Egon Flaig: „Wir erleben eine Kulturrevolution“

Der Althistoriker Egon Flaig erklärt im Interview, warum eine Entschädigung für die Sklaverei durch den Westen an afrikanische Staaten absurd wäre, weshalb er die Linke für reaktionär hält – und was das bedrohte Erbe der Aufklärung noch retten könnte.

Tichys Einblick: Herr Professor Flaig, in den USA und in Westeuropa werden Denkmäler beschmiert und sogar gestürzt, selbst eines der englischen Königin Viktoria, einer entschiedenen Gegnerin der Sklaverei. Das Schleifen von Denkmalen ist eigentlich eine Geste, wie man sie von Revolutionen kennt. Diese Bewegung hier wird allerdings von großen Teilen des medialpolitischen Establishments wohlwollend begleitet. Wie ordnen Sie als Historiker das ein, was hier gerade vor unseren Augen geschieht?

Egon Flaig: Wir sind Zeugen einer kulturellen Revolution. Diese wird getragen von ganz unterschiedlichen Strömungen. Es handelt sich überwiegend um folgende: Erstens die letzten Trümmer der ehemaligen Linken; diese vertreten heute allesamt ultrarechte Positionen, nämlich Sonderrechte für sogenannte Minderheiten ohne Rücksicht auf die Verfassung demokratischer Staaten, auf die Artikel 1 bis 4 der Menschenrechte und auf die rechtliche Gleichheit in demokratischen Republiken.

Zum anderen die sogenannten Opfergruppen, die unter dem Schlagwort der „Anerkennung“ verlangen, dass ihre Ansprüche in besonderem Maße beachtet werden und dass niemand das Recht hat, ihre Interpretation der Vergangenheit zu kritisieren. Damit hat die schlimmste Fake History in den öffentlichen Raum Einzug gehalten.

Zum Dritten hat die postkoloniale Ideologie an den Universitäten und in den Medien die moralische Hegemonie gewonnen; sie hat ein groteskes Bild von der europäischen Geschichte durchgesetzt, voller Fake History. Ihre Vertreter denunzieren jede Fachwissenschaft, die streng unterscheidet zwischen Gedächtnispolitik und wahrheitsorientierter Historie. Daher bekämpft die postkoloniale Ideologie jedwede fachdisziplinäre Methodik – und das zerstört die historischen Kulturwissenschaften an den Universitäten.

Viertens haben Gerichte und Behörden eine Politik der Antidiskriminierung mitgetragen, die maßgebliche Rechtsprinzipien über Bord wirft, um sogenannten Diskriminierten besondere Rechte gegenüber allen anderen Bürgern zu verschaffen und vor allem die Meinungsfreiheit entschieden einzuschränken. Mit der Preisgabe des menschenrechtlichen Universalis­mus, mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit, mit einer aus Fake History bestehenden Memorialpolitik und mit der schleichenden Aufweichung von verfassungsmäßigen Regeln ist eine Situation entstanden, in der die westlichen Republiken außerstande sind, ihre politische Substanz und ihre kardinalen Gedächtnisorte zu bewahren. Wir erleben den Sieg des radikalen antiwestlichen Theoretikers Frantz Fanon sowohl über Karl Marx als auch über John Stuart Mill.

Tichys Einblick: Was verstehen Sie unter „Fake History“?

Egon Flaig: Das entscheidende Buch, in dem sich diese neue Ideologie kondensierte, war „Die Verdammten dieser Erde“ von Frantz Fanon („Les damnés de la terre“, Paris 1961; Anm. d. Red.). Es war vielleicht das meistgelesene Buch meiner Generation. Es hat Jahrzehnt für Jahrzehnt seine Wirkung gesteigert. Fanon entwarf ein regelrechtes Programm zur Vernichtung der europäischen Kultur: Europa soll unerträgliche koloniale Verbrechen verübt haben, was niemals in der Geschichte zuvor geschehen sei; Europa müsse dafür haften. Denn der Reichtum Europas verdanke sich einzig der Ausbeutung der Kolonien. All dieser Reichtum müsse wieder zurücktransferiert werden; Europa soll also zahlen.

