Immer feste druff: Die SPD und die Anstands-Keule

Wer immer wieder die Moralkeule schwingt und dabei „Anstand“ einfordert, könnte sich am Ende selbst die Frage stellen lassen müssen, wie anständig er ist. Nicht zuletzt dann, wenn der Anständigste aus den eigenen Reihen seinen Anstand längst an der Garderobe eines befreundeten Autokraten abgegeben hat.

Erinnern Sie sich noch? Im Jahre 2000 forderte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder einen Aufstand. Genauer: „Einen Aufstand der Anständigen“ – denn selbstverständlich wollte Schröder seinerzeit nicht zur Revolution aufrufen.

Mit Fackelzügen für den Anstand

Damals ging es darum, zusammen zu stehen gegen Anschläge auf Synagogen, deren Verantwortlichkeit Deutschlands damals führender Sozialdemokrat bei deutschen Rechtsextremisten vermutete. Tatsächlich handelte es sich – wie sich später herausstellte, bei den Tätern um einen Marokkaner und einen Jordanier, die mit ihrem Anschlag auf deutschem Boden ihren islamischen Kampf gegen das jüdische Israel ausfechten wollten.

Egal – der Ansatz schien dennoch richtig und nachvollziehbar – auch wenn mir persönlich etwas zu viel Theatralik im Spiel war. Dieses vor allem auch deshalb, weil im Gefolge der kanzlernden Anstandsforderung nach Aufstand die in solchen Fällen üblichen Übersprungshandlungen des Gutmenschen von Lichterkette bis befackelter Mahnwache folgten. Nicht nur, dass ich seit eh und je Lichterketten und Fackelaufzüge mit dem Nationalsozialismus und undifferenziertem Gruppenzwang assoziiere – meine Erfahrung sagte mir schon damals, dass für die meisten aufständischen Anständigen mit solchen Lichterketten genug den Anstandes getan sein wird. Kurze Aufwallungen eines schlechten Gewissens, die ein fackelndes, wohltuend kollektives Ventil  finden müssen. Und als nun unerwartet nicht deutsche Nazis sondern arabische Kämpfer gegen den aus Sicht zahlreicher Anständiger unanständigen zionistischen Unterdrückerstaat Israel der Taten überführt wurden, war es denn auch schnell vorbei mit Lichterketten und Mahnwachen.

Gleichwohl mutierte seinerzeit der bundesdeutsche Kanzler für mich zur Inkarnation des anständigen Deutschen. Und das, obgleich sein suboptimales Wahlergebnis ebenso wie sein wenig anständiger Auftritt am Wahlabend ihn in absehbarer Zeit in die politische Diaspora schicken sollten. Denn schließlich kann nur jemand den Anstand anderer einfordern, der selbst in Sachen Anstand über jeden Zweifel erhaben ist. Weshalb nun ich wiederum grundsätzlich meine Zweifel dann habe, wenn wer auch immer andere zum Anstand auffordert. Ganz unwillkürlich kommt mir dann das Jesus-Wort in den Sinn, wonach jener den ersten Stein werfe, der ohne Schuld sei.

Anstand gegen Petrorubel

Wie wenig Anstand und Politik manchmal zusammen gehen – das sollte der anständigste Deutsche, der den Aufstand der Anständigen gefordert hatte, anstandslos wenig später zeigen, als er dem zunehmend mehr in Ölrubeln schwimmenden russischen Präsidenten eine sowjetische Altschuld in Höhe von 7,1 Milliarden Euro schenkte, wofür jener sich nach Schröders Amtsverlust mit der Dauersubventionierung des Altkanzlers als Aufsichtsrat der Gazprom revanchierte. Seitdem hat für mich die Kombination von SPD und Anstand ein unanständiges Geschmäckle. Denn ohne jeden Aufstand Steuermilliarden verschenken und anschließend trotz Altersruhegeld die Tantieme eines fragwürdigen Freundes in die Tasche stecken – man könnte versucht sein, so etwas für unanständig zu halten.

Das aber hält die SPD nicht davon ab, ständig und immer wieder diese und andere Anstandsnummern aufstehen zu lassen.

