Tichys Einblick
Bundesregierung verweigert die Auskunft

Evolution eines Begriffs: Afghanische Ortskräfte sind nicht mehr Ortskräfte

Die Bundesregierung lässt eine parlamentarische Anfrage zur Zahl der noch zu evakuierenden afghanischen Ortskräfte unbeantwortet. Der Ortskräfte-Begriff wird allmählich entgrenzt, das Ortskräfteverfahren ausgedehnt.

IMAGO / ZUMA Wire

Die parlamentarische Anfrage mit der Nummer 21-08-0186 zur anhaltenden Evakuierung afghanischer »Ortskräfte« nach Deutschland ist nun bald zwei Monate alt, aber bislang von der Bundesregierung unbeantwortet. Die beiden Fragen, die die stellvertretende AfD-Fraktionsvorsitzende Beatrix von Storch am 16. August stellte, sind keineswegs kompliziert oder wortreich formuliert. Die erste lautet: »Wie groß ist die Zahl der Ortskräfte, die in Afghanistan für die Bundeswehr und andere deutsche Einrichtungen tätig waren?« Die zweite: »… wie groß schätzt die Bundesregierung die Zahl derjenigen, die als Ortskräfte und deren Familienangehörige anstreben, nach Deutschland einzureisen?« 

Eine Woche hat die Bundesregierung normalerweise für die Beantwortung solcher Fragen Zeit, und das wird auch meist bis auf wenige Tage eingehalten. Doch nicht in diesem Fall. Was könnte der Grund dafür sein? Ein Katz-und-Maus-Spiel vor der Wahl? Gönnte man dem politischen Gegner keine Pointe im Rennen um die Mandate? Oder dem Wahlvolk nicht die Wahrheit? Oder gibt es übergeordnete Gründe für eine solche Informationsverweigerung?

Fest steht, dass die Evakuierung der sogenannten »Ortskräfte« weitergehen soll. Laut Informationen des Spiegel sollen in den kommenden Monaten jede Woche 200 Afghanen über Pakistan eingeflogen werden. Die Bundesregierung führt dazu nach Auskunft des Innenministeriums (BMI) zwei Listen: zum einen die Ortskräfteliste (die zwischen BMI und BAMF entsteht), daneben die sogenannte »Menschenrechtsliste«, auf der weitere Schutzbedürftige aus der »Zivilgesellschaft« verzeichnet werden. Diese Liste wird vom Außenamt geführt, das gegenüber TE allerdings sogar von drei Listen sprach. Das BMI verneint die Existenz weiterer Listen, was das Ortskräfteverfahren angeht. Die »besonders gefährdeten Personen« will man hier nicht mit den Ortskräften vermengen, zieht aber auch keinen klaren Trennstrich.

Die Hauptauskunft des BMI ist: Die Listen sind nicht fertig. Sie können laufend ergänzt werden, da das Ortskräfteverfahren der Bundesregierung für Afghanistan noch »nicht geschlossen« sei. Laut Spiegel stehen auf der sogenannten Menschenrechtsliste »Afghanen, die sich besonders für die Demokratie vor Ort eingesetzt haben«, zum Beispiel auch »im Bereich der Wissenschafts- oder Kunstfreiheit«, daneben »afghanische Helfer von deutschen Presse- und Medienorganisationen«. Die Laxheit der Kriterien könnte einem Großteil der westlich inspirierten »Zivilgesellschaft« Afghanistans den Weg in ein Flugzeug nach Deutschland öffnen.

Das lange Schweigen der Bundesregierung

Von Storch zeigte sich gegenüber TE empört über die ausbleibende Information des Bundestags: Die Bundesregierung trete »die Kontrollrechte des Parlaments mit Füßen« und zeige so »ihre Verachtung für die grundgesetzlich verankerte Gewaltenteilung«. In der Sache, so vermutet die stellvertretende Fraktionsvorsitzende, wolle die Bundesregierung verhindern, dass sie »die von ihr angestrebte und bereits angelaufene Massenmigration aus Afghanistan zahlenmäßig festlegen und damit begrenzen müsste«.

Inzwischen wirft vor allem das lange Schweigen der Regierung Fragen auf. Laut der Welt scheut man konkrete Zahlen an dieser Stelle, um nicht indirekt Werbung für Schleuser zu betreiben und so Deutschlands Hilfsbereitschaft zu bewerben. Angeblich will das Innenministerium die Zahl der Einreisenden möglichst niedrig halten und den Prozess so weit verlangsamen, dass man die vermeintlich Schutzbedürftigen zumindest vorprüfen kann.