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Fanon unterschlug ganz einfach, dass alle Hochkulturen Kolonialismus übten und dies gar nicht vermeiden konnten. Er unterschlägt vor allem, dass gerade Afrika dem arabischen Kolonialismus zum Opfer fiel und die islamischen Sklavenimporte und Sklavenjagden den gesamten Kontinent in ein Sklavenreservoir transformierten. Davon ist keine Rede bei Fanon; und indem die Linke ihm folgt, wird sie nicht bloß politisch ultrarechts, sondern sie betreibt Fake History. Und das im Ausmaß der nationalsozialistischen Rassengeschichte.

Tichys Einblick: Sie haben den Scharia-Islam oft als die größte Bedrohung für den liberalen Westen bezeichnet. Die Szene der Denkmalstürzer und Weiße-Schuld-Prediger wird allerdings von westlichen Studenten und Akademikern dominiert. Ist die Autoaggression im Westen möglicherweise stärker als die Attacke des politischen Islam?

Egon Flaig: Die Autoaggression ist weitaus stärker, weil sie aus dem Inneren unserer Kultur kommt. Die „inneren Barbaren“ sind immer gefährlicher, weil sie keine feindliche Übernahme von außen betreiben, sondern antreten unter Bannern des radikalen Neubeginns.

»Diese Bildungslosigkeit ist genau die Tabula rasa,
auf der die Barbarei sich austoben kann,
ohne irgendwelche Gegenwehr«

Dieser radikale Neubeginn präsentiert sich, wie schon gesagt, als Ergebnis einer kulturellen Selbstkritik. Doch just das ist ein fundamental abendländisches Phänomen. Die Barbarei der Denkmalstürze und Umbenennungen ist auch deshalb so wirkungsvoll, weil sie sich als Kritik und als kulturelle Selbstkritik präsentiert. Und das gelingt, weil sich zu wenige getrauen, mit starker Überzeugung dagegen aufzutreten. Solche starken Überzeugungen erfordern ein historisches Bewusstsein, das uns schützen würde vor der Fake History. Doch eine europäische Memorialkultur existiert nur noch rudimentär und nur noch bei wenigen. Und diese Bildungslosigkeit – vor allem in der medialen und in der politischen Elite, zunehmend aber auch in der akademischen Elite – ist genau die Tabula rasa, auf der die Barbarei sich austoben kann, ohne irgendwelche Gegenwehr erwarten zu müssen.

Tichys Einblick: Die Vereinigung amerikanischer Bürgermeister hat gerade, unterstützt durch die Demokraten, eine finanzielle Entschädigung aller 41 Millionen US-Bürger mit afrikanischen Wurzeln gefordert. Ähnliche Debatten gibt es auch in Europa. Was spricht gegen eine solche Kompensationszahlung? Wäre sie nicht ein Weg zur gesellschaftlichen Befriedung?

Egon Flaig: Nehmen wir das Beispiel der afrikanischen Sklaverei. Beim Thema der Kompensation für „historisches Unrecht“ stellen sich sofort zwei Aporien ein:

Erstens – wer soll zahlen? Wenn man den Begriff des Unrechts handhabt, dann müssen jene mehr zahlen, die das größere Unrecht angerichtet haben. Bei der Sklaverei sind drei Vorgänge von unrechtmäßigem Charakter zu unterscheiden: zuerst das gewaltsame Sklavenmachen, dann der Sklavenhandel mit seinen Deportationen, dann die Sklavenhaltung mit ganz unterschiedlichem Gebrauch der radikal unfreien Menschen. Somit müssen am meisten die Versklaver zahlen, erst an zweiter Stelle die Sklavenhändler und die Sklavenhalter. Denn die Jagd auf Sklaven, die Kriege, um Menschen zu fangen, ihre Dörfer und Städte zu erobern und dabei eine erhebliche Quote der Besiegten zu töten, die Überlebenden als Sklaven abzutransportieren, das ist ein fürchterlich gewaltsamer und extrem grausamer Vorgang – ohne den es Sklavenhandel und Sklavenhaltung nicht hätte geben können.

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Nun wissen wir, dass in Afrika nur die Portugiesen den kurzfristigen Versuch machten, selber Menschen zu versklaven. Die Versklaver vom 6. bis zum 19.  Jahrhundert waren afrikanische, sehr kriegerische Ethnien und ab dem 10. Jahrhundert die moslemischen Emirate im Sahel-Gürtel. Demnach müssten vor allem Ethnien in Mali, im Tschad, im Sudan, aber auch in Ghana, Nordnigeria und Benin unvorstellbare Summen an die Nachfahren ihrer Opfer zahlen, und zwar weit mehr, als die sklavenimportierenden Zonen zu zahlen hätten, also vor allem der islamische Kulturraum nördlich der Sahara und die transatlantischen europäischen Ex-Kolonien. Doch diese Nachfahren sind großenteils ausgelöscht.

