Das Merkel-Mantra

Selten noch war eine Bankrotterklärung so seicht verpackt. Kein Aufschrei, keine Empörung. Kein irgendwas. Zwei deutsche Damen plaudern im Warmen und die Wirklichkeit bleibt draußen. Und die meisten Medien jubeln.

Zu einer anderen Zeit hätte es auch eine nette Plauderrunde werden können, was Anne Will und die Bundeskanzlerin da Mittwochabend abgeliefert haben. Aber leider haben wir einen Koffer voller Probleme.

Die jüngere der beiden startete wie immer mit ihrem an anderen Tagen unwiderstehlich spröden Charme. Und Angela Merkel wirkte wohl auch deshalb entspannter, als es der Ernst der Lage eigentlich zulässt, weil sie noch Stunden zuvor diesen Canossa-Gang mit Hollande vor dem Europäischen Parlament ohne ernsthafte Zwischenfälle über die Bühne bekommen hatte. Mal von einer Attacke Marine LePens abgesehen, die aber der französische Präsident so markig abwatschte, das man die ganze Zeit nur Sorge hatte, seine fuchtelnden Arme würden die eng neben ihm sitzende Deutsche k.o. schlagen. Also Millimeterarbeit im deutsch-französischen Verhältnis.

Inszenierung groß, Inhalt schwach

Ganz entspannt im Hier und Jetzt hingegen saßen sich die beiden Mädels in den bequemen Lederpolstersesseln des Berliner ARD-Studios gegenüber. Angela trug sogar noch den unionsblauen Blazer aus Brüssel, und Anne kam in aufregenden HighHeels und dunkel-changierendem Hosenanzug in knalleng.

Was die Welt bereits im Juli dieses Jahres über Merkel titelte, hätte auch für den Anfang dieser Sendung passen können: „nicht emotional beschränkt, nur sprachlich.“ Der Zuschauer hatte schon nach wenigen Minuten Mühe, sich daran zu erinnern, dass hier nichts weniger als ein Wendepunkt für Deutschland zur Debatte stand. Aber soviel vorweg, die Erwartungen wurden enttäuscht. Was hatte Anne Will sich gedacht? Frage für Frage mehr spürte man da eine eigenartige Befangenheit, die an diesen hypnotischen stillen Zustand erinnerte, bevor die Schlange die Maus frisst. Nur das hier der finale Biss einfach ausblieb.

Mitleid gegenüber der Kanzlerin kann es ja nicht gewesen sein. So eine gegenseitige Grundsympathie schon eher. Aber was wäre Anne Wills Auftrag gewesen? Es wäre um nicht weniger gegangen, als um eine Gegenwartsanalyse, eine kritische Ursachenanalyse und die perspektivische Betrachtung des Problems. Um Schuld und Handlungsunfähigkeit. Also um: Gestern, heute, morgen. Pustekuchen: Man hatte sich schnell darauf geeinigt, die kollabierenden Probleme rund um die Flüchtlingskrise als Naturgewalt oder -katastrophe anzunehmen.

Kein Biß in die Problemzone

Ein großer Fehler. Denn da hätte die Chance der Moderation liegen können: Zunächst einmal die Ursache der Flüchtlingsbewegung festzustellen, um diese dann knallhart mit den eklatanten Fehlentscheidungen und Versäumnissen der Bundesregierung aus der Vergangenheit zu erden. Was war den mit Syrien? Was mit dem US-amerikanischen Engagement im Nahen Osten? Was hatte die deutsche Außenpolitik versucht, um dieser Katastrophe entgegenzuwirken? Nichts.

Und als man von Berlin aus den Verheerungen der US-amerikanischen Militärpolitik nichts entgegenzusetzen wagte, ab wann hatte man die europäische Karte gespielt, um das Gemetzel zu beenden? Nie! Schon vergessen? Die Potentaten des Nahen Ostens waren die umworbenen Gesprächspartner Europas über viele Jahrzehnte. Alle Fäden zerschnitten und Chaos brich los!

