Tichys Einblick
Wie befürchtet

Suizide in Berlin steigen im ersten Quartal drastisch

Für die Hauptstadt gibt es erste Daten zu Selbsttötungen und Suizidversuchen. Es ist passiert, was Psychiater befürchtet hatten: In den Corona-Monaten nahmen die Fälle extrem zu.

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Normalerweise kommen die Zahlen für Suizide und Suizidversuche mit deutlichem Zeitverzug zu den Statistikämtern. Es gibt allerdings einen indirekten Weg zu aktuellen Daten: die Einsatzcodes der Feuerwehr-Noteinsätze. In dieser Statistik laufen auch alle medizinischen Noteinsätze zusammen.

Der Berliner FDP-Abgeordnete Marcel Luthe fragte die Landesregierung nach entsprechenden Einsätzen in Berlin von Januar bis April 2020. Das Ergebnis entspricht den schlimmsten Befürchtungen von Medizinern, die eine Zunahme von Selbsttötungen während des Corona-Lockdowns erwartet hatten. Bis April gab es in Berlin nach den Feuerwehr-Daten sieben Todessprünge aus mehr als 10 Metern Höhe – so viel wie im gesamten Jahr 2019. Die Zahl der Sprünge ohne Höhenangabe lag bis April bei sechs – ebenfalls so viele wie im Jahr 2019. Eine absichtliche Einnahme von Medikamenten-Überdosen mit ausgelösten Atembeschwerden kam 67mal vor – was einer Steigerung gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 31 Prozent entspricht. Die absichtliche Überdosis von trizyklischen Antidepressiva (17 bis April) stieg zum Vorjahreszeitraum um 89 Prozent. Eine Kombination von akuter Suizidgefährdung in Verbindung mit gewalttätigem Verhalten nahm gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 15 Prozent zu (69 bis April 2020).

Betrachtet man nur den eigentlichen Lockdown-Zeitraum von März bis April im Vergleich zu den entsprechenden Wochen im Vorjahr, dann ergibt sich bei Todessprüngen ein Plus von 300 Prozent, bei Überdosen eine Zunahme von 62 beziehungsweise 166 und bei suizidalem und aggressiven Verhalten um 50 Prozent.

Die Feuerwehr-Daten unterscheiden nicht zwischen Suizid und Suizidversuch. Allerdings enden Sprünge aus der Höhe von über 10 Metern meist tödlich. Auch die drastische Zunahme der Fälle bei anderen Tötungsarten macht es sehr wahrscheinlich, dass die Zahl der vollendeten Selbsttötungen signifikant zugenommen hat.

„Der Anstieg dieser Fälle ist schlicht gewaltig“, kommentiert Luthe. Das sei auch „die direkte Folge der Verordnungen der Landesregierungen, die nicht nur teils widersprüchlich, teils objektiv ungeeignet sind, sondern die eben auch dazu führen, dass Patienten wirtschaftliche Existenzangst haben, wegen einfacher Symptome behandelbare Patienten Angst haben, Kliniken aufzusuchen, und möglicherweise durch die dramatische Übertreibung der Mortalität von COVID-19 in Folge Menschen aus Angst vor der Krankheit Selbstmord begehen.“

Der FDP-Abgeordnete fordert: „Neben einem möglichen Nutzen der teils willkürlichen Corona-Verordnungen müssen sich die Landesregierungen auch diese sehr dramatischen Nachteile vor Augen führen.“

Vor diesen Folgen des Corona-Lockdowns hatte kürzlich auch Deutschlands führender Depressionsforscher Ulrich Hegerl in einem TE-Interview gewarnt: „Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass überreagiert wurde und nicht nur bei Menschen mit psychischen Erkrankungen, sondern auch in anderen Bereichen der Medizin mehr Schaden angerichtet als verhindert wurde. Suchterkrankungen verschlimmern sich, Operationen wurden verschoben, professionelle Hilfe wird zu spät aufgesucht, etwa bei Schlaganfall.“

In dem TE-Gespräch sagte der Vorsitzende der Deutschen Depressionshilfe zu den Auswirklungen des Lockdowns speziell auf depressiv Erkrankte: „Stationäre Behandlungen wurden verschoben, Ambulanzen haben Ihre Versorgungsangebote reduziert. Weiter sind bei niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten viele Sprechstunden ausgefallen, häufig da Patienten aus Angst vor einer Ansteckung abgesagt haben. Manche depressiv Erkrankte werden auch gemeint haben, sie dürften das Gesundheitssystem jetzt in dieser besonderen Lage während der Pandemie nicht mit ihrem Problem belasten.“ Ihn habe es „als Mediziner schon erstaunt, dass dieser zentrale Aspekt der Nutzen-Schadens-Abwägung kaum öffentlich diskutiert wurde.“


Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.

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