Damit kommen wir zur zweiten Aporie. Denn an wen soll diese Wiedergutmachung gehen? Angenommen, man wollte die heute existierenden Ethnien pauschal für das historische Unrecht der Sklaverei entschädigen, dann beginge man ein furchtbares Unrecht. Denn wer erhielte dann Entschädigung? Die jetzt existierenden Stämme sind Überlebende einer Situation grausamster Versklavungskriege, unterbrechungslos geführt von moslemischen Emiraten im Sahel oder von Versklaver-Ethnien vom 6. bis zum 19. Jahrhundert. Wir müssen wissen, dass Kriege zur Versklavung entweder sofort oder durch die Wiederkehr zum totalen Erlöschen der bejagten Stämme führten. Versklavungskriege sind tendenziell oder de facto Genozide.

Wir können nur ahnen, wie viele afrikanische Ethnien genozidär verschwanden; aber sehr wahrscheinlich haben die Versklaverstämme Hunderte von Ethnien im Laufe von 13 Jahrhunderten ausgerottet. Aber gerade die Versklaver haben als historische Sieger überlebt. Wenn man den heute noch existierenden Ethnien in Afrika Kompensationen für vergangenes Unrecht zahlte, dann müssten just die Nachkommen der Versklaver den Löwenanteil der Wiedergutmachung erhalten. Damit würden die historischen Opfer ein zweites Mal gedemütigt und vernichtet.

»Wenn wir das Wiedergutmachen ernsthaft betrieben,
dann gerieten wir in einen unendlichen Regress bis Adam und Eva«

Zu diesen Aporien gesellt sich eine dritte, die jedem Historiker bekannt ist, der mit sogenannten Opfergruppen zu tun hat. Wir können das Konzept des „Nachfahren“ nicht naiv anwenden; wir müssen es dekonstruieren. Der Grund ist schlicht: Wenn wir uns als „Nachfahr von …“ begreifen, dann wählen wir unter unseren Tausenden von Vorfahren einige wenige aus. Es ist immer Willkür im Spiel, wenn man sich als „Nachfahr von …“ definiert, und immer eine Selektion.

Jene Afroamerikaner, die sich als „Nachfahren von Sklaven“ definieren und meinen, damit seien sie eine Opfergruppe, täuschen sich darüber hinweg, dass ihre Vorfahren in den USA maximal über sieben Generationen Sklaven waren, meistens über fünf Generationen, dass sie aber seit 1865 in der fünften Generation Nachfahren von freien Menschen sind. Ferner vergessen sie, dass sie vor dem 18.  Jahrhundert Vorfahren in Afrika hatten, die nicht nur zu den besiegten und versklavten Stämmen gehörten, sondern auch zu siegenden und versklavenden Ethnien. Es ist absolut unklar, wie viele von den knapp 300.000 in die späteren USA verkauften Sklaven zunächst selber Sklavenjäger oder deren Nachfahren waren.

Wenn diese Menschen heute nach Kompensation für damals rufen, dann sind sie umgekehrt auch in der Pflicht, für die Verbrechen ihrer Vorfahren Kompensation zu leisten. Darüber spricht man nicht, weil sich andernfalls das Konzept der „historischen Gerechtigkeit“ als absurdes Quatschwort enthüllen würde. Mit dem dekonstruierten Konzept des „Nachfahren“ entfällt auch a priori das Konzept der „historischen Gerechtigkeit“.

Die fünfte Aporie ist die nächstliegende: Wenn wir das Wiedergutmachen ernsthaft betrieben, dann gerieten wir in einen unendlichen Regress bis Adam und Eva. Der Bonner Historiker Michael Zeuske schätzt, dass Sklaverei schon mindestens seit fünf Jahrtausenden existiert. Wer soll für all dieses historische Unrecht einstehen, haften und es finanziell kompensieren? Es wäre eine Schuldknechtschaft bis ans Ende der Zeiten. Der Begriff der Gerechtigkeit lässt sich nur mit Mühe länger als eine Generation in die Vergangenheit ausdehnen. Dehnt man seine Geltung weiter aus, dann gerät man in Aporien, die weder philosophisch noch juristisch zu lösen sind. Denn woher wollen wir wissen, wer Opfer war vor 2000 Jahren und wer nicht? Wir müssten den selbst gebastelten Legenden von Ethnien und Kulturen glauben, als seien es rechtsfähige Dokumente.

