SPD: Der König ist tot – es lebe der König

Tomas Spahn über Hintergründe und Zusammenhänge im Wechsel von Gabriel zu Schulz.

© Carsten Koall/Getty Images

Erinnern Sie, liebe Leser, sich noch? Am 8. Mai des vergangenen Jahres schrieben wir hier bei Tichys Einblick, dass SPD-Chef Sigmar Gabriel am nachfolgenden Montag seinen Rücktritt als Parteivorsitzender verkünden wolle. Sonntags-Talker Helmut Markwort sprach in seinem Stammtisch beim Bayerischen Rundfunk unabhängig von uns von ebensolcher Information. Unsere damalige Quelle befand sich in der Bundeszentrale der SPD. Worauf sich Markwort berief, wissen wir nicht – wir wissen nur: Die Quellen waren nicht identisch.

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Damals brach ein Sturm der Häme über die Verkünder herein – denn die sogenannten Qualitätsmedien waren ahnungslos geblieben und retteten sich gemeinsam mit dem ebenfalls ahnungslosen SPD-Kader in das Dementi. Wir wussten seinerzeit: Unsere Quelle war dicht und die Information stammte letztlich von Gabriel selbst. Denn er selbst hatte in kleinem Kreise kundgetan, am Montag hinzuschmeißen. Und immerhin – die BILD fand unsere Mitteilung doch so spannend, dass sie diese mit Quellen- und Autorenangabe zitierte. Die Bekanntgabe via TE und Markwort traf die SPD seinerzeit ins Mark – und es geschah, was geschehen musste: Die Berufenen und Unberufenen der Partei waren entsetzt, gaben ewig währende Treueschwüre auf den Vorsitzenden ab und beknieten ihn, die Partei auf keinen Fall im Stich zu lassen. Gabriel gab nach – und dementierte die Rücktrittsbehauptung.

So oder so weiter so …

Tatsächlich geändert hatte sich dadurch für ihn jedoch nichts. Die Partei liebte Gabriel noch immer nicht. Und sie liebte ihn noch weniger, als er mit seinem doppelten Gewicht als Parteichef und Bundeswirtschaftsminister im Herbst 2016 das CETA-Freihandelsabkommen mit Kanada durchboxte.  Im Rückblick betrachtet und angesichts der Isolationismustendenzen der neuen US-Administration war dieses vielleicht die weitsichtigste und wichtigste Handlung in der Dienstkarriere des ehemaligen Pop-Beauftragten der SPD.

Dem SPD-Parteichef blieb jederzeit bewusst: Als Kanzlerkandidat einer Rot-Rot-Grünen Regierungsoption – die trotz demoskopischer Unwahrscheinlichkeit einzig Denkbare, soll die Kür eines SPD-Kanzlerkandidaten nicht von vornherein unter die Rubrik „Fake-News“ fallen – wäre Gabriel zu Scheitern verurteilt. Die „radikale Linke“ selbst in den eigenen Reihen hatte ihm seine Nähe zum Agenda-2010-Kanzler und Gazprom-Aufsichtsrat Gerhard Schröder nie verziehen. Für die Grünen steht Gabriel als Vertreter der Rüstungs-Exporteure, Kohle-Kraftwerker und Einzelhandels-Marktmonopolisten ebenfalls nicht hoch im Kurs.

Gabriel als Kanzlerkandidat der SPD – das wäre für jedermann erkennbar die Option eines „weiter so“ der SPD als Juniorpartner der scheinbar alternativlosen Unions-Merkel gewesen.

Hinzu kamen bei Gabriel – das pfiffen nicht nur in Berlin die Spatzen von den Dächern – gesundheitliche Probleme. Mit seiner zweiten Frau Anke hat der 57-jährige Niedersachse eine vierjährige Tochter – und es spräche für seine Verantwortung als Vater, das Mädchen, das seinen Papa heute mehr aus dem Fernsehen als aus persönlichem Erleben kennt, nicht dem Stress der Partei-Intrigen zu opfern und das Risiko eines gesundheitlich angeschlagenen Endfünfzigers mit Verantwortungsbewusstsein ins Kalkül zu ziehen.