Der belastete bürgerliche Anstand

Bereits im Jahr 2000 empfand der damalige SPD-Generalsekretär Franz Müntefering den hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch als „Belastung für den demokratischen Anstand”. Anlass der Feststellung des Sozialdemokraten, der später von der heutigen Bundessozialministerin auf wenig anständige Art ohne jeden Aufstand in der Partei der Anständigen abgeräumt wurde, war die Feststellung eines Untersuchungsausschusses, wonach eine Anzeigenkampagne des Christdemokraten über den CDU-Landesverband abgewickelt worden sein sollte. Immerhin aber verdanken wir der Einlassung Münteferings die Erkenntnis, dass es einen undemokratischen Anstand geben muss. Denn andernfalls machte der explizite Hinweis auf den „demokratischen Anstand“ keinen Sinn.

Im März 2010 holte SPD-Parteichef Sigmar Gabriel die Anstandskeule heraus, um sie gegen den Unionspolitiker Jürgen Rüttgers zu schwingen. Dieser scheine „jeden bürgerlichen Anstand” verloren zu haben, schimpfte der Niedersachse. Hintergrund war eine Attacke des CDU-Wahlkämpfers, bei der jener Gabriel als „hemmungslos, charakterlos” und „eine Schande für die deutsche Politik” bezeichnet hatte. Zugegeben – auch nicht nett. Aber den Anstand hatte Rüttgers dem Goslarer nicht abgesprochen. Weder den „bürgerlichen“ noch einen nicht-bürgerlichen, welchen man versucht sein könnte bei der explizit nicht-bürgerlichen SPD zu vermuten.  Doch stellt sich unvermeidlich auch die Frage, ob der nicht-bürgerliche Anstand des Sigmar Gabriel am Ende vielleicht identisch ist mit dem nicht-demokratischen des Franz Münterfering, Aber wäre dann nicht auch der nicht-bürgerliche, demokratische Anstand der SPD ein nicht-demokratischer, bürgerlicher Anstand? Wie auch immer – wir haben dank der führenden Sozialdemokraten gelernt, dass es nicht nur einen, sondern viele Anstände geben muss.

Von der Zuständigkeit der Anständigen

Im November 2011 dann reihte sich der immer-mal-wieder Außenminister Frank-Walter Steinmeier in die Reihen der SPD-Anständigen ein. Er forderte nun nicht nur den „altbekannten Aufstand der Anständigen“ seines Förderers Schröder, sondern den „Anstand der Zuständigen“ – womit dann auch gleich klargemacht war, dass Anständige noch lange nicht zuständig und Zuständige noch lange nicht anständig sein müssen. Hier nun ging es wie einst bei Schröder wieder gezielt gegen die Nazis.

Die sind ohnehin neben den sporadischen Ausfällen gegen Unionspolitiker die Lieblingsunanständigen der Deutschen Sozialdemokraten. Was einerseits die Vermutung zulässt, dass im sozialdemokratischen Verständnis auch unanständige Christdemokraten im tiefsten Inneren Nazis sind – und andererseits erklärt, weshalb wir seit gut zwei Jahren eine förmliche Inflation der Unanständigkeiten durch anständige Sozialdemokraten zu gegenwärtigen haben.

Anstandslose Entgleisungen quer durch Europa

Yasmin Fahimi, damals als SPD-Generalsekretärin noch Meilen von ihrem von Manchen als unanständig empfundenen Wechsel in ein hohes Regierungsamt entfernt, ging im Mai 2014 auf die CSU los. Dem bayerischen Ministerpräsidenten fehle der Anstand, weil er Europa-kritische Aussagen seines Generalssekretärs nicht als „Entgleisungen“ tadele und so das Geschäft der „Rechtspopulisten“ – gemeint war damit die damals im Schwerpunkt Euro-kritische AfD des Herrn Lucke – betreibe.

Apropos EU: Auch nicht-deutsche Politiker müssen es sich gelegentlich gefallen lassen, von der deutschen Sozialdemokratie zum Anstand gemahnt zu werden. So erging es dem damaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, der im März 2015 wegen seiner Attacken gegen Deutschland von Parteichef Gabriel auf die Liste der nicht-Anständigen gesetzt wurde.

