Große Koalition: Murksen ist noch keine Wirtschaftspolitik

Die große Koalition steht vor einer Grundsatzentscheidung: Sie kann den eingeschlagenen Weg weitergehen und immer mehr Umverteilung des (noch ...) wachsenden Bruttosozialprodukts forcieren. Oder sie kann sich auf den Weg besinnen, der die Bundesrepublik Deutschland zu dem gemacht hat, was sie heute ist: zu der freiheitlichsten und demokratischsten Gesellschaft, die je auf deutschem Boden existiert hat und zu dem leistungsfähigen Industrieland, das ein Anker der Stabilität und des Wachstums auf unserem Kontinent ist. Diese Entscheidung stellt sich immer wieder neu. Für den einzuschlagenden Weg stehen historisch Karl Schiller und Ludwig Erhard.

Viele in der großen Koalition fühlen sich heute als Enkel des „Vaters“ der sozialen Marktwirtschaft – eine Wahlverwandtschaft mit Schieflage, denn Erhard war ein Advokat der Eigenverantwortung. Wie hätte nun Ludwig Erhard die Arbeit der Großen Koalition bewertet?

Fleißig ist sie schon, die große Koalition. In Rekordzeit bringt sie im Namen der sozialen Gerechtigkeit ein Großprojekt nach dem nächsten auf den Weg. Sie hat das Mütter- und Frühverrentungsgesetz verabschiedet, Mindestlöhne eingeführt, die Reform des Energiereformgesetzes reformiert, und im Herbst soll die Mietpreisbremse folgen. Widerstand gegen diese die Regeln der Marktwirtschaft außer Kraft setzenden Maßnahmen regt sich im Bundestag kaum – die ohnehin schwachbrüstige Opposition will ja auch nichts Grundsätzlich anderes, sondern mehr von demselben: höhere Mindestlöhne, höhere Renten für mehr Begünstigte, rüderes Vorgehen gegen Hauseigentümer.

Ein großer Denker hat viele Nachredner

Und dabei fällt auf: So, wie sich alle im Bundestag vertretenen Parteien letztlich gemeinsam hinter diese Projekte stellen, so berufen sich immer wieder alle quer durch alle Lager auf Ludwig Erhard – seine eigene Partei, die CDU, übrigens noch am vorsichtigsten. Sie wird schon wissen, warum. Bei der Linken ist Sahra Wagenknecht bemüht, sich als Schülerin des großen Wirtschaftsmeisters zu inszenieren. Sigmar Gabriel von der SPD hält Erhard-Gedächtnisreden. Nun ist es ja bekanntlich eine zweischneidige Sache damit, Vorbilder öffentlich aufs Podest zu hieven – denn kein Podest ist hoch genug, dass nicht Tauben das schöne Denkmal mit ihrer Hinterlassenschaft beflecken. Ebenso wenig vermag sich ein wissenschaftlicher Denker und Politiker wie Ludwig Erhard posthum gegen den Unsinn zu wehren, der über ihn verbreitet wird.

Wie aber hätte Erhard nun die Rentenreformen tatsächlich beurteilt? Eines der Grundprinzipien seiner Überlegungen war das, was man heute mit „Nachhaltigkeit“ umschreibt. Die Wirtschaft sollte so ausgestaltet sein, dass sie „Wohlstand für Alle“ dauerhaft schafft – so sein legendärer, programmatischer Buchtitel. Genau diesem Prinzip aber widersprechen, beide Teile der Reform, die der CDU so wichtige Mütterrente wie die Frühverrentungsprogramme der SPD. Denn eine Tatsache, die von niemandem ernsthaft bestritten wird, ist: Mit diesen Reformen vergleichsweise gut gestellte Rentenbezieher der Gegenwart noch etwas besser gestellt, die drohende Altersarmut kommender Rentnergenerationen aber verschärft. Sich dabei auf Erhard zu beziehen, heißt Schwarz in Weiß umzufärben.

Erhards Grundüberlegungen gehen ohnehin sehr viel tiefer, und seine Werke als Steinbruch für eigene Begründungsmosaike zu benutzen, macht keinen vernünftigen Sinn. Marktwirtschaftliche Politik war für ihn nicht kurzfristig instrumental, um ein momentan erstrebenswertes Ziel wie höhere Renten oder niedrigere Mieten zu erreichen. Marktwirtschaft ist kein Lenkungsinstrument in der Hand von Politikern und Bürokraten, die meinen, wirtschaftliche Prosperität administrativ, mit Gesetzen und Verordnungen herbeizaubern zu können. Wachstum, Innovation und Arbeitsplätze lassen sich auch heute nicht per Dekret und im Bundesgesetzblatt verankern.

