Wie gefährlich ist eine „Bedrohungslage“?

Die Polizei in Wien warnt vor einem möglichen Anschlag oder Attentat für die Zeit zwischen den Jahren. Wieviel Risiko für die Bevölkerung sollen die Behörden in Kauf nehmen - oder sofort reagieren? Eine Antwort mit Hilfe der Mathematik.

Die Wiener Polizei warnt die Bevölkerung mit einer Pressemitteilung und stützt ihre Einschätzung auf die Angaben eines „befreundeten Dienstes“. Der hatte an „zahlreiche europäische Hauptstädte“ die Mitteilung gegeben, es könne zwischen Weihnachten und Neujahr zu einem „Attentat mit Sprengstoff bzw. zu einem Schussattentat“ kommen. Wie sollen die Behörden darauf reagieren – so offen wie in Wien? Verschweigen? Ignorieren oder sofort U-Bahnen und Veranstaltungen wie Fußballspiele sperren – wie in Hannover nach den Anschlägen von Paris?

Auf jede Terrorwarnung reagieren?

Die naive Sicht lautet, dass man jede Terrorwarnung zu 100% Ernst nehmen muss und sofort das volle Programm an Vorsichtsmaßnahmen einzuleiten hat. Die einfache Intuition dahinter lautet, dass einmal zu viel gewarnt weniger schlimm ist als einmal zu wenig gewarnt, weil eine versäumte Warnung viele Menschleben kostet und man daher bei dieser Güterabwägung besser immer auf der vorsichtigen Seite liegen sollte.

Leider ist das so nicht umsetzbar. Denn man hat immer eine mehr oder weniger unklare Lage. Es gibt fast immer irgendwelche Anzeichen für eine Bedrohungslage. Das ist nicht nur bei Terroranschlägen so, sondern grundsätzlich im Leben. Jede Handlung ist mit irgendwelchen Risiken verbunden, und so muss man immer Risiko und Nutzen gegeneinander abwägen. Das gilt für das Verlassen des Hauses genauso wie für den Brückenbau, den Aktienhandel oder eben bei der Terrorbekämpfung.

Wieviel Risiko nehmen wir in Kauf?

Deshalb muss man in jeder Situation ein bestimmtes Risiko vorgeben, das man bereit ist zu akzeptieren, und dann die vorhanden unklaren Signale so auswerten, dass man unterhalb dieser Schwelle das Risiko in Kauf nimmt und erst darüber die Reißleine zieht.

Falls Ihnen das emotional widerstrebt, stellen Sie sich bitte vor, die verantwortlichen Stellen würden tatsächlich bei dem kleinsten Bedrohungshinweis einen Alarm auslösen. Dann gäbe es fast ständig irgendeinen Alarm. Kein Mensch könnte und würde diese Alarminflation noch ernst nehmen. Es wäre das gleiche wie die fest angenagelten Schilder „Vorsicht: frisch gebohnert“, die nichts mehr damit zu tun haben, ob wirklich gerade gebohnert wurde oder nicht. Es würde kein Fußballspiel mehr geben und keinen öffentlichen Nahverkehr mehr, weil sich niemand mehr darauf verlassen könnte, dass die Aktivität diesmal stattfindet oder wieder einmal überstürzt abgesagt wird.

Lernen aus unklaren Signalen

Man darf eine Warnung oder weitere Maßnahmen also erst aussprechen, wenn eine bestimmte Wahrscheinlichkeit überschritten wird, dass tatsächlich eine Sondersituation vorliegt. Es gibt verschiedene Methoden, wie man in der Realität ein derartiges Risikomanagement betreibt. In vielen Alltagssituationen machen wir das völlig intuitiv, in anderen gibt es mathematische Modelle, mit denen man versucht, den Prozess möglichst vernünftig zu steuern – in beiden Fällen mit mehr oder weniger großem Erfolg, weil alle Risikomodelle ihre eigenen Stärken und Schwächen haben.

Im Folgenden stelle ich ein Verfahren aus der Statistik vor, das in irgendeiner Form hinter vielen dieser Modelle steckt: den Satz von Bayes.

Dieses mathematische Theorem beschreibt, was man aus Beobachtungen in unklaren Situationen lernen kann. Die unklare Situation im Fall einer Terrorbedrohung besteht darin, dass es bestimmte Hinweise gibt, die aber fehlerbehaftet sind. Es gibt zwei Typen von Fehlern. Fehlertyp 1: Es liegt tatsächlich ein geplanter Anschlag vor und wir erhalten keinerlei Hinweis vorab; Fehlertyp 2: Es ist kein Anschlag geplant, wir erhalten aber trotzdem einen Hinweis. Wie soll man die Hinweise in einer solchen Situation bewerten?

Man kann die Situation als Entscheidungsbaum darstellen und dann mit besagtem Satz von Bayes die Wahrscheinlichkeit errechnen, mit der die Bedrohungslage einen bestimmten vorgegebenen Schwellwert überschreitet und man den Alarm auslöst. Dafür muss man sich über drei Wahrscheinlichkeiten klar sein:

  1. Mit welcher Wahrscheinlichkeit liegt eine Bedrohung vor, unabhängig von allen Signalen? Diese Wahrscheinlichkeit ist letztlich eine subjektive Schätzung aus den Erfahrungen der Vergangenheit. Sie ist der Startwert, vor dessen Hintergrund wir die beobachteten Warnungen und Drohungen bewerten. Gehen wir für die folgenden Überlegungen einmal davon aus, dass die Vorab-Vermutung für eine Gefahr 1% beträgt. (Was natürlich für die Vergangenheit viel zu hoch ist, denn es wurde keineswegs jedes hundertste Fußballspiel angegriffen; allerdings reagiert das Modell verhältnismäßig schwach auf diese Größe).
  2. Mit welcher Wahrscheinlichkeit erkennen wir es, wenn tatsächlich ein Anschlag geplant war? Gehen wir hier einmal davon aus, dass die Geheimdienste ihr Geld wert sind und ein genau suchender Agent einen Hinweis auf einen geplanten Anschlag mit einer Wahrscheinlichkeit von 80% entdeckt.
  3. Mit welcher Wahrscheinlichkeit erhalten wir eine Warnung, obwohl gar keine wirkliche Gefährdung vorliegt? Die Wirkung dieser „falschen Positiven“ sehen wir uns gleich etwas genauer an und werden dabei sehen, dass sie einen ganz wesentlichen Einfluss auf unsere Aufklärungsarbeit hat.

Zugegeben, dieses Modell vereinfacht sehr stark, zum Beispiel weil es unterschiedliche Qualitäten in den Informationsquellen gibt und weil man nie genau weiß, ob zwei Informationsquellen wirklich unabhängig voneinander waren. Aber an diesem einfachen Modell kann man die Wirkung der verschiedenen Einflussfaktoren bereits erkennen.

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