Tichys Einblick
Skandal-Nudel nicht beauftragt

SPD: Warum Johannes Kahrs von allen Ämtern zurückgetreten wurde

Der mächtige SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs hat sämtliche politischen Ämter niedergelegt. Offizieller Grund, weil er nicht für das Amt des Wehrbeauftragten nominiert wurde. Im Hintergrund stehen weitere Vorwürfe - der Abschied ist wohl nicht ganz so freiwillig.

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Einer der mächtigsten SPD-Politiker – der Bundestagsabgeordnete und haushaltspoltische Sprecher seiner Fraktion Johannes Kahrs, der auch Mitglied im Verteidigungsausschuss gewesen ist – „verlässt mit sofortiger Wirkung den Bundestag“, meldete die FAZ am Dienstag. Er begründe, schreibt die Zeitung weiter, „seinen Schritt damit, dass er bei der Nominierung des Wehrbeauftragten nicht berücksichtigt wurde“.

Was die FAZ und viele Leitmedien in den ersten und auch zweiten Meldungen unerwähnt gelassen haben, ist die Frage danach, ob der Rücktritt noch ganz andere Gründe haben könnte und vielleicht auch nicht ganz freiwillig war. Es gibt, man muss sagen: wieder einmal, schwerwiegende Vorwürfe gegen den Sozialdemokraten aus dem Bezirk Hamburg-Mitte, der so mächtig war, dass ihn bisher nicht einmal SPD-Genossen wie Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher oder Vizekanzler Olaf Schulz (aus Hamburg-Altona) öffentlich zu kritisieren wagten.

Der ruppige Politiker ist nun quasi über Nacht „von der Bildfläche verschwunden“ (Die Welt). Der Youtuber Klemens Kilic, zuvor wegen Telefonstreichen an Ralf Stegner bekannt geworden, beschuldigt den Langzeit-Abgeordneten, im Rahmen seines ersten juristischen Staatsexamens die Haupt-Klausur nicht selbst geschrieben zu haben. Angeblich soll ein Bundesbruder aus Kahrs‘ farbentragender Studentenverbindung „Wingolf“ diese Klausur geschrieben – und dafür zuvor den Personalausweis von Kahrs in betrügerischer Absicht den Universitätsangestellten vorgelegt haben. Der YouTuber will auch Zeugen dazu kennen. Falls diese Vorwürfe zutreffen, hätte Kahrs – der später darauf verzichtete, das normalerweise nach dem Referendariat folgende Zweite Staatexamen zu absolvieren – sich das Abschlusszeugnis für sein Jura-Studium erschlichen. Belegt sind die Vorwürfe bislang nicht. Doch ein so machtbesessener Berufspolitiker lässt sich so leicht nicht zum Verzicht auf seine gutbezahlten Pöstchen bewegen. Kaum jemand hat deshalb diesen Vorwurf in Verbindung mit dem Rücktritt gebracht.

Am 21. April informierte die Junge Freiheit (JF) über die Verdächtigungen: „zuletzt“ habe „ein Telefonat des Youtubers Klemens Kilic mit Kahrs für Aufsehen gesorgt“. Darin sei „es um den Vorwurf gegangen, Kahrs habe sein erstes Staatsexamen auf betrügerische Weise erlangt“.

Kilics Anschuldigungen erregten zumindest im Internet größeres Aufsehen. Da dieser Telefonstreich in Zusammenarbeit mit dem der AfD nahestehenden Deutschlandkurier entstanden ist, sorgte dieser vermutlich nur für sehr wenig Aufregung in den Reihen der SPD-Bundestagsfraktion und im SPD-Landesbezirk Hamburg; feindliches Feuer eben. Einige Beobachter allerdings meinen, diese aktuellen Vorwürfe könnten die SPD-Führung auf Bundesebene und das Bundeskanzleramt final veranlasst haben, Kahrs – der auch Oberst der Reserve ist – schlußendlich nicht für das Amt des Wehrbeauftragten der Bundeswehr zu nominieren. Für die Funktion also, die Kahrs unbedingt zu übernehmen suchte. Das Vorhaben, seine politische Laufbahn mit diesem bundesweit angesehenen Amt zu krönen, schien Kahrs Genossen als gegeben. Der Wehrbeauftragte erhält hohe Dienstbezüge – wie ein Staatssekretär, der nach der höchsten Beamten-Besoldungsgruppe B 11 bezahlt wird. 55 Mitarbeiter hat der Wehrbeauftragte, und dem bisherigen Amtsinhaber reichte das auch. Erst vor kurzem hatte Kahrs als Haushälter im Bundestag vier zusätzliche Stellen durchgeboxt.

Der Clou bei der Geschichte: Der Wehrbeauftragte hatte gar keine neuen Stellen beantragt. Woher also der Zuwachs-Segen?