Erhard-Light – das kann nicht funktionieren

Ludwig Erhard ging es um die Ordnung der Wirtschaft und gleichzeitig um eine Gesellschaft, die den Bürgerinnen und Bürgern ein Leben in Freiheit, Wohlstand und Eigenverantwortung ermöglicht. Gerade dieser Punkt aber ist es, der heute unterschlagen wird. Man meint offenbar, mit „Erhard light“ auszukommen. Aber das kann nicht glaubwürdig funktionieren, denn neben der spezifischen Betrachtungsweise über Aufgaben und Methoden der Wirtschaftspolitik war für Erhard eine über das Ökonomische hinaus gehende gesellschaftspolitische Sicht kennzeichnend.

Nicht leben müssen auf Kosten anderer

Die Wirtschaft umfasst einen zentralen Lebensbereich, der angemessen geordnet sein muss, damit sich gesellschaftliche und soziale Verhältnisse zufriedenstellend entwickeln. Kernpunkt der existenzsichernden Funktion von Wirtschaft ist, dass jeder für sich selbst sorgen kann und nicht auf Kosten anderer leben muss. Die Betonung liegt hier auf „muss“. Die Abhängigkeit weiter Bevölkerungsteile heute von Bürokratien, die Einkommen und Lebensstile verwalten, wäre für Erhard ein Gräuel gewesen. Die minutiöse, kleinteilige Durchleuchtung der Verhältnisse von Menschen und ihrer Lebens- weise, wie sie beispielsweise die Regelungen sozialer Unterstützungsleistungen heute erzwin- gen, hätte er als menschenunwürdig betrachtet.

Für Erhard bedeutete „sozial“ nicht, Marktwirtschaft mit möglichst viel Sozialpolitik zu verbinden. Eine Ausweitung der Sozialleistungen, wie sie derzeit von allen Regierungen als besondere Leistung beklatscht wird, stellt im Erhardschen Sinne im Gegenteil ein Versagen dar. Kurzfristige Umverteilung mag vielleicht bei extremen Situationen angemessen sein – sie ist aber nicht viel mehr als ein hilfloses Herumdoktern und Herumoperieren. Gelungene Wirtschaftspolitik sollte dazu beitragen, Menschen zu selbstbestimmtem Leben zu befähigen und es ihnen zu ermöglichen, ohne Formularschlacht mit dem Amt auszukommen.

Wirtschaft erfüllt eine soziale Funktion

Nach Erhards Vorstellung muss die Wirtschaftsverfassung so gestaltet sein, dass sie parallel und zugleich soziale Funktionen erfüllt: die direkte Teilhabe aller an wirtschaftlichen Fortschritten und Zuwächsen, ohne Umwege über den Staat oder über staatliche Kassen der sozialen Hilfe. Diese Vorstellung ist weder reines Wirtschafts- noch klassisches Politikprogramm. Ausgehend von der Wirtschaftswirklichkeit gilt für Erhard der Einzelne uneingeschränkt als mündig, seine Bedürfnisse stehen im Zentrum. Das schließt aus, dass das der Alltag und das Zusammenleben von Menschen in Normen gepresst, von vermeintlichen „Rationalitäten“ dominiert, im Hinblick auf soziale Ziele reguliert oder auf bestimmte Funktionen in Wirtschaft und Gesellschaft reduziert wird.

Erhards Sicht war aufgrund der Erfahrungen während des Nationalsozialismus von Misstrauen gegenüber planwirtschaftlichen, dekretierten Lösungen geprägt, die den Einzelnen noch dazu in eine ganz bestimmte, staatlich gewünschte Richtung leiten oder notfalls zwingen wollen. Und sie war geprägt von dem Wissen, dass Wirtschaft mehr ist als eine Waschmaschine, die von Politikern und Beamten bei Bedarf repariert werden kann. Deshalb war er gegen punktuelle Eingriffe – weil er die Risiken und Nebenwirkungen, das ganze Panoptikum von systematischen Wechselwirkungen kannte, die einzelne Maßnahmen auszulösen imstande sind.

Das Energiesystem ist keine simple Waschmaschine

Die Energiepolitik der jetzigen und ihrer Vorgängerregierungen ist hier das beste Anschauungsbeispiel: Erhard hätte leidenschaftlich gegen die marktbeherrschende Stellung der großen vier Stromkonzerne gekämpft. Aber er hätte sicherlich nie einzelne Techniken der Stromerzeugung subventioniert, wie es das Erneuerbare Energien-Gesetz vornimmt – in der Folge werden wir noch zwanzig Jahre überhöhte Strompreise für Solartechniken zahlen, die seit ebenfalls zwanzig Jahren überholt sind und erleben die brutale Umgestaltung letzter naturnaher Räume in Standorte für Stromfabriken, die mit dreistelligen Milliardenbeträgen subventioniert werden. Dies ist übrigens eine extrem unsoziale Politik: Arbeitnehmer, die in Mietskasernen wohnen, subventionieren wohlhabende Eigenheimbesitzer und Landwirte mit Solarstadel…