Doch diese Begründungen überzeugen nur zum Teil, und sie können vor allem nicht das Fragerecht des Parlaments einschränken. Auch Unwissen schützt nicht vor der Pflicht, hier Farbe zu bekennen. Gefordert war eine Angabe zum aktuellen Wissensstand und eine Schätzung darüber hinaus. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, den deutschen Bürgern und dem neu konstituierten Bundestag diese Antworten zu verweigern. Tatsächlich drängt sich ein anderer Verdacht auf, nämlich der, dass die Zahlen noch immer in Bewegung sind. Die Bundesregierung befindet sich auf einer schiefen Ebene, die sie selbst errichtet hat. Am Ende könnte man noch eine andere Erklärung für die ausbleibenden Antworten finden: Die Bundesregierung ist schlicht verwirrt. Denn seit dem 16. August hat sie selbst die Definition des Begriffs »Ortskraft« weitgehend verändert.

Regierungsamtliche Salamitaktik

Am 16. August hatte sowohl Angela Merkel (CDU) als auch Heiko Maas (SPD) die Gesamtzahl der deutschen Ortskräfte auf 2.500 beziffert, von denen zu jenem Zeitpunkt allerdings schon 1.900 in Deutschland gewesen seien. Demnach verblieben damals 600 Ortskräfte im Land, das waren offenbar diejenigen Afghanen, mit denen die Bundesregierung zum aktuellen Zeitpunkt zusammenarbeitete.

Daneben sprach die Kanzlerin von zunächst 10.000, dann recht nebulös von »10.000 bis 40.000 Menschen«, die man insgesamt aus Afghanistan retten müsse. Parallel wollte sich auch Horst Seehofer nicht mehr festlegen, wie viele Menschen letzten Endes aus Afghanistan nach Deutschland kommen sollten: Vielleicht würden es 5.000 sein, vielleicht aber auch 10.000, aber eher keine fünf Millionen, wie der CSU-Politiker wohl im Scherz bemerkte. Wobei, wenn man einen von Seehofer mitgelieferten Rechenschlüssel benutzt, werden schon aus 5.000 Ortskräften durch den mitreisenden Familienanhang im Handumdrehen 25.000 Zuwanderer, die in dem Fall kein Asylverfahren zu durchlaufen haben. Im Schnitt bringe jeder Evakuierte vier Angehörige mit. Es gilt also: Aus eins mach fünf.

Doch erst nach Seehofers Pressekonferenz ohne genaue Zahlen vom 20. August setzte die wundersame Vermehrung der »Ortskräfte« so richtig ein, indem das erforderliche Einsatzjahr immer weiter in die Vergangenheit verlegt wurde. Nach neuestem Stand werden sämtliche Zuarbeiter der vier involvierten Bundesministerien (Auswärtiges, Verteidigung, Inneres und Entwicklungshilfe) als schutzbedürftig angesehen, deren »Beschäftigungsverhältnis nicht vor 2013 endete«.

Bislang wurden von der Bundeswehr gut 5.400 Afghanen nach Deutschland eingeflogen, und zwar keineswegs nur Ortskräfte mit ihren Familien. Bald schon wurde klar, dass unter den »Geretteten« auch Personen waren, die ganz und gar nicht schutzbedürftig waren – darunter aus Deutschland abgeschobene Straftäter und einige islamistische und terroristische Gefährder. Die Bundesregierung bezifferte die evakuierten Ortskräfte kurz vor der Bundestagswahl auf lediglich 272 bzw. mit Familienanhang 1.264 Personen. Das waren zwar nur knapp die Hälfte der Mitte August angegebenen 600. Unklar bleibt aber auch, wer die übrigen gut 4.100 Evakuierten waren.

Beginnende Umdeutung des Begriffs Ortskräfte

Der AfD-Europa-Abgeordnete Bernhard Zimniok hatte schon Mitte August vor einer sinnwidrigen Ausweitung des Ortskräfte-Begriffs und einer daraus folgenden neuen Einwanderungswelle in die Bundesrepublik gewarnt. Die Ausweitung fand demnach in zwei Richtungen statt: Einerseits galten fortan nicht nur Zuarbeiter der Bundesregierung und ihrer nachgeordneten Institute, etwa der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), als Ortskräfte, sondern auch die von »diversen Stiftungen und NGOs«. Zudem wurde der Begriff zeitlich entgrenzt: Es reichte nunmehr aus, »zu einem beliebigen Zeitpunkt« und beliebig lang für eine der besagten Organisationen tätig gewesen zu sein. Diese Angaben beruhten offenbar auf Diskussionen im Entwicklungsausschuss des Bundestags.

Anfang September machte die Bild-Zeitung diese Überlegungen der Großen Koalition einem größeren Publikum bekannt. Wo die Kanzlerin zuvor von 10.000 bis 40.000 Menschen gesprochen hatte, durften nun 50.000 als neue Marke gelten. »Interne Berechnungen aus dem Bundestag« ergaben, dass im genannten Zeitraum von 2013 bis 2021 allein für das Entwicklungshilfeministerium bis zu 8.000 Ortskräfte gearbeitet haben sollen. Hinzu kommen 1.700 Zuarbeiter für die Bundeswehr und 300 für das Innenministerium. Alles in allem also 10.000 Ortskräfte, zu denen – gemäß der Seehofer-Formel – noch rund 40.000 nahe Verwandte gehören. Das dürfte keine Übertreibung sein.

