Bei Anne Will: Demokratie für Dummys

Endlich wieder ein klares Feindbild, endlich wieder vier „Experten“ mit einer Meinung, endlich wieder ein Opfer in der Runde, so dass auch das Publikum weiß, was von ihm gefordert wird.

Screenprint: ARD/Anne Will

Es geht um Boris Johnson, den aufsässigen Premier des perfiden Albion, der heute Abend den Zorn der Selbstgerechten über sich ergehen lassen muss, beziehungsweise an seiner Statt: der freundliche Mister Hands, seit 14 Jahren Member of Parliament der Tory-Partei. Die Anklage vertreten zwei aufgebrachte Damen, die Liebe, Karriere oder beides vor Jahren nach England führte, wo sie seither den Ureinwohnern zeigen, wie Demokratie richtig geht, nämlich Irina von Wiese, bei EU-Kommission und UN tätig (stellvertretende Vorsitzende des Unterausschusses für Menschenrechte), außerdem Abgeordnete der Splitterpartei Liberal Dems (eine Art SPD-FDP) in London. Und Tanja Bueltmann, von der Anne Will immer wieder sagt „Sie sind ja Historikerin“, Frau Bueltmann ist Migrationshistorikerin in Newcastle, um genau zu sein.

„Ausgespielt“ habe Boris Johnson, seit „21 mutige Abgeordnete“ die Partei verließen, höhnt Wiese, und die Professorin weiß, dass „er keinen Plan“ hat. Er wollte bloß Premierminister werden, gut, das habe er geschafft. Aber nun sieht Tanja Bueltmann „überall Lügen und Versprechungen“, und was das Schlimmste ist, wenn Johnson doch einen Plan hätte und damit durchkäme, dann wäre die Migration von Tanja Bueltmann Geschichte.

Extra aus dem Ruhestand geholt wurde Rolf-Dieter Krause aus der Lüneburger Heide, der für den WDR lange Jahre Brüsseler Geschichten erzählte. Ruhestand hin oder her, Rolf-Dieter Krause hat sein Handwerk nicht verlernt, wie man merkt, wenn er ausführt, Boris Johnson sei ein „notorischer Lügner, „der hat doch nur die Wahrheit gesagt, wenn er seinen Namen sagte“. Wie sehr man auch im Nachhinein Kommentare und Kompetenz von Rolf-Dieter Krause vom WDR einzuschätzen hat, zeigt übrigens seine Erinnerung an die Kandidatur von Johnson als Bürgermeister von London: „Das kann doch nicht sein“, hat Krause damals gesagt. Weiß er, dass Boris sogar zweimal gewählt wurde?

Das Publikum schien übrigens mit der etwas undurchsichtigen Gemengelage bei der derzeitigen englischen Politik bestens vertraut zu sein, denn es zollte Krause ständig kräftig Beifall und begleitete alle Ankläger wie Wackeldackel mit permanentem Kopfnicken.

CDU-Mann Norbert Röttgen, der Mann für alle Fälle, bei denen es von Partei- und Regierungsseite eigentlich nichts zu sagen gibt, sieht Johnson „in der Falle“, ihm bleibe nur „das Gesetz zu brechen“ oder Neuwahlen. Außerdem habe er die Torys zerstört, den Enkel von Winston Churchill herausgeschmissen (uuiii, raunte das Publikum), Schottland geht, Tory und Labour sind extreme Partei (ooohhh, stöhnten die im Saal). „Wie denken denn die Briten darüber?“, möchte Anne Will ausgerechnet von Röttgen wissen. Aber natürlich weiß der nicht, wie die denken, die Briten, und „wie das ausgeht“.

Drahtseilakt Brexit
Durchs Chaos zur Entscheidung
Greg Hands verbittet sich zunächst das Hetzten gegen Johnson, der Mann sei schließlich britischer Premierminister – vielleicht erinnert den geschichtssensiblen Briten das an die Beschimpfungen von Churchill als Saufkopf durch einen Goebbels. Johnson, so Greg, sei von zwei Dritteln der Parteimitglieder gewählt worden, er habe das Mandat für den Brexit. Punkt. Der Trick mit dem Zwangsurlaub für das Parlament sei in seiner, Hands’ Zeit als Parlamentarier, 10 mal angewandt worden. Außerdem solle man Boris Johnson nicht unterschätzen.

