehe… Mehr

RauerMan
4 Jahre her

Herr Wendt, Sie beschreiben die damalige „Lage“ und die Heutige m.E. richtig. Wie konnte es nur dazu kommen, daß eine DDR und seine „Verderbelinge“ heute wieder die Klappe aufreissen können und ein großer Teil der (vor allem Westdeutschen) auf deren Geschichtsklitterung hereinfällt.? Das ist konsequente Ausnutzung von nachtwächterlicher-dümmlicher, von großen Teilen der Medien und einiger Parteien fahrlässig vorgebetet, daß Links nicht so schlimm wäre, verschuildet. Statt Einschaltung des gesunden Menschenverstandes, weshalb ein stalinistisches SED-Regime unterging, wird diese ohne größere Widerstände hoffähig gemacht. Möchte gerne wissen, wer und wieviele ehemalige SED-Genossen sich im BT befinden und in welchen Ausschüssen sie die… Mehr