Tichys Einblick: Aber das historische Unrecht gab es doch – global, aber eben auch durch Europäer.

Egon Flaig: Dass es historisches Unrecht gab, ist nicht zu leugnen. Eine ganz andere Sache ist das Schlagwort „historische Gerechtigkeit“ – ein konzeptioneller Auswuchs der oben genannten Schuldpflege. Ohne die Wirksamkeit dieses Schlagworts ist nicht zu verstehen, was wir nun erleben. Dabei ist es ein reines Unsinnswort, ohne logische Konsistenz. Nehmen wir das Beispiel der Sklaverei: Diese existierte in sämtlichen Hochkulturen des Globus; und sie galt jahrtausendelang als eine legitime soziale Institution. Erst durch die abolitionistischen Bewegungen in der europäischen Kultur wurde sie überhaupt zu einem Unrecht und damit zu einem Verbrechen.

»Die Vergangenheit untersteht nicht den Menschenrechten;
die Vergangenheit hat das Recht, an ihren eigenen Maßstäben gemessen
und aus ihrer eigenen kulturellen Semantik verstanden zu werden.«

Wenn wir nun unsere menschenrechtlichen Maßstäbe anlegen, um die Kulturen vergangener Epochen schuldig zu sprechen, weil sie Sklaverei pflegten, dann begehen wir einen krassen Regelverstoß, der nicht nur ein wissenschaftlicher ist, sondern auch ein moralischer. Denn die Vergangenheit untersteht nicht den Menschenrechten; die Vergangenheit hat das Recht, an ihren eigenen Maßstäben gemessen und aus ihrer eigenen kulturellen Semantik verstanden zu werden. Obendrein begehen wir einen schweren moralischen Fehler. Denn wir behandeln sämtliche Epochen und sämtliche Kulturen vor der Abschaffung der Sklaverei als verbrecherische Gebilde; so machen wir alle diese Menschen zu Kriminellen, für die man bloß Abscheu empfinden kann. Damit verabschieden wir uns vom Begriff einer einheitlichen Menschheit und versetzen jene Menschen der Vergangenheit in eine radikale Alterität, mit der wir nichts zu tun haben.

Tichys Einblick: Andererseits ist Europa durch die ständige Selbstbefragung ja auch ein Gebiet geworden, in dem Verfassungen und Bürgerrechte gelten. Wir müssen diesen früheren Kritikern der eigenen Kultur doch dankbar sein, oder?

Egon Flaig: Darin liegt ja gerade die Paradoxie dessen, was wir erleben. Dieses hassvolle Abräumen vergangener Epochen ist ja nur möglich, weil wir Maßstäbe anlegen, die wir nicht hätten, wenn die vergangenen Epochen sie nicht historisch geschaffen hätten, nämlich als Erbe für uns.

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Wenn wir die Menschenrechte gebrauchen, um vergangene Epochen zu verdammen, dann vergessen wir, dass diese Menschenrechte ein Erzeugnis der europäischen Kultur sind, entstanden im langwierigen jahrhundertelangen Kampf gegen die Sklaverei.

Wir verdanken just diesen Generationen, die wir anprangern, dass wir so sein dürfen, wie wir sind, dass wir so denken können, wie wir denken. Wenn wir jetzt die ererbten menschenrecht­lichen Maßstäbe gegen unsere Vorgänger kehren, um sie zu verdammen, dann eliminieren wir die Geschichte selbst. Wenn wir das tun, dann negieren wir, dass wir kulturgeprägte Menschen sind, und erklären uns stattdessen zu göttlichen Wesen, die ex nihilo auf die Welt gekommen sind, um sie neu zu schaffen.

Tichys Einblick: Sie weisen darauf hin, dass außereuropäische Kulturen nach der Betrachtung der historischen Fakten viel stärker zu Kompensationen verpflichtet wären als die Europäer. Wieso nimmt dann die jetzt so laute postkoloniale Ideologie nur Europa und die Vereinigten Staaten in Haftung?

