Die Figur des Jesus im Koran

Der beste Beweis dafür, wie offen der Islam auf die Christen zugehe, sei die Anerkennung des Jesus als islamischer Prophet. Das lässt es nicht nur wegen des bevorstehenden Weihnachtsfestes zweckmäßig erscheinen, die Rolle Jesu im Koran genauer zu betrachten.

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Die Natur des Jesus im Koran

Mohamed grenzt sich von der Trinitätslehre ebenso deutlich ab wie die Ostkirchen. Anders als Ostkirchen und Nestorianer verwirft der Koran jedoch auch die Gottessohnfunktion des „Gesalbten Jesus Sohn Maria“.

Die dem Jesus in den Evangelien zugeschriebenen Wunder werden im Koran nicht in Abrede gestellt (Su003.049). Sie werden auch nicht ausdrücklich als Taten Allahs deklariert. Vielmehr billigt der Koran dem Jesus die Handlungsfreiheit zu, Wunder zu wirken, jedoch erhält Jesus dazu ausdrücklich die Erlaubnis Allahs. Insofern kann Jesus zwar selbst entscheiden, nicht jedoch gegen den Willen Allahs handeln. Dieses gilt letztlich für jeden Muslim – die menschliche Natur des Jesus wird damit festgeschrieben. Jesus wird auch nicht als ein göttliches Instrument gesehen, das ausschließlich den vorgegebenen Willen Gottes exekutiert.

Mohamed akzeptiert darüber hinaus auch eine göttliche „Natur“ des Jesus, wenn er feststellen lässt, dass Jesus „aus Lehm“ einen Vogel schaffe, dem er (Leben) einhauchen werde, so dass er ein (wirklicher) Vogel werde (Su003.49). Dieses Motiv ist aus dem Tanach ausschließlich aus der Schöpfungsgeschichte bekannt, wo die álahjm in einem identischen Prozess aus Lehm den Mann h‘ádém (Adam) schaffen. Mohamed übernimmt diese Fähigkeit zur Kreation des Lebens aus Lehm für die Person des Jesu – beschränkt sie allerdings in seinem Bild auf einen Vogel. Gleichwohl ist unabweisbar, dass Mohamed seinem Jesus – unter dem Aspekt des Erlaubnisgebots – hier die traditionell nur Göttern vorbehaltene, lebensschaffende Fähigkeit zubilligt.

Die dezidierte Positionierung zur Funktion des Jesu lässt den Schluss zu, dass Mohamed von der innerchristlichen Debatte maßgeblich geprägt wurde. Herakleios hatte seinen vergeblichen Versuch, den innerchristlichen Konflikt zwischen Monophysiten und Doppelnaturanhängern zu lösen, zu Beginn seiner Herrschaft begonnen – folglich nach 610 nc. Der Beginn islamischer Zeitrechnung fällt auf das christliche Jahr 622 nc.

Der um 570 nc geborene Mohamed muss in der Logik des Koran seine erste Offenbarung vor dem Überfall auf Medina gehabt haben. Seine ursprüngliche Position zu Jesus ähnelt dem Versuch der Überwindung des innerchristlichen Streits durch Herakleios: Der Monotheleteismus definierte Jesus einerseits als mit menschlicher Natur, die jedoch ausschließlich nach göttlichem Willen gehandelt habe. Schauen wir genau hin, so ist dieses letztlich die Position, die Mohamed über die Verbalinspiration des Koran für sich selbst beansprucht. Die monotheletheistische Auffassung brachte nicht nur Herakleios in Konflikt mit beiden Glaubensauffassungen der Christenheit – auch Mohamed saß damit zwischen den Stühlen. Gleichwohl lässt die inhaltliche Nähe den Schluss zu, dass die entsprechenden Passagen des Koran keinesfalls vor dem Amtsantritt des Herakleios verfasst worden sein können. Selbst die Auffassung, dass Mohamed anfänglich im Sinne des Herakleios im Hedschas tätig gewesen ist, scheint vertretbar und lässt einen Konflikt mit den ortsansässigen Christen kaum vermeidbar erscheinen, da die herakläische Sonderposition bei allen seinerzeit vertretenen, christlichen Glaubensrichtungen auf Ablehnung stieß.