Kommen wir zur Gegenwart: Das wäre der Moment der Wahrheit gewesen. Und er kam. Perfekt zusammengefasst von Focus online in einem erschütternden Satz: „Ratlos, nicht mutlos.“ Zugespitzt: Keine Ahnung, keinen Plan, aber immer noch ganz gaga-zufrieden.

Im stillen Ozean der Planlosigkeit

Und dann kam er aus den Tiefen der Fernsehsessel vom Magen in den Hals hochgeschossen, dieser kleiner Bruder einer 9/11-Emotion, diese Lähmungserscheinung, als man damals vor dem Schirm saß und die Flugzeuge einschlugen und man noch nicht wissen konnte, was das alles bedeutet und welche Katastrophen es nach sich zieht.

Der Blick auf Kinder, die mit Handgranaten spielen, als wären es Sandbackförmchen. Angela Merkel freimütig ahnungslos. Freimütig planlos. Freimütig perspektivlos. Der in Westdeutschland sozialisierte Mensch hat heute immerhin noch eine Vorstellung, was es bedeutet, Millionen mehrheitlich muslimisch-kulturell geprägte Menschen zu integrieren. Die 1960er bis 1990er Jahre haben da bei den BRD-Menschen ein großes Verständnis hinterlassen. Merkel kann dieses Verständnis nicht aus eigenem Erleben haben. Und sie selbst war es zudem, die noch 2010 eine deutsche multikulturelle Gesellschaft für gescheitert erklärte.

Die große Krise als New Normal
Merkels Nichtregierungs-Erklärung

Kommen wir also zur Zukunftsperspektive, die zwischen den Damen ebenso wenig verhandelt wurde. Wie bitteschön soll die Litanei eines „Wir schaffen das!“ darüber Auskunft geben, was morgen sein könnte? Nein, die naheliegend gigantischen Folgeprobleme wurden überhaupt nicht besprochen!

Doch, möglicherweise wird man sogar genug Baumärkte und Neubauwohnungen – Merkel versprach auch Konkretes: eine Entbürokratisierung der Bauvorschriften – schaffen können. Aber ausreichender Wohnraum steht erst ganz am Anfang einer Kette gewaltiger Integrationsprobleme gegen die sich die Integrationsaufwendungen der Vergangenheit wie ein Kindergeburtstag ausmachen werden.

Keine Sorge vor Facharbeiterschwemme

Fest steht doch schon längst, dass es keine Facharbeiterschwemme unter den Ankommenden geben wird. Die meisten bräuchten jene prekären Arbeitsplätze, die in den 1960er Jahren ausreichend vorhanden waren, aber solche Arbeit gibt es im Deutschland des 21. Jahrhundert nicht mehr. Und selbst, wenn es sie gäbe, würde sie auf schnellstem Wege ins mindestlohnfreie Ausland verschoben werden.

Nein, wir müssen uns jetzt ein Millionenheer von Menschen vorstellen, die noch über Jahre von staatlicher Unterstützung abhängen sein werden. Dieses Bild lag wie ein unsichtbarer Schleier über der Sendung, während im Hintergrund nur Merkels Selfie nebst „rankuschelndem Syrer“ (Zitat: Will) gezeigt wurde.

Und was das nun alles mit den gesellschaftlichen Verhältnissen macht, vor allem für die Folgegenerationen, ahnen wir nur zu genau. Deutschland wird sich verändern. Aber ganz anders, als es diese so verhängnisvoll im Tagesgeschäft geknebelten Politiker je für möglich halten würden. Selten noch war eine Bankrotterklärung so seicht verpackt. Kein Aufschrei, keine Empörung. Kein irgendwas.

Allerdings auch kaum Applaus im Publikum. Eine geradezu lähmende Ruhe. Ja, selbst ein paar Kanzlerinnen-Tränchen ob des eigenen Versagens hätten an der Stelle keinen Hurrikan mehr auslösen können. Eines immerhin hat diese unfassbare Demontage politischer Handlungsfähigkeit dann aber doch noch gezeigt: In diesem Wahrheitsmoment der Klarheit: „Wir schaffen das!“ ist keine Zuversicht, sondern nur eine Durchhalteparole, eine Litanei, ein Mantra.

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