Egon Flaig: Das ist zum großen Teil eine Konsequenz der Umorientierung der Linken nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Linke war enttäuscht, dass das Proletariat in den kapitalistischen Metropolen seine revolutionäre Aufgabe nicht erfüllte. Sie fand ihr neues revolutionäres Subjekt in der sogenannten Dritten Welt und partiell in den marginalisierten Gruppen in den Metropolen. Diese Umorientierung der Linken hatte furchtbare Folgen für die Struktur des linken Denkens.

Tichys Einblick: Weshalb?

Egon Flaig: Nach ihrer neuen Logik musste die Linke nun die mörderischsten, reaktionärsten und menschenrechtsfeindlichsten Strömungen in den Kolonien oder postkolonialen Ländern hochjubeln, wenn diese bloß „antiimperialistisch“ waren. Und das hieß, den revolutionären Universalismus der alten Linken allmählich zu liquidieren. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ verloren ihren Sinn, wenn man gleichzeitig die reaktionärsten Sozialformen verteidigen musste, bloß weil diese  – beispielsweise die Polygamie oder die religiöse Apartheid  – „authentisch“ waren und noch nicht von der westlichen Kultur angekränkelt, daher als Bastionen des „Widerstands“ fungierten.

Logischerweise wurde nun die europäische Kultur nicht mehr zum Vorbild, das nach Auffassung der alten Sozialdemokratie und auch der Kommunistischen Internationale eingeholt und überholt werden müsse, sondern zum absoluten Feind, zum Bösen. Und das hatte kulturelle Konsequenzen, die wir heute – nach zwei Generationen – massiv zu spüren bekommen.

Tichys Einblick: Bleiben wir noch beim Thema Sklaverei: Schätzungen zufolge leben weltweit 40 Millionen Menschen immer noch unter diesen Bedingungen. Wo existiert diese moderne Sklaverei? Und warum hören wir so wenig davon?

Egon Flaig: Sie übernehmen die Zahl aus dem Global Slavery Index 2018. Der dort verwendete Begriff „Sklaverei“ ist falsch, weil er zu vieles vermengt. Er addiert einfach unterschiedlichste Formen von Unfreiheit; und er erfasst vor allem die staatlich organisierte Unfreiheit, teilweise neue Lagersysteme.

Tichys Einblick: Welche Unterscheidung sollte man Ihrer Ansicht nach stattdessen vornehmen?

Egon Flaig: Der Artikel 4 der Menschenrechte unterscheidet zwischen „Sklaverei“ und „sklavereiähnlichen Verhältnissen“. Zu Recht. Es gibt eine breite Skala von Unfreiheit; auf dieser Skala finden wir vielfältige soziologische Typen von persönlicher Unfreiheit. Andere, von der Sklaverei zu unterscheidenden Formen sind etwa Schuldknechtschaft, eventuell über mehrere Generationen – sie existiert in mehreren Regionen Südostasiens, des Vorderen Orients und vor allem in Indien.

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Dann Zwangsarbeit, gedeckt durch Pseudoverträge – es gibt sie in einigen arabischen Ländern, sie hat in Brasilien in großem Umfang existiert, scheint indes unter der Regierung Lula verschwunden zu sein. Drittens die Lagersysteme der Diktaturen, die beispielsweise in Nordkorea fortbestehen. Außerdem unterschiedliche Formen von Leibeigenschaft – sie existieren in einigen Ländern Südostasiens, in Indien und im Vorderen Orient. Zudem die Praxis des Kinderverkaufs, wahrscheinlich seit Jahrtausenden fortdauernd, vor allem in Südostasien – sie erzeugt unablässig sklavenähnliche Verhältnisse, die sehr schwer zu kontrollieren und noch schwerer zu bekämpfen sind. Wollten Sie das tun, müssten Sie ganze Regionen von Thailand oder Birma – oder auch von Nordafrika – unter internationale Kontrolle stellen.

Eine fest institutionalisierte, aber relativ milde Form von Unfreiheit ist die Zwangsheirat. Sie betrifft wahrscheinlich mehrere Hunderttausend muslimische Frauen in Deutschland. Denn in einer Ehe wider Willen leben zu müssen ist zweifelsfrei eine lebenslängliche Unfreiheit. Eine brutale Form von Unfreiheit ist die Zwangsprostitution – sie nimmt wieder zu, auch in Westeuropa. Eigentliche Sklaverei existiert in Mauretanien, im Jemen und wahrscheinlich im Sudan – dort können Menschen vor aller Augen verkauft werden wie Sachen; diese Unfreiheit ist also legitim und institutionalisiert, die Behörden intervenieren nicht.

