Ein Viertel der Heranwachsenden hat psychische Probleme

Wir müssen unseren jungen Leuten wieder mehr zutrauen - und mehr zumuten.

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Es sind alarmierende, nicht nur alarmistische Nachrichten, die der „Kinder- und Jugendreport 2019“ der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) soeben veröffentlicht hat. Auf der Basis der Abrechnungsdaten von 786.574 bei der DAK in den Jahren 2016 und 2017 versicherten Kindern und Jugendlichen bis 17 Jahren
leidet jedes vierte Schulkind (exakt 24 Prozent) unter psychischen Problemen und Auffälligkeiten: darunter je zwei Prozent an einer diagnostizierten Depression oder einer Angststörung. Hochgerechnet sind laut DAK-Report insgesamt etwa 238.000 Kinder in Deutschland im Alter von zehn bis 17 Jahren so stark betroffen, dass sie einen Arzt aufsuchen. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Depressionshäufigkeit 2017 um fünf Prozent gestiegen. Vor allem im späten Jugendalter bekommen die Betroffenen auch regelmäßig Antidepressiva: Mehr als jedes vierte Mädchen und jeder sechste Junge im Alter zwischen 15 und 17 Jahren nimmt ein entsprechendes Arzneimittel ein. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte begrüßt den neuen Report, warnt aber zugleich: „Im Report sehen wir nur die Spitze des Eisbergs. Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus“, sagt Verbandspräsident Dr. Thomas Fischbach.

Allerdings krankt der „Report“ daran, dass hier nur von den je zwei Prozent Heranwachsender mit depressiven oder Angst-Störungen gesprochen wird. Welche Symptome die anderen 20 Prozent kennzeichnen, wird nicht dargestellt, also etwa wie ausgeprägt folgende Störungen sind: Essstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen, autistische Störungen, aggressives Verhalten, Impulsivität, Schlafstörungen, Suchtprobleme.

Wie auch immer: Die Zahlen sind alarmierend. Über Ursachen ist damit aber noch ziemlich wenig ausgesagt. Nur so viel weiß man: Jungen und Mädchen mit krankhaftem Übergewicht sind 2,5- bis 3-mal häufiger von einer depressiven Störung betroffen als Gleichaltrige mit normalem Körpergewicht. Auch das familiäre Umfeld kann ein Faktor sein: Kinder seelisch kranker Eltern sind deutlich gefährdeter (3,3-fach), selbst eine depressive Störung zu entwickeln. Kinder suchtkranker Eltern sind ebenfalls signifikant häufiger betroffen (2,4-mal häufiger) als Gleichaltrige aus suchtfreien Elternhäusern.

Überhaupt stellt sich die Frage: Mit welcher Kindheit und Jugend haben wir es heutzutage zu tun? Woher kommen diese Entwicklungen? Ist es nur ein Klagen über die Jugend, das wir seit fünftausend Jahren als Ausdruck eines Generationenkonflikts sehen?

Lassen wir die Zahlen Zahlen sein und fragen ganz unbefangen, was die Hintergründe dieser offensichtlichen Entwicklung sein könnten. Schließlich ist es mit einer pauschalen Beschreibung des Problems und ohne Rücksicht auf eine notwendige je individualpsychologische Analyse nicht getan. Was könnte – rein hypothetisch, da und dort provokant formuliert – eine Rolle spielen?

Erstens: Die Neigung Heranwachsender zu psychischen Auffälligkeiten könnte damit zu tun haben, dass ihre erwachsenen „Vorbilder“ selbst immer häufiger solche Symptome tragen – und sich damit auch gelegentlich „outen“. Burnout-(Selbst-)Diagnosen sind ebenso angesagt wie das „Einwerfen“ von vermeintlich stimmungsaufhellenden Präparaten und der Gang zum Psychotherapeuten nach der Methode „rent a friend“. Hinweis aus der DAK: Die Anzahl der Fehltage insbesondere wegen Depression haben sich bei den Erwachsenen seit 1997 mehr als verdreifacht („DAK-Psychoreport“).

Zweitens: Die Neigung Heranwachsender zu psychischen Auffälligkeiten könnte damit zu tun haben, dass sie überfordert sind. Aber nicht durch gestiegene schulische Anforderungen. Letztere sind bei immer besseren Noten und immer geringer gewordenen Quoten an Sitzenbleibern niedriger als früher. Es ist eine andere Art von Überforderung, nämlich die – politisch gewollte – Erwartungshaltung vieler Eltern, das eigene Kind müsse unbedingt Abitur, Bachelor, Master stemmen. Kinder werden damit in Bildungsgänge gestoßen, denen sie nicht gewachsen sind.