Das ist schon grotesk: Ausgerechnet in einem Land, in dem ein Kinderbuchautor die höchsten Töne spuckt, eine Quasselstrippe, die Strom-Netze nicht von Strom-Speichern unterscheiden kann und grüne Kobolde in Batterien vermutet, die Zukunft für alle planen lässt, ausgerechnet in einem Land, in dem das Parlament mental ganzjährig im Urlaub ist und eine Masseneinwanderung in die Sozialsysteme abnickt, ausgerechnet in diesem Land weiß man natürlich am Besten, wie England seine Probleme zu lösen hat.

Das mit dem Volkswillen sei doch ein „problematischer Begriff“, findet Moderatorin Anne Will, was nun wirklich an ihrer Befähigung zweifeln lässt, oder gilt in ÖR-Kreisen auch Artikel 20 des Grundgesetzes (alle Staatsgewalt geht vom Volke aus) als „problematisch“? Das Wahlsystem sei ja in England anders als bei uns, beklagt erklärend Krause, dabei „geht es um Menschen, die bitter leiden werden.“

Den anderen moralischen Tütü sparen wir uns, von den sterbenden Menschen und Staus in Dover, schon morgen kann die Lage an der Themse wieder ganz anders aussehen. Zu Neuwahlen, die die Johnson-Gegner fürchten wie die Sozialdemokraten in Deutschland und Italien, spricht vielleicht die Queen ein Machtwort. Fakt ist, im Raum steht der 19. Oktober, für den Boris Johnson den vom Volk beschlossenen Brexit versprochen hat, und den seine Gegner mit allen Tricks verhindern oder hinauszögern wollen.

Angela Merkel habe Johnson bei seinem Antrittsbesuch gesagt, was man in zwei Jahren schaffen könne, das ginge auch in 30 Tagen, führt Greg Hands hoffnungsvoll an, und es werde bereits fleißig verhandelt. Außerdem, und stolz wedelt er mit einem „Hands-Out“, habe er die Lösung bereits hier in der Hand.

„Es gibt keine Verhandlungen, nur Gespräche, und die sind Teil des Schwindels.“ Wir nehmen an, er meint Teil des Schwindels von Johnson, nicht der EU, denn zu einer solchen Offenlegung wäre Norbert Röttgen nicht autorisiert. „Und dein Plan, Greg, da steht doch nichts Neues drin. Den hat sich doch der Boris Johnson nicht ein einziges Mal angesehen!“ Greg Hands kämpft mit den Tränen, aber das Publikum, das auffallend Bescheid weiß über die Lage in Albion, klatscht seinen Kummer gnadenlos weg.

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Kommentare ( 127 )

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non sequitur
4 Jahre her

Da zolle ich doch lieber Fünf gegen Willy Tribut als mir diese Fünf mit Will Tribunale des Gemeinwohlfunks anzutun.
Ist auf jeden Fall befriedigender und nervenschonender.

Frank v Broeckel
4 Jahre her

Ist es Demographie , dann ist es in Wahrheit Mathematik,und sie können bestimmte politische Entscheidungen im wahrsten Sinne des Wortes SOGAR mathematisch berechnen!!! Der BREXIT Großbritannien zugunsten(!!!) des Staates Polen steht seit dem Jahre 1990, allerspätestens seit dem Jahre 1991 bereits fest, da der Schutz und die weitere Aufrechterhaltung des Staates Polen zur absolut obersten Staatsräson des Staates Großbritannien gehört! Und völlig EGAL, ob Sie nun in Großbritannien der Johnson, die May, der Corbyn oder SOGAR die Queen höchstpersönlich sind, wirklich NIEMAND kann sich in Großbritannien der obersten Staatsräson der weiteren Aufrechterhaltung und Schutz des Staates Polen entgegenstellen! Diese gefakten… Mehr

Hoffnungslos
4 Jahre her

Leider haben die deutschen Medien bis auf wenige Ausnahmen das Wesen der Demokratie nicht begriffen, bzw. lehnen es ab. Propagiert wird der Untertanengeist. Die Untertanen haben gefälligst der deutschen Parteiführung (die immer Recht hat) zu folgen. Jämmerlich!