Unverkennbar allerdings bleibt, wie tief Mohamed in die zeitgenössische, innerchristliche Debatte eingebunden gewesen sein muss. So will es nicht einmal als absurd erscheinen, ihn sich in seiner ursprünglichen Motivation als Parteigänger und Exekutor des Herakleios vorzustellen, von jenem zumindest inspiriert in dem Ziel, die Teilung der christlichen Welt in unterschiedliche, sich häufig sogar feindlich gegenüberstehende Lager zu überwinden.

Die Jesus-Logik des Koran

Folglich entbehrt die Position des Koran nicht einer gewissen inneren Logik. Jesus darf im strikt monotheistischen Sinne kein Gott sein. Er ist es nicht, denn er ist der Sohn einer Menschin, die ihn jedoch ohne menschlichen Zeugungsakt allein aus göttlichem Willen heraus empfängt und austrägt. Das Kind Jesus bleibt uneingeschränkt ein Mensch, der jedoch in jeder Hinsicht als Instrument des einen Gottes wirkt – bis dahin, dass er einem Häufchen Lehm Leben einhauchen kann. Das Handeln des Jesus hat damit göttlichen Charakter, jedoch wird er dadurch nicht selbst zu einem Gott oder einer gottgleichen Figur, sondern bleibt als faktisch fremdbestimmtes Lebewesen ausschließlich ein Instrument Gottes.

Es mag in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, dass diese Konstruktion aus naturwissenschaftlich-agnostischer Betrachtungsweise nicht ebenso problematisch erscheint wie die Konkurrenzauffassungen der christlichen Kirchen – entscheidend für die Beurteilung des Mohamed ist ausschließlich die Tiefe, mit der er sich jenem seinerzeit aktuellen, innerchristlichem Disput widmet und aus der heraus er einen Lösungsweg findet, der die scheinbar unvereinbaren Positionen eines Menschen-geborenen Gotteskindes in der Figur des einzig Gesalbten Gottes als Menschen mit prophetischer Auszeichnung und besonderer Gottesnähe zu vereinen scheint. Gleichwohl bleibt auch der Lösungsweg des Islam nicht ohne innere Unlogiken. So macht es beispielsweise wenig Sinn, dass ein Mensch, der uneingeschränkt als Instrument Gottes fungiert, beispielsweise – wie im Koran dargestellt – durch Gott selbst unterrichtet werden muss. Jedwede Ausbildung eines Menschen dient dem ausschließlichen Zweck, ihn in die Lage zu versetzen, auf unerwartete Geschehnisse angemessen und existenzsichernd reagieren zu können. Ein Mensch, der ausschließlich als göttliches Instrument funktioniert, bedarf in dieser Logik keiner Ausbildung, denn der allwissende und allmächtige Gott muss in der Lage sein, keine unerwarteten Geschehnisse zuzulassen.

Der Islam als Erneuerungsbewegung

Die deutlich gezielter formulierte Abgrenzung des Koran gegenüber den Juden – was ihn ebenfalls mit den damaligen Christen verbindet – ebenso wie das deklarierte Bestreben, alle Völker unter einer einzigen, monotheistischen Glaubensauslegung zu einen, lässt zumindest als These die Möglichkeit zu, den Islam in seinem Ursprung auf die christliche Position der Monotheleteisten zurück zu führen. Der Islam wäre demnach als christliche Erneuerungsbewegung zu verstehen, die jedoch innerhalb annähernd sämtlicher bestehender Auslegungsvarianten des Christentums auf Widerspruch traf und unabhängig davon eine regionalbedingte Eigendynamik entwickelte, aus der heraus dieses ursprüngliche Konzept zu einer eigenen Religionsauffassung wurde.