Von der Generalprobe zur Premiere

Es waren diese Überlegungen und die Zermürbung vorrangig aus den eigenen Reihen, die Gabriel bereits im vergangenen Mai sturmreif geschossen hatten. Gut vorstellbar, dass die damalige Veröffentlichung für Gabriel nichts anderes war als ein Testlauf. Denn es ist schon ungewöhnlich, dass die Publikation der Rücktrittsabsichten eines SPD-Bundesvorsitzenden über zwei Medienschienen lief, die sich nicht durch ihre unmittelbare Nähe zur SPD auszeichneten.

Nach der Generalprobe im Mai, mit der Gabriel sowohl die vorgebliche Nibelungentreue seines Umfeldes als auch die Abläufe durchgetestet hatte, kam nun die offizielle Premiere. Gabriel hatte aus den Undichtigkeiten des Mai gelernt und mit zwei personalpolitischen Änderungen die Möglichkeiten der Feinabstimmung erweitert.

Da war zum einen die bislang fulminanteste Fehlbesetzung im Außenamt, die sich durch Dauerbesorgnis ohne jegliche Wirkungskraft ausgezeichnet hatte. Gabriel war es gelungen, die Unfähigkeit und Unwilligkeit Angela Merkels bei der Durchsetzung Norbert Lammerts als adäquaten Bewerber für das Amt des Bundespräsidenten für die SPD zu nutzen, und Frank Walter Steinmeier zur Endverwendung ins Schloss Bellevue abzuschieben. Noch-Präsident und Amtsvorgänger Joachim Gauck nahm die Nachfolge scheinbar gelassen – obwohl die Auguren nach wie vor darüber rätseln, ob der Satz, den Gauck zur Ministerentlassung des Steinmeier verkündete, als Lob oder als Tadel gemeint war:

„Sprachlosigkeit ist der Tod der Diplomatie. Sie, Herr Bundesminister, haben aus dieser Erkenntnis eine Maxime gemacht.“

Da fragte sich doch mancher: Was nun hatte der ewig besorgte Steinmeier zu seiner Erkenntnis-Maxime gemacht: Den Tod der Diplomatie oder nur die Sprachlosigkeit?

Neue Freiheit im Außenamt

Wie auch immer – mit dem Schritt zurück, dem zwei Schritte nach vorn folgen sollen, wurde das Amt des Bundesaußenministers frei und dem zurücktretenden Wirtschaftsminister noch acht erfahrungsreiche Monate mit Weltreisen auf Steuerzahlerkosten kredenzt.

Wie wir Gabriel kennen, wird er anders als sein wirkungsloser Vorgänger auch noch den einen oder anderen Pflock in die Diplomatie schlagen – zumindest wird er es versuchen. Da die Zeit seiner Amtsinhabe endlich ist, muss Gabriel auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Denn nach den Wahlen wird entweder der dann Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz als selbsterklärter Welterklärer und diplomatischer Eintänzer den Vizekanzlerjob im Außenamt übernehmen – oder aber ein grüner Cem Özdemir wird diesen Job entweder unter Merkel oder unter Schulz beanspruchen.

Auch andere Ministerposten werden dem Goslarer kaum noch angedient werden. Da scharrt der ewige Opportunist Thomas Oppermann schon seit Jahren heftig mit den Hufen – und der „Linkspopulist“ Ralf Stegner kann es auch kaum noch abwarten, endlich bundesministerielle Weihen zu erhalten. Selbstverständlich sind da noch die Altbestände, die ungern von der Macht lassen möchten: Vom Vernichter der Meinungsfreiheit im Ministerium für Justiz über den ex-jungsozialistischen Club der Andrea Nahles und Manuela Schwesig bis hin zur verfassungsändernden Gesellschaftsüberwinderin Aydan Özoguz, nicht zu vergessen die Auslaufmodelle Barbara Hendricks und Brigitte Zypries – kaum eine der Damen wird gern zurücktreten, um den zumeist an Jahren reiferen Herren das Feld zu überlassen.

Mit jenem Genossen aus Würselen bot sich nun ein in Berlin noch nicht ganz so verbrauchtes Gesicht an. Martin Schulz, der im Europa-Parlament mit den Konservativen einen Präsidial-Job-Deal auf Time-Sharing-Basis ausgehandelt hatte, an den er sich, als er seinen Vertragsteil eingefahren hatte, nicht mehr halten wollte oder konnte, ließ seine Platzhirsch-Allüren nun in Berlin spüren – Straßburg konnte ihm als Nicht-mehr-Präsident nicht mehr das Feld bieten, seine überregionale Bedeutung angemessen in das rechte Licht zu setzen.