Tichys Einblick: Ist Ihre Unterscheidung nicht zu scharf? Lässt sich die Sklaverei von den anderen Formen der Unfreiheit wirklich so säuberlich trennen?

Egon Flaig: Die Abschaffung der Sklaverei vollzog sich auf dem Globus innerhalb von etwa 150 Jahren. Diese Abolition hat sich immens ausgewirkt auf den Zusammenhang der verschiedenen Kulturen auf unserem Planeten. Denn weil die Sklaverei illegalisiert wurde, gerieten sämtliche andere Formen von Unfreiheit unter sehr großen Druck. Erst wenn man die diversen Formen von Unfreiheit in der Geschichte der vergangenen 3000 Jahre berücksichtigt, wird überhaupt erkennbar, was für ein ungeheurer Einschnitt im 19. Jahrhundert global erfolgte. Die Abolition war ein „Kulturbruch“, ich würde sagen: der Kulturbruch schlechthin.

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Sie selbst liefern den Beweis: Wenn heute noch 40 Millionen Menschen in Unfreiheit sind, dann befindet sich etwa ein halbes Prozent der Menschheit in Unfreiheit, die weit überwiegend sogar illegal ist. Das ist ein enormer Fortschritt gegenüber früheren Epochen. Sogar unsere Empörung über Zwangsprostitution, Schuldknechtschaft, Kinderverkauf ist ein historisches Produkt. Denn all das sind soziale Praktiken, für die sich immer Rechtfertigungen finden lassen – nämlich aus „kultureller Besonderheit“. Unsere Empörung darüber ist kulturell bedingt und historisch erworben.

Tichys Einblick: Bleibt die Frage, warum wir so wenig von der heutigen Sklaverei hören.

Egon Flaig: Es ist nicht so, dass darüber wenig berichtet würde. Aber es ist ein heikles Thema, weil die Durchsetzung des Artikels 4 nach internationalem Recht ius cogens ist, also per Intervention mit UN-Mandat durchgesetzt werden muss; intervenieren reicht nicht, man muss dann ganze Regionen unter UN-Protektorat stellen. Genau auf diese Weise begann die britische Kolonialherrschaft in Afrika. Wollen wir das wirklich?

Tichys Einblick: In Ihrem Buch („Weltgeschichte der Sklaverei“ – Anm. d. R.) gehen Sie auch darauf ein, dass westliche Truppen Interventionskriege gegen Sklaverei und Sklavenhandel in der muslimischen Welt führten. Wie konnten diese Interventionen aus dem kollektiven Gedächtnis des Westens verschwinden?

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Egon Flaig: Ein wichtiger Punkt. Die Emirate von Tripolis, Tunis und Algier schickten unentwegt Schiffe aus, um Christen zu versklaven. Davis schätzt die Zahl auf 1,25 Millionen. Europäische Mächte (Holland, England, Frankreich, Dänemark, Österreich) schickten zwischen 1600 und 1820 etwa 30-mal Kriegsschiffe, welche die Häfen der Versklaver bombardierten und die Schiffe versenkten. Es half nichts. Obwohl die islamischen Städte in Ruinen fielen, hörten die Emirate nicht auf mit dem Dschihad zur See. Zeitweise zahlten die USA ein Fünftel ihres Bundeshaushalts als Tribut an die Barbaresken, damit diese die amerikanischen Handelsschiffe nicht kaperten. Präsident Jefferson hörte auf zu zahlen und schickte Kriegsschiffe. Erst als die Franzosen Algier eroberten, war dieser Albtraum zu Ende. Die Kolonisierung des arabischen Nordafrikas ist eine direkte Antwort auf die mehr als 300 Jahre währenden Kriegszüge der Barbaresken gegen die Küsten Spaniens, Südfrankreichs, Italiens. Es wird nicht mehr thematisiert, weil die islamischen Versklavungsrazzien ab 1840 zu einer folkloristischen Veranstaltung verharmlost wurden, etwa in Opern.