Seitdem allerdings prasseln die Keulenschläge des Anstands wieder mehr und mehr auf alles nieder, was der Sozialdemokratie als „rechts“ gilt. Das gab dann auch Gabriel die Chance, Europas schwierigen Umgang mit den Zuwandererströmen quasi post mortem im September 2015 als Entschuldigung für seine wenig anständige Varoufakis-Kritik zu nutzen.

Ungarns Grenzzaun machte folgende Positionierung des Harzers möglich: „Bei Griechenland besteht die Gefahr, Geld zu verlieren. Europa ist aber nun in der Gefahr, seinen Anstand zu verlieren.“ Verstanden? Geld verlieren – vielleicht auch sollte man angesichts der griechischen Verhältnisse besser von „Unterschlagen“ sprechen (oder wäre das zu unanständig?)  – ist nicht unanständig. Seine Grenzen gegen illegale Einwanderer sichern allerdings schon. Weshalb Gabriel auch nicht davor zurück scheute, seinen Außenminister zu plagiieren.

Während EU-Kollege Martin Schulz sich damit begnügt, bei passender Gelegenheit Schröders „Anstand der Aufständigen“ zu reanimieren – und sich dabei von Zwangsabgaben-finanzierten Kommentatoren assistieren lässt, übernahm Gabriel anlässlich einer im Juni 2015 durchgeführten „Flüchtlingskonferenz“ der SPD ohne jeden Quellenhinweis das 2011er Anstandszitat seines Parteigenossen Steinmeier annähernd wortgetreu: „Den Aufstand der Anständigen zu fordern nützt nur dann was, wenn der Anstand der Zuständigen sichtbar wird.“ Fast möchte sich bei so viel sozialdemokratischem Anstand der Verdacht einstellen, dass es irgendwo im Willy-Brandt-Haus eine „Anstandszitat-Fabrik“ geben muss, der gelegentlich die Varianten ausgehen.

Mit und ohne Anstand in den Wahlkampf

Aktuell kommen die Anständigen der Sozialdemokratie in den Wahlkämpfen anständig zum Einsatz. Nicht ohne Grund, denn sie fürchten den Aufstand der unanständigen weil kritischen Parteibasis, sollte es bei den Wahlen deutlich nach unten gehen. Im Januar verbreitete daher der SPD-Spitzenkandidat in Baden-Württemberg die Parole: „Anständige Leute wählen keine Rassisten“. Da hat er im Grunde sogar recht – wobei die Frage gestattet sein muss, ob anständige Leute denn Rassisten sein dürfen, solange sie nur keine wählen? Wie auch immer: Konkret ging es dem Kretschmann-Anhängsel um die AfD, die nach aktuellen Umfragen nicht nur der Südwest-SPD ihre Zukunft als Juniorpartner des grünen Ministerpräsidenten verderben kann und die im Sinne sozialdemokratischen Anstands unanständig ist.

In ein ähnliches Horn trötet der über jeden Anstands-Zweifel erhabene Verfechter der Unabhängigkeit des Rechts und der freien Meinungsäußerung, Heiko Maas. Der hatte – ebenfalls im Januar – als Bundesminister der Justiz neben dem Recht der Webzensur nun auch den Anstand für sich entdeckt und damit allen Rechtspositivisten seines Umfeldes anstandslos ein Schnippchen geschlagen. Nachdem er schon im vergangenen Jahr jenseits lästiger staatsanwaltschaftlicher Beurteilungen im Netz die Herrschaft seines Anstands durchgesetzt hatte, legte er nun den Pegida-Organisatoren nahe, ihre Demonstrationen abzusagen. Vorausgesetzt selbstverständlich, sie hätten  „einen Rest von Anstand“ – wovon, wie dem Kontext zu entnehmen war, der Bundesminister nicht ausging.