Warten auf den Messias

Die inhaltlich leergefegte Sozialdemokratie, die sich verzweifelt an die Schimäre der sozialen Gerechtigkeit klammert und damit immer nur Verarmung der Leistungsträger meint, suchte händeringend nach einem Messias, der ihr den Verbleib an den lukrativen Trögen der Macht sichern sollte.

Gabriel wusste dieses – und er wusste bereits im vergangenen Mai, dass die SPD mit ihm als Kanzlerkandidat weder zu einem grün angefärbten Volksfrontbündnis in der Lage wäre, noch er gar Merkels Führungsposition würde gefährden können.

Gabriel wusste dank Mai 2016 auch, dass jedweder Ansatz, die Frage seiner persönlichen Zukunft in den zuständigen Parteigremien zu erörtern, bereits im Vorfeld zu einer zermürbenden öffentlichen Diskussion einschließlich Demontage des bisherigen Vorsitzenden führen würde. Also ging er dieses Mal anders vor, bereitete den Coup im Geheimen mit einem SPD-treuen Chefredakteur unter dem Stern der Alt-68er vor. Und stellte so seine auf den Abend des 24. Januar nach Berlin geladenen Vorstandskollegen vor vollendete Tatsachen.

„Pop! Hier kommt der Hinterhältige!“

Die Zeichen standen günstiger als im Mai 2016. Steinmeier machte den Platz als Außenminister frei. Mister EU, Martin Schulz, erinnerte in der SPD an jenen Jack-in-the-Box, der, wie Wikipedia zu beschreiben weiß, als Clown aus einer zuvor geschlossenen Kiste springt, nachdem eine Melodie mit dem Titel „Pop! Hier kommt der Hinterhältige!“ gespielt wurde.

Ließ der ehemalige Pop-Beauftragte Gabriel nun mit Schulz den Springteufel aus der Kiste, nutzte er selbst die sich bietenden Möglichkeiten der Echternachschen Springprozession. Und tat damit etwas aus seiner Sicht überaus Kluges.

Als Kanzlerkandidat auf Platz geendet, hätte seine SPD ihn im Spätherbst erbarmungslos auf dem Altar sozialistischer Nächstenliebe geopfert. Als Verlierer der Wahl hätte er bestenfalls noch ein Ministeramt einfordern können – doch wozu? Um dann tatsächlich eher über kurz als über lang seiner überbeanspruchten Gesundheit den unvermeidbaren Tribut zu zollen?

Vor dem Spitzenkandidaten der SPD liegt ein nervenaufreibender Wahlkampf. Ein Hetzen von Termin zu Termin, ein öffentlicher Striptease nebst Shitstorm, Fake-News und sonstigen Unwägbarkeiten. Das wollte sich Gabriel nicht mehr antun – und er wollte es sich schon im Mai 2016 nicht mehr antun. Also schmiss er hin – und dieses Mal so, dass ihn niemand mehr daran hindern konnte.

Der König ist tot …

Erst schwiegen sie ganz kurz, die Granden der Sozialdemokratie, dann riefen sie den Messias aus. Allen voran Thomas Oppermann, jener einfallslose Fraktionschef mit der Attitüde des Oberstrebers, dem es zum Klassenbesten an Intellekt mangelt.

„Der König ist tot – es lebe der König“, glaubte man ihn laut rufen zu hören.

Die Situation in der Fraktion, in der Gabriel seinen Entschluss erläutern wollte, war symptomatisch. Genosse Oppermann wechselte im Eiltempo die Schleimspur und mochte seinen Parteichef schon nicht mehr zu Wort kommen lassen. Der allerdings setzte sein klassisch-überlegenes Lächeln auf und meinte nur kurz: „Entschuldige, Thomas – noch bin ich Vorsitzender!“

Das klang ein wenig so wie „Who the F… is Oppermann?“ Der Gemaßregelte wusste sich umgehend zu revanchieren und schrieb seinem Noch-Parteichef seinerseits großzügig die Funktion des „Dienenden“ im anstehenden Wahlkampf zu. Gabriel kann es egal sein. Er wird die letzten acht Monate seiner politischen Karriere nur noch sich selbst – und vielleicht ein wenig sogar Deutschland dienen. Die SPD jedoch hat er geschickt abgestreift und als die entleerte Hülle zurück gegeben, als die er sie einst übernommen hatte.

