Tichys Einblick
Kanzlerin und Vizekanzler

Der Fall Wirecard: Die Regierungsspitzen sind doch verstrickt

Gestern der Vizekanzler, heute die Kanzlerin im Wirecard-Untersuchungsausschuss: Wenn Ahnungslosigkeit in Verantwortungslosigkeit umschlägt.

IMAGO / IPON

Der Bilanzskandal um das frühere deutsche DAX-Vorzeigeunternehmen Wirecard, dessen Gesamtschaden heute bereits auf rund 20 Milliarden Euro taxiert wird, ist erstmals wieder in die Top-Schlagzeilen gerückt, weil Olaf Scholz und Angela Merkel als Zeugen im Untersuchungsausschuss des Bundestags auftreten mussten. Gemessen an der dramatischen Pleite eines von Politik und Medien über Jahre gehätschelten Fintech-Unternehmens, haben es Spitzenpolitiker der Großen Koalition im Windschatten der Corona-Pandemie lange verstanden, die Aufarbeitung im Ausschuss auf relativ kleiner öffentlicher Wahrnehmungsschwelle zu halten.

Ohne die Arbeit im Ausschuss, die über Monate vor allem von den drei Oppositionsabgeordneten Danyal Bayaz (Grüne), Fabio di Masi (Linke) und Florian Toncar (FDP) vorangetrieben wurde, hätte die Öffentlichkeit wohl kaum von den Insidergeschäften von Mitarbeitern der dem Finanzministerium unterstehenden Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) erfahren, die mit Wirecard-Aktien spekulierten, wären weder der BaFin-Präsident und eine Spitzenbeamtin in der BaFin noch der Chef der Wirtschaftsprüferaufsicht und andere Verantwortliche abgelöst worden. Dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY ihre Testate für Wirecard offenbar nach dem Drei-Affen-Prinzip ausstellte, hat sie inzwischen längst Reputation und lukrative Aufträge gekostet.

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Der Bundesfinanzminister erklärte sich in der Causa Wirecard verbal von Beginn an zum Oberaufklärer. Doch sein Haus lieferte nur scheibchenweise die angeforderten Akten an den Ausschuss. Manchmal trafen hunderte von Aktenordnern erst unmittelbar vor der Zeugeneinvernahme von hochrangigen und ihm unterstellten Mitarbeitern ein – etwa im Fall des später geschassten BaFin-Chefs. Der Zweck der Camouflage war immer klar. Olaf Scholz ist Kanzlerkandidat der SPD und darf nicht durch den Wirecard-Skandal kontaminiert werden.

Doch sein Auftritt im Ausschuss hat gestern einmal mehr seine Teflon-Qualitäten belegt. Er wusste von nichts, auch wenn die Leitungsebene seines Hauses in Gestalt von Staatssekretär Jörg Kukies mehrfach mit Wirecard-Chef Braun zusammengetroffen war. Im Ausschuss verteidigte Scholz seinen Staatssekretär noch einmal ausdrücklich. Doch vorgetäuschte Ahnungslosigkeit schützt nicht vor Verantwortung. Das sollte der Vizekanzler und Finanzminister wissen, dem gestern in eigener Sache ein erstaunlicher Fauxpas unterlief. Auf Druck des CDU-Obmanns im Ausschuss Matthias Hauer musste er erst nach hartem Nachfassen und der Vorlage von zwei Mail-Kopien zugeben, dass er auch von seinem privaten Mail-Account in Sachen-Wirecard Nachrichten versandt hatte. So schnell kann Ahnungslosigkeit demaskiert werden.

Heute machte die Kanzlerin im Untersuchungsausschuss auf ahnungslos. Es sei doch völlig normal, dass sich die Kanzlerin im Ausland für deutsche Firmen einsetze. Deshalb sei Wirecard nicht besonders behandelt worden, als sie sich bei einem Regierungsbesuch im China im September 2019 für den Markteintritt des Finanzdienstleisters in China stark gemacht habe. Dass die seriöse britische Financial Times bereits im Februar 2019 in drei gut recherchierten Beiträgen aufgedeckt hatte, dass Wirecard-Mitarbeiter in Singapur Kunden und Umsätze erfunden hatten, war im Kanzleramt offensichtlich nicht aufgefallen. Dass nach diesen Nachrichten der Börsenkurs von Wirecard infolge der Berichte von 167 auf unter 86 Euro abgestürzt war, wohl auch nicht. Zumal sich die BaFin dann am 18. Februar 2019 zu einem absolut ungewöhnlichen zweimonatigen Leerverkaufsverbot für die Wirecard-Aktie entschloss, mit dem sich die Aufsicht schützend vor die umstrittene Firma stellte. Gleichzeitig schaltete die BaFin die Münchner Staatsanwaltschaft ein, um gegen die zwei investigativen Journalisten der FT wegen Kursmanipulation zu ermitteln.

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Dumm nur, dass längst ruchbar geworden ist, dass ein gefallener politischer Superstar und ehemaliger Verteidigungsminister namens Karl-Theodor zu Guttenberg zuvor bei der Kanzlerin für Wirecard antichambriert hatte und dafür 900.000 Euro vom Unternehmen kassierte, wie das CSU-Ausschussmitglied Hans Michelbach heute dem Spiegel erzählte. Im Ausschuss erklärte die Kanzlerin heute, zu Guttenberg nach seinem Termin bei ihr an den Leiter der Wirtschafts- und Finanzabteilung im Kanzleramt Lars-Henrik Röller verwiesen zu haben. Ganz nebenbei: Die Ehefrau von Röller soll Wirecard mögliche Kooperationspartner in China vermittelt haben, erzählte heute der Grüne Obmann im Untersuchungsausschuss im Spiegel-Gespräch.

In den letzten Sitzungstagen haben sich besonders die Abgeordneten der noch regierenden Großen Koalition im Ausschuss wechselseitig bemüht, jeweils das parteipolitisch andere Lager mit dem Wirecard-Skandal zu kontaminieren. Den Linke-Abgeordneten di Masi bewogen die „emotionalen Spannungen“ im Regierungslager zum ironischen Kommentar, der „Job der Opposition ist schon zur Hälfte erledigt“.

Weitere Rücktritte sind trotzdem nicht zu erwarten. Die Zeiten, als Bobbycar-Geschenke Bundespräsidenten stürzten oder falsche Briefköpfe Wirtschaftsminister zum Rücktritt zwangen, sind längst passé. Die Wirecard-Connection im Bundesfinanzministerium und im Kanzleramt sitzt die Ausschussaufklärungsarbeit einfach aus. Im Zweifelsfall deckt man sich in der Regierungsspitze. Die geprellten Anleger – von Großbanken und institutionellen Investoren bis zu einfachen Bürgern, die Teile ihrer Altersversorgung in Wirecard-Aktien investiert hatten – werden vor Gericht um Schadensersatz kämpfen müssen. Mangels Masse wohl vergeblich!