Tichys Einblick
Corona-Evaluierungsbericht

Sachverständigenrat: Coronapolitik war blind und demokratieschädlich

Gegen Mittag des heutigen Tages soll der Bericht des Corona-Sachverständigenrates veröffentlicht werden. Bereits jetzt sickert durch: Auf 165 Seiten wird die Pandemiepolitik der letzten drei Jahre scharf kritisiert.

RKI-Präsident Lothar Wieler und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach,

IMAGO/IPON

In seiner Evaluierung der Corona-Politik in Deutschland hat der interdisziplinäre Sachverständigenausschuss tiefgreifende Kritik an den politischen Entscheidungsträgern und dem Robert-Koch-Institut geübt. Dies geht aus dem 165-seitigen Bericht hervor, der am Freitagmittag veröffentlicht werden soll und der Welt am Sonntag bereits vorliegt. Laut Welt wird darin etwa die Erhebung und der Umgang mit Daten, die unzureichende Forschungsarbeit, die öffentliche Kommunikation sowie das Zustandekommen der Grundrechtseinschränkungen kritisiert.

Das Papier bemängelt demnach:

Die Politik habe sich für die tatsächliche Wirksamkeit der von ihr verhängten Maßnahmen nie wirklich interessiert. Seit vielen Jahren – lange vor Beginn der Corona-Pandemie – sei klar, dass die Wirkung von einzelnen Maßnahmen nicht erforscht sei, schreibt der Sachverständigenrat. Trotzdem habe man bis heute nichts unternommen, um an diesem Zustand etwas zu ändern. Dabei ist das RKI laut Infektionsschutzgesetz „die zentrale Forschungs- und Referenzeinrichtung für Infektionskrankheiten“, in der „die Maßnahmen des Infektionsschutzes erforscht“ werden: „Diese Institution stünde bei der Lösung des identifizierten Daten- und Studienproblems somit auch selbst in der Pflicht.“

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Die Datenlage sei so katastrophal, dass der Sachverständigenrat sich eine abschließende Bewertung vieler Maßnahmen gar nicht zutraut – die scheine wegen des Mangels an belastbaren Daten schlicht unmöglich. Auf Dutzenden Seiten beschreiben die 18 Ratsmitglieder die von Politik und Behörden zu verantwortende katastrophale Corona-Datenlage in Deutschland. „Während in anderen Ländern Möglichkeiten zur Einschätzung der Wirkung von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen genutzt wurden, ist eine koordinierte Begleitforschung während der Corona-Pandemie in Deutschland weitgehend unterblieben“, heißt es in dem Report. Es gebe keinerlei Forschungskonzept, um „auf Grundlage besserer Daten und darauf aufbauender Analysen die anstehenden Entscheidungen in der Pandemie zu fällen“. Die Politik agierte demnach seit 2020 in einer Art Blindflug – und wollte daran wohl auch gar nichts ändern. Berlin habe keine der bereits geplanten oder laufenden Studien „zur Lösung der brennendsten Bekämpfungsfragen auf nationaler Ebene angestrengt“. Es gebe keine gemeinsam koordinierten Forschungsinitiativen, und das Angebot der Gesetzlichen Krankenkassen, „ihre enormen Datenbestände“ zur Verfügung zu stellen, habe niemand angenommen.

In ihrem Bericht gehen die Sachverständigen wohl weit über das Mandat hinaus, das ihnen das Infektionsschutzgesetz eigentlich erteilt – und können trotzdem wegen mangelhafter deutscher Datenlage kaum verbindliche Aussagen zu den Maßnahmen treffen. Im Blick auf Lockdown-Maßnahmen wie Ausgangssperren und Geschäftsschließungen heißt es, ein abschließendes Urteil, ob und welche Maßnahmen(-pakete) wie stark und zuverlässig wirken, sei nicht möglich. Eine Kosten-Nutzen-Analyse der Maßnahmen sei aufgrund des Datenmangels ebenfalls unmöglich.

In der politischen Kritik halten sich die Ratsmitglieder jedoch nicht zurück. Von der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ über die Ministerpräsidentenkonferenzen bis zu Merkels „Bundesnotbremse“ stellt der Sachverständigenrat der Politik ein verheerendes Zeugnis aus. Dass die faktische Entscheidungsgewalt in der Pandemie bei der Bund-Länder-Runde lag, wird im Bericht deutlich kritisiert: „Es tagte hinter verschlossenen Türen und tat dann nach Ende seiner Beratungen der Öffentlichkeit deren Ergebnisse kund. In diesem klassischen Fall einer reinen Top-down-Kommunikation fehlte naturgemäß alles, was bei parlamentarischer Beratung selbstverständlich gewesen wäre: der öffentliche Austausch von Argumenten, das Vortragen von Begründungen, die Gegenüberstellung kontroverser Positionen sowie die Präsentation von Alternativen.“

Außerdem fehle bis heute „eine konsequente Rückmeldung“ darüber, inwiefern Empfehlungen der Experten in die politischen Entscheidungen eingeflossen sind. Die Verordnungspolitik des Bundesgesundheitsministeriums wird von den Juristen des Gremiums unumwunden als verfassungswidrig bewertet: Sie hätte die wesentlichen Entscheidungsbefugnisse vom Parlament auf die Exekutive verlagert. Auch Merkels „Bundesnotbremse“ sieht der Sachverständigenrat rückblickend kritisch. Zwar sei sie vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden, aber: „Verfassungspolitisch sind die Folgeprobleme so gravierend, dass eine Wiederholung dieses Regelungsregimes nicht empfohlen werden kann.“

Auch der Umgang mit Kritikern wird durch den Sachverständigenrat klar bemängelt. Abweichende Meinungen seien in der Corona-Pandemie oft vorschnell verurteilt worden: „Wer alternative Lösungsvorschläge und Denkansätze vorschlug, wurde nicht selten ohne ausreichenden Diskurs ins Abseits gestellt. Dabei ist eine erfolgreiche Pandemiebewältigung ohne den offenen Umgang mit Meinungsverschiedenheiten langfristig nur schwer denkbar.“

Der Bericht beklagt viele blinde Flecken: Doch das Bild, das er zeichnet, ist trotzdem klar. Die Politik hat ihre Pandemiebekämpfung blind gestaltet: Ohne Interesse an der Faktenlage. Das Ergebnis dieser faktenfreien Politik ist verheerend. Merkels Notbremse: verfassungszerstörend. Die Ministerpräsidentenkonferenz: demokratieschädlich. Für Merkel, Scholz, Spahn und Lauterbach ist dieser Bericht eine Ohrfeige. Eigentlich müsste dies auch personelle Konsequenzen haben.

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