Das Ende einer Epoche und kein Neustart

So ist das wirklich Spannende an diesem Vorgang auch nicht, dass Gabriel den Büttel hingeschmissen hat. Dass es so kommen würde, war Insidern schon lange klar – auch wenn Hannelore Kraft noch im November vergangenen Jahres auf Kindergartenniveau ihr „Ich weiß man was, was Du nicht weißt“ herausplärrte und mit ihrem hoch geheimen Geheimwissen über die Kanzlerkandidatur herumprahlte. Als Gabriel nun die Partei überrumpelte, war die Dame aus Düsseldorf einmal mehr kraft- und sprachlos.

Wirklich spannend aber ist das Vorgehen Gabriels, weil es einen interessanten Blick in die Niederungen der SPD-Vorstandsolidarität erlaubt.

Üblicherweise hätte man in einer Partei wie der SPD erwarten müssen, dass über so bedeutsame Entscheidungen wie den künftigen Parteivorsitz und den des als Kanzlerkandidaten verkleideten Spitzenkandidaten der Vorstand berät und beschließt. Nicht so bei Sigmar Gabriel. Er schuf dieses Mal im absoluten Alleingang jene Fakten, an denen niemand mehr etwas ändern konnte. Der Partei, die ihn derzeit ausspuckt wie einen Kirschkern, schenkte er den Selbstdarsteller Schulz – und sich selbst  einen selbstbestimmten Abgang. Chapeau.

Gabriel beschimpft und Merkel hört nichts
"Europa steht vor der erneuten Zerstörung"
Was dabei den Wenigsten bislang zu Bewusstsein gekommen ist  – mit dem Abgang Gabriels endet in der SPD eine Epoche.  Schröder, Steinmeier, Gabriel, Oppermann und jener Sebastian Edathy, der über seine Vorliebe für die Fotos jugendlicher Männer gestrauchelt war, verkörperten die Niedersachsen-Mafia, die die SPD zwei Jahrzehnte dominieren sollte. Was bleibt ist das Leichtgewicht Oppermann. Er wird auf verlorenem Posten stehen. Der neue sozialdemokratische Messias strahlt aus dem Westen der Republik. Neue Inhalte allerdings wusste auch dieser Messias bislang nicht zu vermitteln. Die Sozialdemokraten rühren wie vor hundert Jahren immer noch im sozialen Gerechtigkeitsbrei herum – und übersehen dabei ein ums andere Mal, dass der klassische Arbeiter einer ausgestorbenen Gattung angehört, während das moderne Klientel des kleinbürgerlichen Prekariats sich längst radikaleren Alternativangeboten zugewandt hat.

Schulz, die europäische Lichtgestalt mit dem Strahlenkranz des frühchristlichen Sonnenkönigheilands, konnte zwar ein kurzfristiges Strohfeuer zur verspäteten Wintersonnenwendfeier entfachen – doch allein mit den alten Rezepten, viel EU und „Rechten“-Schelte in den Wahlkampf zu ziehen, wird nicht reichen. Die SPD klammert sich wie der Ertrinkende an die wenigen Planken eines untergegangenen Lastkahns – ihr fehlt nach wie vor die zündende Idee, der zukunftsweisende Impuls, um wieder als bedeutsam und systemrelevant zur Kenntnis genommen zu werden.

Ich bin ein Star …

So erinnert denn die aktuelle Party der Sozialdemokraten auch eher an jenen Trash-TV-Hit aus dem RTL-Dschungel, in dem sich die Abgehalfterten der D-Promi-Riege mit den Abfällen des längst Vergangenen überschütten lassen, nur um noch einmal ein wenig am flüchtigen Ruhm zu schnuppern. Gabriel hat heimlich einen letzten Stern gegriffen, bevor er sein „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ rief. Ob es Schulz in diesem Dschungelsumpf gelingen kann, seine fünf Sterne zu ergattern, ist mehr als fraglich – die eigentlichen Dschungelprüfungen stehen dem roten Messias erst noch bevor und am Ende wird er froh sein, wenn er sich mit zwei Sternen in die Fortsetzung der schwarzroten Koalition retten kann.

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