Tichys Einblick: Auch das Cervantes-Denkmal wurde beschmiert. Der Autor von „Don Quijote“ war selbst versklavt worden und kam erst nach langer Gefangenschaft frei. Ist es jetzt Zeit, auch über diesen Teil der Geschichte zu sprechen?

Egon Flaig: Dazu war immer Zeit. Denn es gehört zum Nachdenken über die Genese des französischen Kolonialismus. Man versteht den Beginn des Ausgriffs der Franzosen in Nordafrika nicht, wenn man nicht weiß, dass er aus der Gegenwehr der Europäer resultierte, die ein für alle Mal mit der muslimischen Piraterie und den Versklavungen Schluss machen wollten. Wüsste Macron darüber Bescheid, dann hätte er sich nicht für den Kolonialismus entschuldigt.

Tichys Einblick: Es fällt auf, dass es eine auch nur ähnliche kulturelle Autoaggression in Asien nicht gibt. Was bedeutet das auf lange Sicht für die Konkurrenz zwischen Asien und dem Westen?

Egon Flaig: In der ökonomischen Konkurrenz wird Ostasien ohnehin der Sieger bleiben. Das liegt daran, dass die ostasiatischen Kulturen überhaupt nicht theokratieanfällig sind, mühelos die westlichen Wissenschaften übernehmen und sie weiterführen können. Da ihre Kultur dem Leistungsprinzip stärker verpflichtet ist als die westliche, sind Ostasiaten generell leistungswilliger, und das schafft automatisch Unterschiede in der Arbeitsproduktivität. Außerdem sind ihre Gesellschaften kulturell homogener; sie haben also eine höhere Normkonformität, ergo weniger soziale Reibungsverluste und in ihren Bildungssystemen eine weitaus größere Lernhomogenität. Dazu kommt, dass Ostasien kulturell nicht unser Feind ist. Beethoven, Bach und Monteverdi werden in Tokio und Shanghai noch gespielt werden, selbst wenn es in Europa keine Konzerthäuser mehr geben sollte. Es ist wahrscheinlich, dass große Bestandteile der westlichen Kultur in Ostasien überleben werden.

Kulturen, die ihre historischen Haltepunkte auf den Müll werfen, landen selber auf der Halde abgelebter Ordnungen. Denn sie sind nicht mehr in der Lage, ihre Werte zu verteidigen; folglich lösen sie sich auf. Die Kernfrage ist, ob die staatliche Form sozialen Zusammenlebens gerettet werden kann.

Tichys Einblick: Wie lässt sich dieses Zusammenleben noch verteidigen?

Egon Flaig: Der Historiker David Engels empfiehlt, dass sich intellektuelle Kreise zusammenschließen, deren existenzielles Anliegen es ist, die Substanz der abendländischen Kultur in tradierfähiger Form zu bewahren, damit irgendwann in der Zukunft diese wundervolle Kultur eine Renaissance erleben kann.


Mehr von Egon Flaig: Was nottut. Plädoyer für einen aufgeklärten Konservatismus. Manuscriptum, 176 Seiten, 19,90 €.

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Kommentare ( 57 )

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Jonas J
3 Jahre her

Großartiger Artikel. Fundierte Argumente, multiperspektivische Sichtweise und kritische Fragen von Seiten des Interviewers. Gerne mehr davon! Von mir auch von Linken.

Jonas J
3 Jahre her

Großartiger Artikel. Fundierte Argumente, multiperspeketivische Sichtweise

Lore Kokos
3 Jahre her

Geschichte gibt es schon länger … Ich schlage vor Italien als Rechtsnachfolger des Römischen Reiches einzustufen und dann Reparationszahlungen für alle Kriegsfolgen und jedes erlittene Unrecht zu fordern. Frankreich für Gallia, Deutschland für Germania, das UK für Britannia und und und … Ich persönlich würde mir eine kleine Wohnung in Florenz, lebenslanges Bleiberecht, finanzielle Vollversorgung, kostenlose Gesundheitsversorgung und eine kleine Rente als Kompensation für das Unrecht vorstellen, das meinen Vorfahren widerfahren ist. Sprachkurse und weitere Integrationshilfen nähme ich natürlich ebenfalls gerne in Anspruch. Als einzige Arbeit könnte ich mir die Hilfe beim Abriss des Kolosseums und des Petersdoms vorstellen. Beide… Mehr

Menkfiedle
3 Jahre her

Zur „Logik“ der Denkmalstürmer eine Ergänzung:
Wer heutige Maßstäbe für die Protagonisten der Vergangenheit anlegt, und über diese richtet, müsste sich selbst richten, denn er (sie) ist schuldig nach den Maßstäben der Zukunft.
Er (sie) müsste sich im Staub wälzen vor Schuld, die ihm (ihr) in der Zukunft angelastet wird.
Aber stattdessen werden Denkmäler geschliffen.
Weil der Intellekt dieser Leute so weit nicht reicht.

