Nein, das Grundgesetz spricht nicht von „Gleichstellung“

Wie Medien und Politiker in der Debatte um das ‚Paritätsgesetz’ die Verfassung schon mal ein bisschen umschreiben

In der Diskussion über Geschlechterquoten bei der Kandidatenaufstellung von Parteien geht es auch um die Frage: Was steht zum Verhältnis der Geschlechter im Grundgesetz? Die Redaktion des ZDF-Heute-Journals behauptet, die Verfassung verlange „Gleichstellung“. Auch das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND), das mehrere dutzend Zeitungen in Deutschland mit seinen Beiträgen versorgt, suggeriert eine entsprechende Vorgabe im Grundgesetz. Nur: Von „Gleichstellung“ steht dort nichts. Die Journalisten schreiben den Wortlaut von Artikel 3 an einer kleinen, aber entscheidenden Stelle einfach um – und erwarten offenbar, dass es ihrem Publikum nicht auffällt.

„Laut Grundgesetz muss der Staat die tatsächliche Gleichstellung von #Frauen und Männern fördern“, schreibt die heute-Redaktion per Twitter.

— ZDF heute (@ZDFheute) July 8, 2020

Tichys Einblick fragte beim ZDF, auf welchen Wortlaut des Grundgesetzes sie sich dabei bezieht.

Freundlicherweise antwortet der Sender:

„Auf Artikel 3 / Abs.2 GG:

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Der kleine Unterschied in Absatz 2: Dort steht „Gleichberechtigung“, nicht „Gleichstellung“.

Auf die Nachfrage, ob dem ZDF der Unterschied entweder nicht auffällt oder unbedeutend erscheint, antwortet die Pressestelle:

„’Gleichberechtigung’ bedeutet durchaus auch Gleichstellung in allen Lebensbereichen. Aber das ist ein Stück weit auch immer Interpretationssache. Aber natürlich haben die Kollegen den Artikel nicht wortwörtlich übernommen – da haben Sie Recht.“

Es spräche nichts dagegen, wenn sich jemand aus der heute-Redaktion in einem Meinungsbeitrag für Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft aussprechen würde. Hier allerdings suggeriert der Sender, das Grundgesetz würde etwas Bestimmtes vorgeben – zitiert es dann aber nicht „wortwörtlich“, sondern ein bisschen anders.

In der Debatte um das so genannte Paritégesetz, das Parteien bei der Aufstellung von Wahlkandidaten eine 50-50-Quotierung von Frauen und Männern vorschreiben soll (Diverse dürfen in beiden Blöcken kandidieren), spielt eben dieser Unterschied von Gleichberechtigung und Gleichstellung eine entscheidende Rolle.

Gleichberechtigung bedeutet, dass jeder die gleichen Chancen besitzen soll, für einen Listenplatz zu kandidieren.

Es lässt sich darüber streiten, ob aus ‚Gleichstellung’ schon folgt, dass Parteien Kandidaten beider Geschlechter in gleicher Größenordnung auf die Wahllisten platzieren müssen – aber der Begriff kommt dieser ‚Parität’ schon ziemlich nahe, und wird von den Zwangsquotenbefürwortern auch so interpretiert. Nur findet er sich eben nicht in der Verfassung.

Genau diesen kleinen Unterschied zwischen gleichem Recht und gleicher Stellung dürften die Thüringer Verfassungsrichter im Blick gehabt haben, als sie vor wenigen Tagen das von der rot-rot-grünen Regierungsmehrheit beschlossene Paritätsgesetz für verfassungswidrig erklärten. Es komme darauf an, dass jeder die gleichen Chancen für seine Kandidatur habe, so die Richter. Aber Parteimitglieder dürften nicht dazu gezwungen werden, bestimmte Kandidaten zu wählen. Eine Zwangsquote würde die innere Organisationsfreiheit von Parteien weitgehend beseitigen. Das ergibt sich nicht nur aus der Thüringer Verfassung, sondern, siehe oben, auch aus dem Grundgesetz. Vom Chancengleichheitsgebot für Männer und Frauen und der Organisationsfreiheit von Parteien abgesehen – der Verfassung ist auch identitäres Denken fremd, wonach bestimmte Bevölkerungsgruppen mit bestimmten Quoten in Parlamenten vertreten sein müssten. Nach Artikel 38 Grundgesetz sollen alle Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes“ sein.

