Vermutlich jeder zweite Deutsche liest frisierte Nachrichten über den Erfolg der Grünen

Großer Jubel in den Medien, dass sich die Deutschen einen grünen Kanzlerkandidaten wünschen. Schaut man sich die Umfragen genauer an, stellt man fest: Pillepalle. Trotz Talkshow-Inflation ist Medienstar Robert Habeck bei fast der Hälfte der Wähler völlig unbekannt.

imago images / nordpool

Wünscht jeder zweite Deutsche für die nächste Bundestagswahl einen grünen Kanzlerkandidaten? Das jedenfalls hatte die Nachrichtenagentur dpa am 7. Juni unter Berufung einer Umfrage des Instituts YouGov berichtet, die exklusiv in ihrem Auftrag durchgeführt wurde.

Und dutzende Zeitungen übernahmen die Aussage praktisch gleichlautend in ihren Überschriften:

Die Zeit:

Süddeutsche Zeitung:

FAZ:

Berliner Zeitung:

Mainpost:

Hamburger Abendblatt:

Wer sich die YouGov-Daten ansieht, der sieht: es ist etwas komplizierter. Tatsächlich hatten auf die Frage ‘Wünschen Sie sich einen grünen Kanzlerkandidaten beziehungsweise Kandidatin?’ 46 Prozent mit Ja, 35 Prozent mit Nein geantwortet, 19 Prozent machten keine Angaben. 46 Prozent als „jeder Zweite“ ist kräftig gerundet. Außerdem gibt es bei Umfragen auch noch eine Fehlertoleranz von mehr als einem Prozentpunkt. Naheliegender wäre eigentlich der Schluss: Eine knappe Mehrheit der Deutschen wünscht sich keinen grünen Kanzlerkandidaten – sie sind dagegen, oder es ist ihnen egal.

Abgesehen davon handelt es sich um leichte Umfragebeute. Dass eine Partei mit Umfrageergebnissen von über 20 Prozent einen Kanzlerkandidaten nominiert, gehört zur politischen Praxis in Deutschland. Die Frage hätte auch nüchterner gestellt werden können: ‚Erwarten Sie, dass die Grünen eine Kanzlerkandidaten beziehungsweise eine Kandidatin aufstellen?’ Denn bei grünen Stammwählern dürfte der ausdrückliche Wunsch nach einem Kanzlerkandidaten eine geringe Rolle spielen – sie wählten ja die Partei auch in der Vergangenheit, als es keinen gab. Diejenigen, die nicht vorhaben, für die Habeck-Truppe zu stimmen, werden die Kanzleranwärterfrage auch nicht zu ihrem Herzenwunsch machen. Die Schlagzeile „Jeder zweite Deutsche wünscht sich“, meist zusammen mit einem Foto von Robert Habeck und Annalena Baerbock, suggeriert allerdings unterschwellig: Ziemlich viele Deutsche wünschen sich eine grüne Regierungsführung. Das klingt schon griffiger als: knapp 50 Prozent aller von YouGov Befragten erwarten, dass die Grünen einen Kanzlerkandidaten aufstellen – und etwas mehr als die Hälfte nicht.

Eine ähnliche Verschiebung der Datenlage in Überschriften und Ton erlebten die Leser von Zeitungen und Online-Plattformen vor ein paar Monaten. Im März 2019 hieß die Meldung: „Robert Habeck auf Platz eins der wichtigsten Politiker.“ Tatsächlich: ein Politiker ohne öffentliches Amt, dessen Partei die kleinste Fraktion im Bundestag stellt, soll die wichtigste politische Person sein?
War sie natürlich nicht.
Im ZDF-Politbarometer, auf das sich die Aussage bezog, werden die zehn wichtigsten Politiker noch einmal einem Beliebtheitstest unter repräsentativ ausgewählten Befragten unterzogen. Die Schlagzeile hätte also heißen müssen: ‘Robert Habeck ist der beliebteste Politiker’. Etliche Medien korrigierten ihre Zeile. Allerdings nicht alle:

Die Pointe liegt darin, dass der beliebte Habeck – 2018 der am häufigsten eingeladene Talkshowgast der öffentlich-rechtlichen Sender – gleichzeitig immer noch sehr unbekannt ist. Im ZDF-Politbarometer vom 6. Juni 2019 stand der Grünen-Chef im Beliebtheitsranking vorn. Gleichzeitig gaben selbst dann noch 48 Prozent der vom ZDF Befragten an, mit dem Namen Robert Habeck nichts anfangen zu können (was zeigt, dass ARD, ZDF und viele Printmedien über ein bestimmtes Milieu offenbar nicht hinausreichen). Zum beliebtesten Politiker kürten Habeck also nur ein Teil des Teils aller Befragten – eine relative Mehrheit.

Aber auch hier gilt: Die Schlagzeile ‘Fast jeder zweite Deutsche kennt Robert Habeck nicht’ wäre irgendwie unsexy gewesen.


Der Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.

