Berlin könnte das zweite Bundesland mit grünem Regierungschef werden

In Berlin steht ein Machtwechsel bevor. Geht es nach den Umfragen, regiert demnächst die Grüne Bettina Jarasch die Stadt von Willy Brandt. Die SPD schwächelt vor allem an den Rändern.

IMAGO/Stefan Zeitz

Die Wilmersdorfer Witwen verteidigen Berlin. „Sonst wär’n wir schon längst, russisch, chaotisch und grün.“ So singt das Grips-Theater in seinem Erfolgsmusical „Linie 1“. Der Text stammt aus den 80er Jahren, die Gemeine Wilmersdorfer Witwe ist längst tot – und Berlin chaotisch. Grün wird es vermutlich auch recht bald. Denn die Nachwahl bringt wahrscheinlich Bettina Jarasch ins Amt der Regierenden Bürgermeisterin. Damit wäre dann Berlin nach Baden-Württemberg das zweite Bundesland, das mit grüner Richtlinienkompetenz regiert wird.

Berliner Wahlkampf
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Die CDU liegt in den Umfragen zwar vorne. Da es demoskopisch gesehen einen Rückenwind aus der Bundespolitik gibt, könnte die Partei Eberhard Diepgens sogar stärkste Kraft in Berlin werden. Doch die rot-rot-grüne Mehrheit steht. Nur muss es halt bald grün-rot-rote Mehrheit heißen. Denn in den Umfragen haben die Grünen mit zwei bis vier Prozentpunkten die Nase vor der SPD.

Jarasch setzt auf Führungsstärke als Mittel im Wahlkampf. Sie hatte einen Teil der Friedrichstraße zur autofreien Zone erklärt. Zum Unmut der SPD. Dann stoppte ein Gericht das Projekt. Doch mitten im Wahlkampf hat sich die „Mobilitätssenatorin“ über das Urteil hinweggesetzt und die Fußgängerzone in der Friedrichstraße wieder eingeführt. Das sorgt zwar für Unmut bei den Menschen, die Rot-Rot-Grün nicht wählen – stärkt aber Jarasch im eigenen Lager. Und wie sie bei diesem Schritt über die (noch) Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey hinweggegangen ist, war ein klares Zeichen des Machtanspruchs.

Die Sozialdemokraten leiden an einem Paradoxon: Franziska Giffey hat versucht, sich bürgerlich zu geben – zumindest für sozialdemokratische Verhältnisse. Nur hat sie das halt nicht wirklich überzeugend getan. Spätestens mit der Silvesternacht hat sich gezeigt, dass Berlin kein Pflaster für Menschen ist, die in Ruhe, Recht und Ordnung leben wollen: Unsichere Bahnhöfe. Straßen, die unter der Dauerblockade von staatlich geduldeten Extremisten stehen. Eine Verkehrspolitik, die sich gegen Pendler richtet. Oder Behörden, die keine Termine für Anmeldungen vergeben – die aber Mahnungen verschicken, wenn die Anmeldungen nicht pünktlich erfolgen. Schon allein, dass die Wahl wiederholt werden muss, zeigt, wie wenig die Berliner Verwaltung unter rot-rot-grüner Führung zu eigentlich Selbstverständlichem in der Lage ist.

Doch, wie es aussieht, wollen die Berliner genauso regiert werden. Zumindest in der Innenstadt, wo eine Klientel wohnt, die vom Staat lebt, ihn aber verbal ablehnt. In diesem Umfeld der Doppelmoral fühlen sich die Grünen zuhause und holen selbst dann oder gerade dann ihre besten Ergebnisse, wenn die Stadt dysfunktional ist. In Friedrichshain-Kreuzberg 2 erreichten die Grünen vor anderthalb Jahren 37,3 Prozent. Die CDU scheint dieses Umfeld aufgegeben zu haben. Zumindest lässt ihre Präsenz beziehungsweise ihre Abwesenheit in den innenstädtischen Vierteln darauf schließen.

Besser sieht es für die CDU an den Rändern der Stadt aus. Die Faustregel lautet: Je kleiner die Häuser, desto größer die Chancen der Christdemokraten. Das gilt traditionell für den Südwesten der Stadt. Auch ohne Wilmersdorfer Witwen. In Dahlem, Wannsee, Zehlendorf oder Nikolassee leben die Menschen, für die Familie, Eigenheim und Arbeitsplatz kein gesellschaftliches Modell sind, das es zu überwinden gilt.