Jrgen D.
3 Jahre her

Die linksgrünen haben keine Fakten sondern nur emotionale Kleinkinderargumente, es ist an der Zeit, dass jeder dem die europäische Kultur am Herzen liegt, deren Spinnerei nicht achtlos beiseite schiebt, sondern offensiv mit Argumenten bekämpft, Nur mit Mut kann es eine Zukunft geben,

Boris G
3 Jahre her

Ja, im Dienste der links-grünen Umerziehung werden die historischen Fakten gewaltig verbogen. „Denn der Reichtum Europas verdanke sich einzig der Ausbeutung der Kolonien.“ Dazu hat Bruce Gilley einen sehr lesenswerten Aufsatz geschrieben, für dessen Publikation er und der Herausgeber des „Third World Quarterly“ mit dem Tode bedroht worden sind: http://www.web.pdx.edu/~gilleyb/2_The%20case%20for%20colonialism_at2Oct2017.pdf Dabei sprechen die nackten Zahlen Bände. Das Deutsche Kaiserreich wickelte in seinem Außenhandel nie mehr als einen kleinen einstelligen Prozentanteil mit seinen Kolonien ab und dort lebten zu keinem Zeitpunkt mehr als eine niedrige fünfstellige Zahl weißer Kolonisten. Wie kann ein so marginales Geschehen das unerhörte Wirtschaftswachstum des Deutschen Reiches… Mehr

a.bayer
3 Jahre her

Professor Flaigs Ausführungen sind eine herbe Enttäuschung für alle, denen das schlechte Gewissen zu einem liebgeworden Ratgeber geworden ist.

imapact
3 Jahre her

Wieder einer der Texte, die es verdient hätten, daß man sie im ganzen Land verteilt und wieder einer der Texte, die man so wahrscheinlich nur noch auf Tichy und ein paar anderen verbliebenen Inseln des freien Geistes im Meer autoritärer Bevormundung findet.

Und wahrscheinlich hätte Prof. Flaig es kaum gewagt, diesen Text zu veröffentlichen, wenn er noch im aktiven Universitätsdienst gestanden hätte. Bei öffentlichen Vorträgen muß er wohl auch mit dem Besuch der Antifa rechnen… soweit die Verhältnisse in diesem Land.

Johannes Fritz
3 Jahre her

Historische Bildung tut tatsächlich Not, nehme mich da selbst nicht aus, obwohl wahrscheinlich nicht gerade unterdurchschnittlich bewandert. Sonst kommen eben völlig groteske Resultate heraus. Da sich an der o.g. Tatsache aber absehbar nichts ändert, muss man vermutlich damit leben, dass eine massive Anfälligkeit für an sich leicht durchschaubare Volksverführer wie BLM eben immer bleibt und wohlmeinende Menschen zynisch vor den jeweiligen Karren gespannt werden können, weil sie eben gerner bedröhnt RTL 2 anschauen, als sich mit so Sachen wie Geschichte zu befassen. Oder gar ein Buch zu lesen.

EinBuerger
3 Jahre her

Die Anti-Sklavenhandel-Bewegung war in England im 19. Jahrhundert sehr stark (später auch in den Nordstaaten der USA). Es war praktisch deren FFF- oder BLM-Bewegung. Meist von hochmoralischen christlichen evangelikalen Kirchen getragen. Und England setzte „seine“ Überzeugung weltweit durch, weil es mit Abstand die größte maritime Macht der damaligen Zeit war. Auch der Kolonialismus in Afrika (der heute ja als böse gilt) hatte darin zum Teil seine Wurzel. Livingstone z.B. zog durch halb Afrika auch um auf den arabischen Sklavenhandel aufmerksam zu machen und ihn dadurch zu unterbinden. Heute können FFF und BLM nur noch dem Westen auf den Geist gehen,… Mehr