Die Antwort könnte sehr einfach sein, schrieb im Januar TE zu diesem ungewöhnlichen Vorgang: „Die Amtszeit des Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels (SPD) läuft im Mai aus. Neuer Wehrbeauftragter könnte Kahrs werden. Und hätte sich schon mal seinen künftige Sinekure personell vergößert. Haushälter sind stolz darauf, praktisch zu denken.“

Kahrs wollte also offensichtlich Platz für Spezis schaffen.

Kahrs‘ politischer Weg: Mit Skandalen gepflastert

In seiner politischen Laufbahn hat Johannes Kahrs sehr lange Zeit viele Skandale überstanden. Erstaunlich, was im „System SPD“ an gesammelten Fehltritten möglich war, ohne dass die steile Karriere von Kahrs ernsthaft gefährdet wurde. Für negative Schlagzeilen sorgte Johannes Kahrs zum ersten Mal bereits im Jahre 1992. Die damals 22 Jahre alte Silke Dose, linke Gegnerin von Kahrs im Hamburger Juso-Vorstand, erhielt „nachts anonyme Anrufe, in denen der Anrufer teils auflegt, teils schweigt oder sie mit Sätzen wie ‚Ich krieg dich, du Schlampe‘ bedroht“, schrieb die FAZ darüber noch einmal im Jahre 2009 im lesenswerten Beitrag „Das System Johannes Kahrs“.

Die junge Genossin ließ sich freilich nicht einschüchtern, sie beantragte eine Telefon-Fangschaltung. Die FAZ: „Im Mai 1992 tappt der damals 28 Jahre alte Kahrs zweimal in die Falle, als er gegen drei Uhr morgens seinen Telefonterror ausübt.“ Wenig später kam es zum Gerichtsverfahren. Verteidigt wurde Kahrs vom späteren Ersten Bürgermeister Hamburgs, OIe von Beust (CDU). Das Verfahren endete mit einem Vergleich. Kahrs‘ Schuld war offensichtlich bewiesen, er erklärte sich bereit, 800 Mark Bußgeld an eine gemeinnützige Organisation zu überweisen. Dieses Verfahren verhinderte nicht, dass Johannes Kahrs bereits 1998 Abgeordneter des Deutschen Bundestages wurde.

24 Jahre später, inzwischen ist Kahrs nicht nur Sprecher des „Seeheimer Kreises“ sondern auch ein eifriger Twitter-Nutzer geworden, kommentierte er per Tweet nach einer Busfahrt mit Schülern nach Berlin ein Selfie-Bild, auf dem sich offenbar eine Schülerin ins Bild gedrängt hatte: „Schlampe halt“. Später sagt Kahrs, die Bemerkung habe nicht der Schülerin, sondern dem Mitarbeiter gegolten, der das Selfie gemacht hatte.

2006 gab es einen größeren Skandal. In diesem Jahr geriet der SPD-Verteidigungsexperte wegen Wahlkampfspenden der Rüstungsindustrie parteiintern in erhebliche Kritik. „Wenn ein langjähriges Mitglied des Verteidigungsausschusses tatsächlich beträchtliche Spenden der Rüstungsindustrie bekommen hat, dann ist das nicht frei von Beigeschmack“, sagte damals ausgerechnet der Sprecher der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion, Ernst Dieter Rossmann, dem Tagesspiegel.

Kahrs, der schon damals Vorsitzender der im „Seeheimer Kreis“ zusammengeschlossenen Bundestagsabgeordneten vom „rechten SPD-Flügel“ war und zur Überraschung etlicher Bürger immer wieder außergewöhnlich kostspielige Wahlkampfkampagnen für sich betrieb, bestätigte gegenüber der Berliner Zeitung, im Bundestagswahljahr 2005 Spenden von Rüstungsfirmen erhalten zu haben, die jeweils unter der Veröffentlichungspflicht von 10.000 Euro lagen. Berichten der Frankfurter Rundschau zufolge soll es dabei um Zuwendungen der Rüstungsunternehmungen „Krauss-Maffei Wegmann“ und „Rheinmetall“ an Kahrs‘ Hamburger Kreisverband SPD-Mitte gegangen sein.

Dubiose Aussage in der „Edathy-Affäre“

Auch diese Vorwürfe überlebte Kahrs scheinbar unbekümmert, der nach außen hin immer wieder bestrebt war, den Saubermann zu geben. Rund zehn Jahre später entsetzte der Abgeordnete sogar seine Parteigenossen mit einer Bewertung des SPD-Bundestagsabgordneten Sebastian Edathy, gegen den umfangreiche Ermittlungen wegen des dringenden Verdachts, sich kinderpornographisches Material besorgt zu haben, stattgefunden haben. In der „Edathy-Affäre“ gab es einen Bundestags-Untersuchungsausschuss.