Wer gegenwärtig Politik im Sinne Erhards betreiben wollte, müsste Marktwirtschaft als Ordnungsprinzip verstehen und anwenden. Marktwirtschaft ist bei uns aber Lenkungsinstrument in der Hand von Politik und Bürokratie geworden – Wachstum, Innovation und Arbeitsplätze sollen per Dekret herbeizuführen sein. Es gibt kaum ein wirtschaftliches Problem, für das dem findigen Politikprofi keine Lösung einfiele – und genau darin liegt das Versagen eines heiß laufenden Politikbetriebes begründet, der sich mit seinen Reparaturmaßnahmen selbst ständig zu überholen trachtet.

Die Mietpreisbremse ist auch so ein Musterbeispiel: Nicht eine Wohnung wird dadurch mehr gebaut, eher weniger Wohnungen werden neu entstehen. Die Knappheit wird nicht mehr als verwaltet – das aber mit großen Worten und hohen Ansprüchen und zum langfristigen Schaden der Mieter. Politik im Sinne der sozialen Marktwirt- schaft hatte unter Erhard die Aufgabe, dass sich zugleich mit dem Herstellen marktwirtschaftlicher Ordnung die soziale Lage der Bevölkerung verbes- sert, sich „Wohlstand für Alle“ entwickeln kann.

Der Staat hält sich aus dem Wirtschaftsalltag heraus und setzt lediglich Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln, damit jeder mög- lichst aus eigener Kraft für sich sorgen kann. Das Mindestlohngesetz hätte vermutlich Erhards Billigung gefunden – sofern niedrige Löhne durch ausbeuterisches Verhalten von dominierenden Großunternehmen zu Stande kommen und letztlich durch den Missbrauch wirtschaftlicher Macht nach unten gedrückt werden.

Mindestlöhne nur bei Marktverzerrung

Tatsächlich jedoch werden weder in den Metropolen noch von den Großunternehmen Löhne unter dem Mindestlohn bezahlt. Entsprechende Fälle in nennenswerter Zahl gibt es vor allem in wirtschaftlich prekären Regionen, vielfach bei einfachen Tätigkeiten im öffentlichen Bereich und in den allermeisten Fällen für beruflich wenig qualifizierte Arbeitskräfte. Erhard hätte davor gewarnt, dass gut gemeinte Mindest- löhne vielen Begünstigten letztlich den Arbeitsplatz kosten können. Dass die Lohnfindung politisiert und – statt zwischen Arbeitgebern und Arbeitgebern ausgehandelt – Gegenstand von Wahlkämpfen wird, das kann beim besten Willen nicht als zielführende Ordnung des Arbeitsmarkts bezeichnet werden.

Wie lautet also das Urteil über die Arbeit der großen Koalition im Sinne Ludwig Erhards? Sicherlich hätte er viele Ziele anerkannt. Aber der Weg zu „Wohlstand für Alle“ ist dies nicht, sondern viel eher ein übereifriges Herumdoktern aus einem vermeintlichen wirtschaftspolitischen Allmachtsgefühl heraus. Erhard hätte das vermutlich Gefälligkeitspolitik genannt: Als gemeinsames Ziel ist immer nur der nächste Wahltermin erkennbar, aber keine dauerhafte Ordnung von Wirtschaft und Politik. Vergleichbare Kämpfe hat Ludwig Erhard zu seiner Zeit ausgestanden – gegen die frühe SPD, die die notwendige Korrektur erst durch das Godesberger Programm eingeleitet und unter Karl Schiller umgesetzt hat.

Vor diesem Hintergrund ist derzeit zweierlei bemerkenswert: einerseits der Rückfall der SPD in eine Frühzeit von Wirtschaftsfeindlichkeit und Umverteilung durch Sozialbürokratien und auf der anderen Seite die oft beschriebene Sozialdemokratisierung der Union. Aber es geht hier noch um weit mehr als Wirtschaft und Sozialpolitik. Obwohl die überwiegende Zahl der Menschen heute wohlhabender und dadurch selbstbestimmter sind – oder sein könnten – als zu Zeiten Ludwig Erhards, zeigt sich staatliches Vorgehen zunehmend als bevormundend und besserwisserisch.

Die Bürgerinnen und Bürger sehen sich immer mehr als Objekte staatlichen Handelns und immer weniger als freie Subjekte wahrgenommen – die freie Selbstbestimmung tritt in den Hintergrund zugunsten von Bevormundung und Betreuung. Das Bild des Menschen als solches hat sich gewandelt in unserer Gesellschaft. Darüber sollten wir nachdenken und diskutieren, denn dies geht tiefer als das eine oder andere mehr oder weniger gelungene neue Gesetz in Sachen „soziale Gerechtigkeit“.

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