Drittens – und kein Widerspruch zu Punkt 2: Die Neigung Heranwachsender zu psychischen Auffälligkeiten könnte damit zu tun haben, dass sie von „Helikoptereltern“ und „Curling“-Eltern „gepampert“, also in Watte gepackt werden und ihnen jedes Stäubchen aus dem Weg geräumt wird, statt sie angemessen herauszufordern und damit ihre Resilienz (Kraft zum Wieder-Aufrappeln) zu fördern.

Viertens: Die Neigung Heranwachsender zu psychischen Auffälligkeiten könnte damit zu tun haben, dass ihnen ständig Schulstress eingeredet wird und sie diesen Stress dann auch noch empfinden – auch nach so mancher Krankenkassen-Studie. Laut „DAK-Präventionsradar 2017“ ist es angeblich fast jeder zweite Schüler (exakt 43 Prozent).

Fünftens: Die Neigung Heranwachsender zu psychischen Auffälligkeiten könnte damit zu tun haben, dass sie nicht mehr zur Ruhe kommen, dass sie keine Muse und Muße mehr finden, weil sie ständig medial und mittels „social media“ unter Dampf stehen. Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen ist pro Woche mehr Zeit im Netz unterwegs oder an Spielkonsolen gefesselt, als Zeit für Schule und Hausaufgaben aufgewendet wird. Das geht oft bis tief in die Nacht hinein (siehe Schlafdefizit) und eskaliert vor allem an Wochenenden, die damit zum totalen medialen Stress werden und am Montag im berühmt-berüchtigten Montagssyndrom enden.

Sechstens: Die Neigung Heranwachsender zu psychischen Auffälligkeiten könnte damit zu tun haben, dass sie nur noch eine sterbende Welt prognostiziert und Schuldgefühle oktroyiert bekommen, wenn sie nichts gegen Klimawandel und Co. tun. Auch das kann depressiv machen.

Unter’m Strich: Jammern über die jungen Leute bringt nichts. Wir brauchen in Öffentlichkeit, Politik, Schule und Familie ein Umdenken im Umgang mit unseren jungen Leuten. Sie für die Zukunft stark zu machen heißt eben auch: Fördern und Fordern! Ihnen etwas mehr zumuten, weil man ihnen etwas mehr zutrauen kann!

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Kommentare ( 49 )

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fatherted
4 Jahre her

naja ….also….ich habe „gedient“ (Pionier)….wir waren jeden Tag draußen und rödelten uns rund….das einzige was ich der BW als Charakterbildend zugestehe….ist das erlernen der „Kameradschaft“….was nichts mit Freundschaft zu tun hatte. Für den anderen einstehen….Leute aus anderen Sozial- und Bildungsschichten treffen….und mit ihnen auf engstem Raum für 15 Monate auskommen müssen….das war für alle eine Herausforderung (8 Mann in einer Stube). Außerdem….das Zusammenhalten gegen die Dienstgrade….die zumindest bei uns….als der „Feind“ gesehen wurden (und nicht der Russe…wie damals vorgesehen). Ich habe die Zeit damals als „eine verlorene“ angesehen……heute zurückblickend, habe ich in den 15 Monaten viel über mich und andere… Mehr

Oekologische Nische
4 Jahre her

Mit Konsequenz in der Erziehung würde es nicht so ausufern. Immer nur Strafen wie Handy- oder Taschengeldentzug anzudrohen bringt das Gegenteil zum gewünschten Verhalten, wenn der Sprößling merkt, das die Sanktion nie kommt oder nicht in der Härte. Selbst erlebt bei einer Mutter: Wegen Ladendiebstahl wurde 1 Woche Fernsehverbot ausgesprochen worden (weil das Lieblingskind ja noch so klein war, galt das nur für das ältere Kind), das Verbot war am nächsten Tag schon wieder Geschichte. Und so ging und geht es weiter und die Mutti heult mir zunehmend die Ohren voll über ihre Rotzgören, die ihr den Finger zeigen, wenn… Mehr

Peter Mueller
4 Jahre her

Das mag vielleicht teilweise für das Kinderferienlager Namens BW zutreffen. In der richtigen deutschen Armee, in der es wesentlich härter zuging, und in der ich 3 Jahre gedient haben, wurde auf Kadavergehorsam gedrillt. Das hatte nichts mit Sozialkompetenz zu tun sondern mit Brechen der Persönlichkeit. Übermäßige Sozialkompetenz konnte ich aber auch nicht bei den Typen entdecken, die ich später als ehemalige Längerdienende der BW wahrnahm. Der gelernte Befehlston ist nun mal keine Sozialkompetenz, sondern das ist Unfähigkeit, mit Leuten umzugehen. Überfordertes Feldwebelgeplärre ist noch lange keine natürliche Autorität.

Peter Mueller
4 Jahre her

Natürlich bringt eine kranke Gesellschaft kranke Menschen hervor. Nichts daran ist verwunderlich.