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Was auffällt ist, wie stark die CDU im Südosten der Stadt trommelt. Wo aus historischen Gründen die Linken und die Sozialdemokraten stark sind, aber in denen aber auch eher strukturkonservativ als revolutionär gedacht wird. In Treptow-Köpenick 3 war vor anderthalb Jahren noch die SPD die stärkste Partei. Das ist einer der Wahlbezirke, in denen die Sozialdemokraten dieses mal die Stimmen verlieren könnten, die der CDU dann dazu verhelfen, stärkste Partei zu werden – und den Grünen dazu, die Regierende Bürgermeisterin zu stellen.

Eine Koalition, die das alte Erfolglos-Bündnis aus Rot-Grün-Rot sprengt, ist nicht in Sicht. Die Grünen haben bereits eine Zusammenarbeit mit der CDU ausgeschlossen. Das dürfte vor allem am Spitzenkandidaten liegen. Kai Wegner ist eher ein Kandidat der Ost-CDU, als der von Muttis Mitläufern. Mario Czaja, Generalsekretär der CDU und grüner Weichspülbeauftragter von Friedrich Merz, unterstellte Wegner bereits einen „riskanten Rechtskurs“. Der Unternehmensberater macht einen Wahlkampf, in dem er diesen Markenkern geschickt aufgreift und mit populären Botschaften versieht wie: „Spricht Berlinerisch. Und fließend Klartext.“ Damit nimmt Wegner in Kauf, dass ihn die Friedrichshainer B3-Boheme verachtet – solange ihn die Steglitzer Handwerkerin und der Karlshorster Unternehmer wählen.

Die Panik der Sozialdemokraten lässt sich daran ablesen, dass sie schon mehrere Botschaften versucht haben: Das 29-Euro-Ticket für alle etwa. Oder das Soziale, von dem die SPD stets kurz vor Wahlen entdeckt, dass es mal ihr Markenkern war – als Erinnerung, wenigstens für die Älteren unter den Wählern. Aktuell setzen die Sozialdemokraten auf die – vermeintliche – Popularität Giffeys und plakatieren sie großformatig mit dem Hinweis, dass sie die „Regierende“ sei. Wobei Giffey für die SPD in zwei Wochen in der Willy-Brandt-Stadt auch das Regierende darstellen könnte.

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Kommentare ( 50 )

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Felix Haller
1 Jahr her

Tja, liebe Mannschaft von Tichys Einblick, hättet ihr mal lieber nicht die vielen Pannen, Ungereimtheiten, Fehler und Manipulationen bei der letzten Berlinwahl aufgedeckt und wärt ihr besser nicht mit euren Aufdeckungen vor ein Gericht gelaufen. Jetzt bekommt ihr die Quittung für euren Übermut. Die Berliner Wähler werden – so sagen es die Wahlumfragen voraus – nicht nur Rot-Dunkelrot-Grün bestätigen, sondern sie werden möglicherweise noch einen draufsetzen. Sie werden eventuell die Grünen zur stärksten Fraktion machen, was zur Folge hat, daß dann Berlin von einer grünen Bürgermeisterin regiert wird. Bravo! Live aus Buxtetown am Esteriver – 31.1.23 – 10:45 Uhr local… Mehr

Andy Arbeit
1 Jahr her

Ich bin vor 22 Jahren aus Berlin weg und nach München gezogen und bereue diesen Schritt nicht eine Sekunde. Berlin ist eine einzige Shithole-Stadt. Und wenn die Zahl der leistungslosen Einkommensbezieher stetig ansteigt, so werden diese Menschen natürlich immer die Parteien wählen, die ihnen weiter ein leistungsloses Einkommen versprechen. So wird das nie was mit Berlin. Einer der beiden Hebel, die ich sehe ist die Streichung der Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich und die Verknüpfung des Wahlrechts mit der Zahlung von Steuern und Sozialabgaben.