Karl Heinz Muttersohn
4 Jahre her

Ich habe mir die heutigen Debatten im UK Parlament angesehen und ich muss sagen, dass ich mir diese politische Kultur auch für Schland wünsche. Es war gelebte Demokratie und nicht Staatsfunk Schlaftabletten fürs Pack.

Sandmann
4 Jahre her

Eine Runde voller Schwachköpfe, wir sitzen mittlerweile auf der Titanic welche uns gebetsmühlenartig als AIDA verkauft wird. Wie lange soll dieser Wahnsinn noch weiter gehen? Die EU wird wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Mich interessiert nur noch wer den Stecker zieht.

Marc Hofmann
4 Jahre her

Das Volk ist das Parlament und das Volk hat für den Brexit gestimmt…egal mit oder ohne Deal. Das Parlament = Volk wird also gerade von den EU hoerigen Abgeordneten unter der Führung von Corbyn missbraucht und vergewaltigt mit diesen Deal Brexit!

country boy
4 Jahre her

So einseitig und einfältig die Sendung auch war, so wohlwollend wird sie von der Mainstreampresse rezensiert. Wenn man diese Besprechungen von SPIEGEL bis zu FOCUS liest, weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll.

Harzbub
4 Jahre her

Bekanntlich wird man durch Schaden klug. Ob der Brexit tatsächlich zum Schaden GBs ist, wird sich faktisch noch herausstellen. Nach dem Brexit stehen Verhandlungen mit der EU an, um den zukünftigen Umgang miteinander zu regeln. Die EU kann kein Interesse an einem Vertragslosen Zustand haben. Und die Briten werden erkennen, kein Empire mehr zu sein sondern nur eine Insel im Atlantik. Das Großbürgertum a la Reese-Moog ist immer noch im 18. Jahrhundert verwurzelt und macht aus GB ein Niedrigsteuer-und Billiglohnland. Die alte Ausbeuter- und Piratenmentalität lebt noch. Die Briten haben Jahrhunderte auf Kosten fremder Völker gelebt. Die Menschen werden bitter… Mehr

Kaenguru
4 Jahre her

Extrem peinlich für uns. Das dummdreiste Tribunal zeigt immer wieder, daß es Demokratie ablehnt. Die meisten Deutschen scheinen inzwischen so zu ticken, da sie es goutieren. Langsam wird es wieder schwierig sich als Deutscher zu bekennen. Schade, ich dachte, das wäre vorbei gewesen. Dieses lehrerhafte Sendungsbewußtsein, statt leben und leben lassen.

pantau
4 Jahre her

Der berühmte Blinde mit dem Krückstock muss doch merken, daß mit diesen Sendungen etwas nicht stimmt. Formales Mindestkriterium für Fairness ist doch stets ein noch so erkünsteltes Pro&Contra, wo der Moderator in der Mitte steht und halbwegs paritätisch die Gäste sich auf beiden Seiten verteilen. Das Propagandistische der zeitgenössischen deutschen Diskussionskultur, vom Bundestag über die Zeitungen bis in die Fernsehformate, ist ein offenes Geheimnis. Hat doch mittlerweile der letzte verinnerlicht, daß Medien und Politik strukturell Betrugssysteme geworden sind. Daß alles noch so halbwegs funktioniert (oder tut es das nicht mehr), ist ein Wunder.

reiner
4 Jahre her
Antworten an  pantau

,,am deutschen wesen soll die welt genesen,, so stellt sich fast jede talkrunde vor.. gucke das schon lange nicht mehr mit politikern,die wählerwille nicht umsetzen und auf andere mit fingern zeigen.hätte nie gedacht,dass ich mal pfui zum eigenen land sagen muß..