Hier wurde auch Johannes Kahrs als Zeuge gehört, der Edathy im Ausschuss – zur Überraschung selbst vieler seiner eigenen Fraktionskollegen – laut Hamburger Abendblatt als „feinen Kerl“ bezeichnet hat. Für Eingeweihte kam die Äußerung allerdings nicht gänzlich überraschend. Als Geschäftsführer des von Kahrs politisch geführten Seeheimer Kreises fungierte damals Dennis Nocht, der zuvor der Büroleiter Edathys war. Edathy musste übrigens wegen der vielfältigen Beschuldigungen in der „Kinderporno-Affäre“ (Hamburger Morgenpost) sein Bundestagsmandat niederlegen. Auch der Berliner Tagesspiegel ging Kahrs 2014 hart an: „Seine Homosexualität machte er öffentlich, als er in den Bundestag gewählt wurde. Und auch sonst macht er kein Geheimnis aus seinen Neigungen: Auf Twitter folgte Kahrs von seinem offiziellen Profil aus („Twitter Account von Johannes Kahrs (MdB) und seinem Büro #bürotweet“) bis zum Montagvormittag 1.382 Accounts – vielen Bundesministerien, Journalisten, Politikern. Aber auch einer ganzen Reihe von Accounts, in denen es nicht um das politische Geschehen geht, sondern um ganz andere Dinge: Sex und Pornografie. Homosexuelle verbreiten in diesen Accounts, denen sich Kahrs als Follower anschloss, Fotos von nackten Männern, von hinten und von vorn, beim Sex, teils in Gruppenaufstellung.“

Des Netzwerkers erklärter Todfeind: die AfD 

Bei anderen war Kahrs deutlich weniger liberal und demonstrativ unversöhnlich. Politiker der AfD beschimpfte Johannes Kahrs als „rechtsextremistisches Pack“. Mehr noch: Als „bekannt für seine scharfe Zunge“ (Mopo) schlug Kahrs vor, die Partei, die im Deutschen Bundestag die stärkste Oppositionsfraktion stellt, zu verbieten. Beamte, die AfD-Mitglieder sind, seien zu entlassen.

Johannes Kahrs gilt in sozialdemokratischen Kreisen als einer der erfolgreichsten Netzwerker, der sich rasch eine für ihn bestimmte Anhängerschaft aufbaute, etwa durch Einladungen an Jugendliche nach Berlin; auch mit preiswerter Übernachtungsmöglichkeit. Über diese Aktionen eines kreativen Zeitvertreibs wusste auch die FAZ zu berichten:

„Um Leute zu finden, die ihm ergeben sind, baut er Ende der neunziger Jahre eine Juso-Organisation mit ganz jungen Leuten auf. Sie sind 15, 16 Jahre alt. Wer sich für die SPD interessiert, wird zur Schüler-Juso-Gruppe eingeladen. Die trifft sich im dritten Stock des Kurt-Schumacher-Hauses, gleich neben dem Büro von Kahrs. Wer zum ersten Mal dabei ist, wird von einem der Erfahrenen angesprochen, ob er das nächste Mal wiederkomme. Wer nicht wiederkommt, wird angerufen, zum Kaffee eingeladen. Nach wenigen Treffen wird ein Praktikum im Büro von Johannes Kahrs angeboten. Manche können zum Praktikum nach Berlin gehen, in der Wohnung des Bundestagsabgeordneten übernachten. Die Reise nach Berlin ist für 15, 16 Jahre alte Jugendliche eine reizvolle Erfahrung. Mancher ist nach wenigen Wochen im Vorstand der Schüler-Jusos. Weitere Karriereschritte, etwa der Juso-Kreisvorstand, werden in Aussicht gestellt für die, die neue Leute werben. Denen wird erklärt, wer die Feinde sind: die linken Jusos, die Linken in der SPD.“

Ende Januar diesen Jahres twitterte der ebenfalls nicht unumstrittene FFF-Aussteiger, Querfrontler und Jungpolitiker von Die Linke, Tom Radtke:

Zu der Vorgeschichte dieses Tweets berichtete Tag24: „Nachdem der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs (56) aus Hamburg auf Twitter polterte, warum Radtke nicht gestoppt werde, drohte ihm dieser.“

Zwischen zahlreichen mittlerweile gelöschten Tweets von Radtke, bleibt dieser mit erhaltenem Vorwurf/Drohung bis heute aufrufbar und sorgte seither immer wieder für zahlreiche Spekulationen und Diskussionen in den sozialen Medien.