Werner Holt
1 Jahr her

Sollten sich diese Umfragen bewahrheiten, wäre das Schicksal Berlins als failed state ebenso verdient wie selbstgewählt:

„Die CDU liegt in den Umfragen zwar vorne. Da es demoskopisch gesehen einen Rückenwind aus der Bundespolitik gibt, könnte die Partei Eberhard Diepgens sogar stärkste Kraft in Berlin werden. Doch die rot-rot-grüne Mehrheit steht. Nur muss es halt bald grün-rot-rote Mehrheit heißen. Denn in den Umfragen haben die Grünen mit zwei bis vier Prozentpunkten die Nase vor der SPD.“

Yani
1 Jahr her

Man merkt den Einfluss der zugezogenen Wessis, vor allem der aus Südwestdeutschland. Da ist es nur konsequent, dass eine provinzielle Augsburgerin neue Ober-Bürgermeisterin wird. Wir richtigen Berliner sind in der eigenen Stadt in der Minderheit und durch den westdeutschen Klüngel und Herkunftsdünkel an den Rand gedrängt.

Niklas
1 Jahr her

Demokratie bedeutet eben auch, dass jedes Volk die Regierung bekommt, die es verdient. Ich bin außerordentlich froh darüber, dass Berlin in Deutschland die Rolle des Lumpensammlers übernimmt. Jeden Spinner, jeden Nassauer, jeden Kostgänger, jeden Lump, den ganzen Abschaum und den ganzen Pöbel zieht es nach Berlin. Hier sind sie unter Ihresgleichen, hier haben sie ihren Spielplatz und können sich austoben. Anstatt einen schönen Garten voller Häufchen haben wir eine zentrale Sickergrube, die zum Glück weit, weit weg von meiner Stadt ist und fertig. Danke Berlin!! Mögest Du dich niemals ändern!

santacroce
1 Jahr her

Es ist doch eigentlich egal, wer Kalkutta an der Spree endgültig vor die Wand fährt. RotGrün oder GrünRot, was macht da den Unterschied?
Schade nur, dass andere Bundesländer über den LFA den selbstgewählten Untergang noch weiter hinausschieben helfen.

Monika
1 Jahr her

Warten wir mal ab. Wenn die SPD nur noch als kleiner Koalitionspartner ohne Regierungschef tätig sein darf, dann muß sie das ja nicht zwingend unter einer grünen Person tun. Die kümmert sich ja jetzt schon nicht drum, was die SPD und ihre Wähler wollen. Wenn die SPD die auf den Bürgermeisterposten setzt, kann sie die nächste Wahl vergessen. Unter einem CDU-Bürgermeister könnte sie für sozialen Ausgleich sorgen (oder zumindest so tun) und damit ihr Profil schärfen. Mal sehen, ob man sich diese Chance entgehen lassen wird.

DiasporaDeutscher
1 Jahr her

Und was genau wäre mit der CDU besser? Wer hat denn Millionen Sozialfälle bis hin zu Gewaltverbrechern und Terroristen nach ?? geholt? Wer hat denn die Atomkraftwerke stillgelegt? Wer hat denn die Mehrwertsteuer um satte 3 Prozentpunkte erhöht, um das alles zu bezahlen? Wer hat denn die GEZ-Steuer selbst für Haushalte ohne ? eingeführt? Und wer fordert immer mehr Polizei, um dem selbst geschaffenen Chaos noch halbwegs Herr zu werden? Nein, nein, mit der CDU wäre genau nix besser als mit den Parteien des offen linken Blocks. Im Gegenteil ist mir persönlich der Wolf im Wolfspelz noch lieber als der… Mehr

Or
1 Jahr her
Antworten an  DiasporaDeutscher

Es fällt mir schwer, aber Sie haben Recht.
Unter Frau Merkel aus der Uckermark hat sich die CDU langsam zum Totalausfall entwickelt.

jwe
1 Jahr her

Grüne als stärkste Macht in Berlin finde ich wunderbar. Dann können sie dem Bürger ihre Ideen mal richtig zeigen. Was sich dann nach einem Jahr in Berlin abspielt, könnte ein Spiegelbild für Deutschland werden, wenn die Grünen auch im Bund noch stärker an den Drücker kommen.
Überall, wo die Grünen „dran“ kommen, sind sie vom Wähler gewählt. Also alles o.k..Bei der Niedersachsen-Wahl hatten gerade wohlbetuchte Wähler die Meinung, die GRünen hätten für alles die besten Rezepte.

Helmut Kogelberger
1 Jahr her

„Unsere guten Berliner sind Truthähne ohne Geschmack und Herz“ (Friedrich II. der Große)