Politkaetzchen
4 Jahre her

Da ich in diversen einschlägigen Foren unterwegs bin (darunter Hilferuf.net), gibt es ein Aspekt, der in diesem Artikel nicht wirklich angesprochen wird: Wir sind eine Gesellschaft (geworden), die verliebt in ihre Probleme ist. Statt Probleme wirklich zu lösen, wird besonders im Internet lieber in seinem persönlichen Safe Space die Wunden geleckt. Da gibt es dann Leute die dann seit Jahren ein und den selben Thread zu Themen wie Depression, Singledasein etc. geschrieben, wo natürlich alle anderen Schuld sind außer sie, aber nicht wirklich gehandelt und sich dann gewundert, warum sie immer noch depressiv, single usw sind. Naheliegendste Ratschläge wie mal… Mehr

Gabriele Kremmel
4 Jahre her
Antworten an  Politkaetzchen

Ganz so einfach ist es leider nicht, obwohl Sie sicher in einigen Punkten nicht falsch liegen. Ernsthafte psychische Probleme können schon recht einfach anmutende Aufgaben wie vor die Türe gehen verunmöglichen. Dinge, die für Gesunde selbstverständlich sind, können nicht geleistet werden – für Gesunde verständlicherweise oft nicht nachvollziehbar. Das ist dann ungefähr so, als wenn man einem, der mit einer Lähmung im Rollstuhl sitzt rät: Steh doch einfach mal auf.

Politkaetzchen
4 Jahre her
Antworten an  Gabriele Kremmel

Wer in Internet 24/7 rumjammern kann, kann mit derselben Energie vor die Türe gehen. Solche Menschen geht es einfach zu gut und sind nicht mit jenen zu vergleichen, denen es WIRLICH !!! so schlecht geht, dass garnichts machen, im Bett liegen und sterben wollen.

Klaus Kabel
4 Jahre her

Eine Ursache psychischer Erkrankungen bei Kinder und Jugendlicher eine grenzenlose Erziehung. Kinder suchen Grenzen, sie wollen Grenzen aufgezeigt bekommen. Die Gleichgültigkeit, die Abschaffung von Werten und Gtenzen in der Gesellschaft verunsichern und tragen zu depressivem Verhalten bei. Auch die Aufhebung der Geschlechterrollen und die damit einhergehende Unsicherheit ist für Kinder pures Gift. Wie sollen Eltern Werte vermitteln, wenn diese Werte bei teilen der Gesellschaft suspekt sind.

Kevin Reimann
4 Jahre her

Ich würde bei der heutigen Ganztagsschule auch depressiv werden. Damals schnell Hausaufgaben hingeschmiert und ab nach draussen. Als Schlüsselkind hatte man auch alle Freiheiten. Ich bin auch mal in der Oberstufe 2 Wochen nicht mehr zur Schule gegangen. Als ich mich dazu wieder durchgerungen hatte, musste ich mir von einigen Lehrern 45 Minuten vor allen Leuten das Wort zum Sonntag anhören „Einige meinen sie könnten hier kommen und gehen, wie sie lustig sind.“ Ähm nein, ich fühlte mich überfordert und hatte Angst vor der Schule. Vermutlich hatte ich damals schon eine bipolare Störung, auch wenn sie erst später voll durchgeschlagen… Mehr

Medienfluechtling
4 Jahre her

So sehr ich die Auswahl unserer medienlandschaft schätze: Die Kinder könnten auch Spielball diverser Medien geworden sein. Seit Jahren werden in Film und Funk nur noch Extreme bemüht. Inzwischen wird ums Überleben geschrieben. Unverantwortlichkeiten werden in Kauf genommen, weil wegen dem Deckmantel der Pressefreiheit keine Verantwortung übernommen werden muss.

giesemann
4 Jahre her

Nur ein Viertel? Es gab mal Zeiten hier, da hatten fast 100% eines Jahrgangs von jungen Männern ein Problem: Die mussten in den Krieg ziehen, um sich dort ihre Traumata ab zu holen. Christliche Symbole auf polnischen Soldatenfriedhöfen in DE seien dort selten zu finden, beklagt ein polnischer Diplomat. Kein Wunder: Nach dem 30-jährigen Krieg 1.0 haben sich beim 30-jährigen 2.0 von 1914 bis 1945 wiederum christlich geprägte Länder grausame Dinge angetan. Allen voran die mit dem Tatzenkreuz, „Eisernes Kreuz“ auf dem Schild. Es wird Zeit, dass der Messias endlich wirklich kommt. Wir jammern auf eigenartigem Niveau.

Aufgewachter
4 Jahre her

Die Zahl der zu therapierenden Kinder steigt mit der Zahl der Therapeuten. In unserer Zeit ist man nur „in“ wenn der Nachwuchs an mindestens einer Modeerkrankung leidet, noch besser wenn eine Gluten Überempfindlichkeit, sonstige Allergie oder
Laktose-Intoleranz hinzukommt.
Hat schon mal jemand die Eltern auf das Münchhausen-Syndrom untersucht?