Die vollendete Umdeutung

Im Gegensatz zur Anfrage der AfD hat die Bundesregierung parlamentarische Fragen der Grünen noch beantwortet. Am 20. September – zehn Tage nach Einreichung der Fragen – kamen 114 Antworten der Bundesregierung auf 114 Fragen aus der Fraktion Grüne/Bündnis 90 zur »Aufarbeitung« des Afghanistan-Desasters. An der Überlastung der beteiligten Arbeitskreise in den Ministerien kann das Ausbleiben der Antwort auf die Storch-Anfrage also kaum liegen.

In diesen 114 Antworten wird auch die radikale Umdeutung des Ortskräfte-Begriffs offen vollzogen: Unter Ortskräften seien »diejenigen Afghaninnen und Afghanen, etwa aus Zivilgesellschaft, Medien, Kultur und Wissenschaft«, zu verstehen, die »die Bundesregierung bis zum Ende der militärischen Evakuierungsaktion als besonders gefährdet identifiziert hat und denen eine Ausreise in Aussicht gestellt wurde«. Ortskraft wäre neuerdings also nicht mehr, wer im weitesten Sinne für die Bundesregierung und ihre nachgeordneten Stellen arbeitete, sondern jeder Afghane, der in den genannten Feldern (Zivilgesellschaft, Medien, Kultur und Wissenschaft) tätig war und von der Bundesregierung als gefährdet identifiziert wurde.

Das ist ein Eingeständnis von großer Offenheit. Die Bundesregierung – oder das Ressort, das hier für sie spricht – hat den sachlichen Diskurs über ihre eigenen Ortskräfte beendet. Sie hat eine rationale, eindeutig abgrenzbare Definition des eigenen Vorhabens (Evakuierung von Ortskräften der Bundesregierung) aufgegeben zugunsten der moralischen Überlegenheit, die im Ausfliegen der afghanischen Intelligenzia zu bestehen scheint. Wie gut, dass die Grünen gefragt haben.

Daneben gibt die Regierung auch zu, die »genaue Zahl« dieser Ortskräfte neuen Typs »derzeit« nicht zu kennen, sondern sie zu »eruieren«, und verweist darüber hinaus auf ihre Vielbeschäftigtheit (vgl. Frage 19 https://dserver.bundestag.de/btd/19/325/1932505.pdf). Natürlich: Zum Durchzählen der bestehenden Listen konnte in jenen Vorwahlwochen niemand kommen. Auf die parallele Fragestellung der AfD-Abgeordneten von Storch gibt es dagegen bis heute keine Antwort, auch nicht die, dass man noch beim »Eruieren« sei.

BMI: Die Listen sind nicht geschlossen

Das Innenministerium erklärte nun gegenüber TE, dass die Listen »nicht geschlossen« seien, da ehemalige »Ortskräfte« jederzeit neue Anträge stellen könnten (»es steht Betroffenen frei, jederzeit eine Gefährdungsanzeige zu stellen«). Das BMI nennt in seiner Antwort an TE neben den Ministerien, Institutionen zur Entwicklungszusammenarbeit, Kulturmittlerorganisationen (DAAD, Goethe-Institut, Deutsche Welle) auch »politische Stiftungen« als mögliche Ex-Arbeitgeber von ehemaligen Ortskräften.

Des weiteren könnten die beteiligten Ministerien, so das BMI, auch die Mitarbeiter von »Sub- und Werkvertragsunternehmern dem Ortskräfteverfahren« unterstellen. Welche politischen Stiftungen oder NGOs in dieser Weise berücksichtigt werden, kann das BMI allerdings nicht sagen – das scheint Sache des Außenamts zu sein. Zur Nichtbeantwortung der Frage von Beatrix von Storch liegen dem BMI »keine Erkenntnisse vor«. TE hat auch beim Außenamt und beim Verteidigungsministerium um Aufklärung der Causa gebeten, die aber ausblieb. Falls noch Antworten kommen, werden sie natürlich nachgeliefert.

Deutschland will laut Außenminister Heiko Maas (SPD) den Taliban in den nächsten Monaten insgesamt 600 Millionen Euro humanitäre Hilfe geben. Um genau diese humanitäre Hilfe zu organisieren, plädierte Maas beim G20-Außenministertreffen am 22. September https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2483868  für den ungehinderten Zugang von Hilfsorganisationen und anderen Helfern nach Afghanistan – bei gleichzeitiger Evakuierung des eigenen Hilfs-, NGO- und Subunternehmerpersonals aus 20 Jahren Afghanistan-Einsatz. Finde den Fehler. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln, so geht offenbar humanitäre Außenpolitik à la SPD.

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