Mit dem Unterschied zwischen Gleichberechtigung und Gleichstellung argumentierte auch der Wissenschaftliche Dienst des Landtags von Brandenburg in einem Gutachten vom 18. Oktober 2018, in dem zwei Juristen (übrigens ein Mann und eine Frau) das dortige Paritégesetz als verfassungswidrig verwerfen:

„Darüber hinaus ist fraglich, ob das Gleichberechtigungsgebot überhaupt dazu geeignet sein kann, Beeinträchtigungen von Gleichheitsgrundrechten – hier der Wahlgleichheit – zu rechtfertigen. Wie bereits dargestellt bildet es eine Ergänzung zum Verbot der Differenzierung wegen des Geschlechts; es soll dessen Schutz nicht verkürzen. Abermals gilt zudem, dass das Gleichberechtigungsgebot nicht zur Rechtfertigung starrer Quotenregelungen herangezogen werden kann, da es in seiner freiheitsverstärkenden Funktion auf die Herstellung von Chancengleichheit, nicht von Ergebnisgleichheit gerichtet ist.“

Die beiden Autoren weisen außerdem darauf hin, dass im Brandenburger Landtag Frauen im Vergleich zu den Kandidaturen sogar überrepräsentiert sind: Sie stellten bei der letzten Wahl 30 Prozent der Landtagskandidaten, besetzen aber 40 Prozent der Mandate – was darauf schließen lässt, dass sie häufiger als Männer aussichtsreiche Listenplätze bekamen.

Wie die heute-Redaktion serviert auch das Redaktionsnetzwerk Deutschland seinen Lesern einen alternativen Grundgesetzinhalt. In einem Beitrag unter der Überschrift
„Rita Süssmuth: Thüringer Paritätsurteil ist rückwärtsgewandt“

wird die frühere Parlamentspräsidentin als Kronzeugin bemüht.
“Das Urteil ist bedauernswert rückwärtsgewandt”, zitiert RND Süßmuth: “Die Gesellschaft ist heute schon viel weiter. Sie will die Gleichstellung von Frauen und Männern – auch im politischen Raum und gerade in den Parlamenten.“
Was soll es eigentlich bedeuten, die Gesellschaft sei „weiter“? Weiter als das Grundgesetz?

Der RND-Artikel lässt eine von Süssmuth zusammengestellte „Arbeitsgruppe“ ehemaliger Verfassungsrichterinnen zu Wort kommen, und zitiert halb indirekt, halb direkt die frühere Verfassungsrichterin und ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Renate Jaeger, die sich für eine staatliche Zwangsquote ausspricht: „Die in Artikel 3 geforderte staatliche Förderung der tatsächlichen Gleichstellung lasse sich ‚nur schwer durch die aufwendige, kleinteilige Beseitigung vielfältiger Hindernisse erreichen’”.

Auch hier wieder: Gleichstellung statt Gleichberechtigung. Den Wortlaut von Artikel 3 zitiert RND in seinem Beitrag nicht – sonst fiele der Unterschied ja auf.

Verfassungsrechtler, die gegen die Parität argumentieren – immerhin die Mehrheit der Verfassungsjuristen in Deutschland – kommen in dem Artikel nicht zu Wort. Die Urteilsgründe des Thüringer Verfassungsgerichts erwähnt der Beitrag nur in einem stark verkürzenden Satz ganz am Ende. Das muss der Qualitätsjournalismus sein, für den sich RND und der Madsack-Verlag selbst loben.

Die Taz und der WDR-Redakteur Georg Reste stellen praktischerweise gleich fest, dass es auf den Wortlaut einer Verfassung gar nicht ankommt, sondern auf die „Interpretation”, worunter man offenbar die gefühlte Richtigkeit eines Vorhabens versteht.

In ihrem Bemühen, einen Verfassungsartikel klammheimlich umzuschreiben, damit er zu einem Projekt linker Identitätspolitik passt, befinden sich ZDF und RND im Gleichschritt mit Politikern der CDU, der Grünen, SPD und der Linkspartei, die das Paritégesetz vorantreiben – unabhängig davon, was im Grundgesetz steht, und was ein Verfassungsgericht dazu meint.

„Das heutige Urteil des Landesverfassungsgerichts Thüringen über das Paritätsgesetz ist ein Rückschlag“, erklärte die Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Cornelia Möhring am 15. Juli, und behauptet:

„Das Landesverfassungsgericht Thüringen hat zwar das Paritätsgesetz in Thüringen als nicht mit der Thüringer Verfassung vereinbar angesehen und für nichtig erklärt. Da sich das Urteil in der zentralen Argumentation ausschließlich auf Thüringen bezieht, wird es aber keine Relevanz für die Bundesebene entfalten.“

Dann folgt – offenbar unvermeidlich – der Begriffsaustausch:

„Die strukturelle Diskriminierung, die für Frauen beim Zugang zu Parlamenten existiert, wird eben nicht durch etwas Wohlwollen beseitigt. Das Thüringer Verfassungsgericht verkennt die strukturellen Ursachen, indem es lediglich auf die formal gleiche Wahl- und Teilnahmeberechtigung abstellt… Ein solcher Schritt leitet sich aus dem Gleichstellungsgebot in Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz ab und rechtfertigt durchaus Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze und die Chancengleichheit der Parteien.“

Möhring kündigt an, ihre Partei werde jetzt „konsequent den Kampf auf Bundesebene“ für die Zwangsquote führen.

Möglicherweise führt dieser Kampf dazu, dass in Artikel 3 tatsächlich demnächst „Gleichberechtigung“ gegen „Gleichstellung“ ausgetauscht wird. Angela Merkel hat ihre grundsätzliche Sympathie für diesen Gesellschaftsveränderungsschritt schon signalisiert.

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