Ein ähnlicher Prozess ist bereits in den Anfängen des Christentums als ursprünglich jüdische Erneuerungsbewegung zu sehen, auch wenn der Durchbruch des Christentums deutlich länger dauerte als der kometenhafte Aufstieg der neuen Lehre aus Mekka. Warum der Erfolg bei den Christen erst über Jahrhunderte mühsam entwickelt wurde und beim Islam quasi über Nacht kam, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Gleichwohl kann eine der entscheidenden Ursachen darin vermutet werden, dass die frühen Christen sich in einem machtvollen und durchorganisierten Staatswesen behaupten mussten, während die machtpolitische Situation zur Zeit des Mohamed durch den Zermürbungskrieg zwischen christlichen Byzantinern und zoroastrischen Persern geprägt war. Anders als die Christen stieß Mohamed nicht nur in ein geistiges Vakuum, sondern fand eine überaus instabile politische Machtsituation vor, in der sich für das Volk der Wunsch nach unzweifelhafter, spiritueller Perspektive mit der Sehnsucht nach geordneten politischen Verhältnissen verbunden haben mag.

Jesus als Schüler Allahs

Jesus ist ein Schüler des Allah, welcher ihn „das Buch” oder die Weisheit („kitab”), die Tora und das Evangelium lehren wird (Su003.048). Hinsichtlich des kitab sind unterschiedliche Interpretationen denkbar. Einerseits kann darunter das Heilige Buch des Islam, der Koran, verstanden werden. Andererseits verwendet Mohamed diesen Begriff häufig in Verbindung mit den Söhnen Israels – den Juden. Es wäre demnach der Tanach, was allerdings die Abgrenzung zur Tora als Mose-Erzählung unsinnig macht. Wäre hier allerdings der Koran gemeint, so wäre Jesus als erster und wirklicher Verkünder des Islam zu verstehen – in seiner religiösen Bedeutung weitaus höher anzusetzen als Mohamed selbst. Da andererseits in unmittelbarer Folge des Wirkens Jesu zwar die Evangelien stehen, nicht aber der Koran, macht eine derartige Zuordnung in der Logik keinen Sinn, was darauf hindeutet, dass beim Entstehen dieser Sure an ein umfassendes Koranwerk noch nicht gedacht war.

Wenn wir hingegen die Substantive „Weisheit”, „Thora” und „Evangelien” nicht als additives „und” verstehen, sondern als Beschreibung des Inhalts des „kitab”, so wäre mit diesem Buch nichts anderes als das christliche Bibelwerk ohne die nicht-evangelikalen Teile gemeint. Für diese Möglichkeit spricht, dass Allah den Jesus nicht nur die Thora als vor dessen Geburt bereits bestehendes, religiöses Werk lehren will (worauf der Koran Jesus ausdrücklich hinweisen lässt), sondern auch die Evangelien als gleichsam menschliche Umsetzung göttlichen Willens.

In der historischen Logik können einem Jesus diese Werke, die erst deutlich nach seinem Tod entstanden sind, nicht gelehrt worden sein. So scheint es plausibel, dass Mohamed das Bibelwerk in christlicher Version ohne jene nach-evangelikalen Teile tatsächlich als Ergebnis des Lernprozesses Jesu beschreiben möchte – und darin gleichzeitig das Master für sein eigenes Koran-Vorhaben sieht, dem er damit die Weihe gibt. Unklar bleibt, ob Mohamed alle vier in der christlichen Kirche anerkannten Evangelien unter seinem Begriff zusammen fasst und ob er jene Evangelien, die von den Christen zu den Apokryphen gezählt werden, ebenfalls als Quelle oder Inspiration herangezogen hat – die Koran-Aussage legt sich hierzu nicht fest.

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