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Kommentare ( 87 )

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Thomas Mairowski
4 Jahre her

46% und „jeder Zweite“ / Sinn von Umfragen allgemein Die Aufrundung von 46% auf „jeder Zweite“ halte ich nicht für das Problem. Eine Überschrift „Fast jeder Zweite“ klingt für mich nicht weniger dramatisch. Bei der Präsentation von Umfragen frage ich mich immer, was überhaupt gefragt worden ist und was die Leute mit ihrer Antwort konkret meinen. Ich kann mich noch gut an eine über 10 Jahre alte Umfrage des Politbarometers erinnern. Es wurde gefragt, ob das Ereignis X sich nachteilig für die SPD bei der nächsten Bundestagswahl auswirken würde. (Ich weiß nicht mehr, was es war. Ich glaube, Herr Müntefering… Mehr

Johann Thiel
4 Jahre her

Nicht frisiert ist aber wohl die Nachricht, das der tolle Herr Palmer mit Tübingen an der Aktion „Seebrücke“ teilnimmt, um ohne den Bund, auf kommunaler Ebene, eigeninitiativ noch mehr Migranten nach Deutschland zu holen.

Lara Berger
4 Jahre her

Die Mainstreammedien haben die Arbeitsweise des „Stürmers“ und der „Aktuellen Kamera“ der vergangenen deutschen Regime übernommen: Jubeljournalismus pro Regierung. Auch wenn dafür „Nachrichten“ frei erfunden werden müssen. Die Leser wissen das zumeist. Deswegen kaufen sie diesen Mist nicht, wie der Zahlen belegen.
Wir sind bei weitem nicht so dumm, wie die linksgrüne Journaille es sich gerne einredet.

Andreas aus E.
4 Jahre her
Antworten an  Lara Berger

Ihr Vergleich mit Stürmer und Aktueller Kamera ist sehr zutreffend.
Allenfalls hätte ich anzumerken, daß die nicht ganz so primitiv waren, wie heutige Qualitätsmedien. ARD, ZDF, B90-Parteisender DLF und deren Komplizen geben sich kaum mehr die Mühe auch nur ansatzweise Objektivität vorzugaukeln.

BernhardPesch
4 Jahre her

Wann begreifen wir eigentlich, dass wir uns in einem modernen ideologischen Krieg befinden? Jeder Konservative muss Antonio Gramsci, die Frankfurter Schule und ihre „Kritisch Theorie“ und die Postmodernisten Foucault und Derrida lesen. Wer seinen Feind besiegen will muss ihn erst verstehen. Die Linke hat schon vor Jahrzehnten nach dem katastrophalen Scheitern der Sowjets begriffen, dass eine Revolution nach marxistischer Theorie im christlich dominierten liberalen Westen niemals zum Erfolg führen würde und entwickelte aus dieser Schlussfolgerung heraus die Idee des sogenannten Marsches durch die Institutionen. Dieser „Marsch“ oder was wir heute als den Kulturkampf verstehen ist eindeutig von der Linken zu… Mehr

Susanne R.
4 Jahre her

Das Foto ist ja süß! Da lacht er ja mal. Aufgenommen in seiner Wahlheimat Dänemark? Stimmt, die bewegen sich gerade nach rechts. Da hat man gut lachen als deutscher „Politiker“, der von einem Volk, das für ihn nicht existiert, gewählt werden will. Wohl etwas mehr Sicherheit als hier. Vermutlich darf man nicht schreiben, was ich gerade denke: Fahr zur H….!

Patrick B.
4 Jahre her

Es ist hier wie bei allen (deutschen) Umfragen: Es soll der Herdentieb bei den sonst sehr widerstandslosen Deutschen geweckt werden, vor allen den jungen. Heute las ich: Mehrheit der Deutschen für ein Tempolimit. In den Kommentaren in Facebook war mehrmals zu lesen: „Ich kenne niemanden, der jemanden kennt, der jemals an einer Umfrage teilgenommen hat.“ Die gleiche Erfahrung mache ich auch. Und wer etws in Statistik und Stochastik aufgepasst hat, dem sollte klar werden, hier KANN etwas nicht stimmen. Man erschafft einfach durch solche Betreutes-Wählen/Denken-Umfragen eine sich selbsterfüllende Prophezeiung, was hier bei dem „Aufstieg“ der Grünen ebenfalls geschehen soll. Ich… Mehr

gmccar
4 Jahre her

Wie war das mit Madsack und Projekt Syndicate ? 500 Zeitungen. die gleiche Meinung. Gleichschaltung der Presse durch Sozialisten.

Hegauhenne
4 Jahre her

Beim RTL Mittagsfunk haben sie jetzt auch einen Relotiusjünger entlarvt.
Irgendwann fliegt den Journalisten-Darstellern die eigene Buttercremetorte ins Gesicht.
Jeder rutscht auf der eigenen Schleimspur aus.

manfred_h
4 Jahre her

Zitat: „. Aber die deutschen Medien hypen die Grünen hoch.“

> Mhh, wohl genau so wie auch Macron in Frankreich hochgeputscht wurde. UND WAS daraus geworden ist UND WIE (un)beliebt Macron heute ist sollte sich überall herumgespeochen haben und bekannt sein.
UND SO würde es dann auch den Grünen ergehen(WENN es dann jemals einen grünen BK geben sollte).

Wolfgang M
4 Jahre her

Die Grünen jubeln. Alle Grünen? Nur die deutschen Grünen!
Bei der Europawahl spielten in manchen Ländern die Grünen überhaupt keine Rolle, manchen Ländern, wie in Schweden, dem Land Gretas, nur eine kleine Rolle. Aber die deutschen Medien hypen die Grünen hoch. Wie so oft, spielt Deutschland eine unrühmliche Sonderrolle.
Der wichtigste Politiker im ZDF-Politbarometer ist eigentlich der bekannteste und gleichzeitig der rhetorisch versierteste. In der Liste waren auch schon die jeweils häufigen Talk-Gäste Gysi, Özdemir, Bosbach, als sie keine politische Funktion mehr hatten.