Der Sieg der anständigen Vereinfacher

Im Boot der Anständigen nicht fehlen darf natürlich auch der ständig Sympathie verbreitende  Ralf Stegner, den ein ehemaliger Koalitionskollege und Ministerpräsident wegen seiner Machenschaften für ziemlich unanständig hielt. Aber das ist lange her und vergessen. Also stellte der anständige Stegner im Februar 2016 via Twitter fest: „Anständige Deutsche wählen niemals die rechtsextreme AfD-Bande, die politisch verantwortlich für rechte Gewalt ist!“ Da hat mal wieder jemand anständig draufgehauen.

Denn jemanden als „Bande“ zu bezeichnen und ihn pauschal ohne konkrete Beweise für „rechte Gewalt“ verantwortlich zu machen, welche es nachweislich schon Jahrzehnte vor dem Entstehen des Beschuldigten gab – da mag Zweifel aufkommen, ob es sich tatsächlich noch um eine um Anstand bemühte Aussage handelt. So oder so ist sie jedoch recht vereinfachend. So kam  Stegner nicht umhin, sich wenige Tage später ausgerechnet im Medium der Vereinfachung, der BILD-Zeitung, etwas genauer zu erklären: „Wir führen einen harten Wahlkampf für Anstand und Substanz und gegen rechte Vereinfacher!“ Endlich wird  nun der sozialdemokratische Anstand mit Substanz gefüllt – auch wenn das aus dem Munde eines linken Vereinfachers alles etwas zu vereinfacht und substanzlos klingen mag: Denn wer glaubt schon anstandslos an Anstand im Wahlkampf?

Ohne Anstand in den Rücken fallen

Den vorläufigen Höhepunkt lieferte jüngst einmal mehr mit klarer, einfacher Sprache der stets um Anstand bemühte Vizekanzler und SPD-Parteichef. Auf jene Unions-Provinzwahlkämpfer gezielt, die angesichts der Hartnäckigkeit ihrer Kanzlerin in Sachen Zuzugsbeschränkung und Rückkehr zum Recht in Sachen Zuwanderung den Aufstand wagten, stellte er fest: „Es ist weder klug noch anständig, der deutschen Kanzlerin mitten in den europäischen Verhandlungen in den Rücken zu fallen!“ Wie wahr! Was könnte wohl unanständiger sein, als einem anderen in den Rücken zu fallen? Und wir lernen dank des Niedersachsen, dass Unanständigkeit und Klugheit sich zumindest nicht gegenseitig ausschließen. Wobei  – wussten wir das nicht schon seit Gerhard Schröder? Denn es war sicherlich nicht wirklich anständig, sich bei Putin mit geschenkten Bürgermilliarden einzukaufen – aber es war überaus klug, sich dabei eine hübsche Zusatzrente neben dem Altkanzlergehalt zu sichern.

Ob es allerdings wirklich klug ist, ständig mit der Anstandskeule durch die Welt zu laufen und dabei auf missliebige Bürger, christdemokratische Mitbewerber, rechts verortete Polit-Newcomer und bekennende Rechte gleichermaßen einzuprügeln – darüber ließe sich trefflich streiten. Zumindest noch so lange, bis der Wähler dann im kommenden Monat der SPD sein Urteil über so viel vorgetragenen Anstand ausgestellt haben wird. Wir werden dann zumindest wissen, ob die SPD mit Anstand verlieren kann – oder wie einst Schröder doch den Aufstand probt oder gar die unanständigen Wähler für ein mögliches Desaster verantwortlich macht. Also lehnen wir uns zurück und warten mit Anstand auf die Wahlen, die da kommen werden.

PS: Bei so viel „Anstand der Aufständigen“ – pardon: „Aufstand der Anständigen“ – bitte ich zu entschuldigen, falls der Wortdreher beim Korrekturlesen noch irgendwo im Text übersehen worden sein sollte. Wobei – der Anstand der Aufständigen könnte dem Aufstand der Anständigen vielleicht eine Dimension geben, die den Anspruch des Anstands vom politischen Missbrauch des Anstands befreit. Vor allem dann, wenn der Anstand auf mehr als unanständige Weise zur Wahlkampfkeule wird, mit der hemmungslos auf alles eingedroschen wird, dessen man sich mit anständigen Argumenten offensichtlich nicht zu erwehren weiß.

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