Wahlkampf-Spenden und Steuer-Anschuldigungen

Kurz vor den Bürgerschaftswahlen 2020 in Hamburg ist die regierende SPD im Februar in ein bemerkenswertes Steuer-Zwielicht geraten. Darüber hat Tichys Einblick ausführlich berichtet. Wieder spielte Kahrs eine der Hauptrollen. Die Hamburger Banken-Unternehmensgruppe Warburg – mit mehreren Tochter-Finanzunternehmen – hatte der SPD in Hamburg-Mitte, wo Johannes Kahrs der Vorsitzende war, im Jahr 2017 rund 45.000 Euro an Spenden überwiesen. Aufsichtsratsvorsitzender von M.M. Warburg war bis Ende 2019 Christian Olearius, der wie Kahrs Mitglied in der Studentenverbindung Wingolf ist.

Das Fatale an der Sache: Nicht nur das Hamburger Abendblatt fragte sich 2020, warum die Hamburger Steuerverwaltung im Jahr 2016 offenbar entgegen den Vorschriften darauf verzichtet hat, „im Rahmen um Cum-Ex-Geschäfte 47 Millionen Euro von dem Bankhaus M. M. Warburg zurückzufordern“. Aber auch diese Krise überstand Kahrs noch unbeschadet. Finanzsenator, dem die Steuerbehörden in Hamburg unterstehen, war damals Peter Tschentscher (SPD), der 2018 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg geworden ist.

Doch nun folgte die angebliche Examens-Affäre Kahrs‘. Die neuerlichen Anschuldigungen haben das Fass jetzt womöglich – reichlich spät – zum Überlaufen gebracht. Wenn Johannes Kahrs heute behauptet, er sei wegen der Nicht-Nominierung zum Wehrbeauftragten von seinen Ämtern zurückgetreten, so klingt das eher unglaubwürdig. Kahrs hat über Jahre ein sehr dickes Fell bewiesen. So etwas allein haut einen Kahrs nicht um.

Normalerweise hätte er mit voller Kraft versucht, diese Niederlage möglichst bald rücksichtslos auszuwetzen. Hamburger Beobachter argwöhnen, es könnten womöglich noch weitere Affären bekannt werden. Es gibt noch andere Gerüchte, die sich bisher jedoch niemand traut, in der Öffentlichkeit zu konkretisieren. Aber allmählich könnte es Kahrs selbst für die SPD zu schlimm getrieben haben. Die weitere Beförderung zum Wehrbeauftragten, die er sich so sehr gewünscht hatte, war wohl nicht drin.

Kahrs weist die neuesten Vorwürfe als „absurd“ zurück

Das Hamburger Abendblatt hat am 6. Mai in seiner Printausgabe ein groß angelegtes Interview mit Johannes Kahrs veröffentlicht. Keine einzige Frage bezieht sich freilich auf einen der Skandale Kahrs‘. Nach dem eigentlichen Interview lässt die Zeitung eine Art Postskriptum folgen. Hier wird erwähnt, dass es gegenüber Kahrs den Vorwurf gibt, „er habe sein juristisches Staatsexamen von einem Kommilitonen schreiben lassen“. Damit konfrontiert, erwidert Kahrs in gewohnt forscher Weise: „Das ist ein absurder Vorwurf.“ Und: Er habe „rechtliche Schritte eingeleitet“. Was das konkret bedeutet, lässt der Ex-Bundestagsabgeordnete allerdings unerwähnt.

Für zusätzlichen Diskussionsstoff sorgt auch, dass der streit- und meinungsstarke Johannes Kahrs zeitgleich zur Niederlegung aller politischen Ämter auch seine Profile bei Instagram und Twitter löschte und somit auch aus den sozialen Medien verschwunden ist.

Kahrs war bis dahin ein ausgesprochener Vieltwitterer. Nach Recherche der taz hat er allein bis zum 31. Januar 2019 rund 103 200 Tweets gesendet, zum Vergleich: Trump stand damals nur bei 40.400. „Er tobt durch Instagram und Facebook“, schreibt die taz, „folgt selbst 4.100 Zwitscherern, der Egomane Trump nur 45. Bei den Followern aber sind Kahrs 20.500 nur ein müder Abklatsch der 57,9 Millionen des großen Donald.“

Bei Wahlvorgängen wie dem zum Wehrbeauftragten ist – zumindest theoretisch – eine Niederlage möglich. Offiziell hat Kahrs dafür nicht mal kandidiert. Dass er das Amt nicht bekommen hat, ist in einer Politikerkarriere kein Beinbruch. Da gilt eher: Neues Spiel, neues Glück. Es waren wohl andere Gründe. Kahrs wurde zu peinlich. Sein Rücktritt war wohl nicht so ganz freiwillig. Wurde er zurückgetreten?