Twitter: Übereinstimmung mit der Wirklichkeit sind rein zufällig

Zwischenbilanz nach 200 Tagen Twitter: Pralle Information, wilder Pöbel, aber die politische Bewertung deckt sich nur rein zufällig mal mit der in der realen Welt

Ich gestehe: Bei technischen Neuerungen bin ich eher zurückhaltend. Nicht etwa, weil ich den Fortschritt ablehnte; im Gegenteil. Vielmehr habe ich einen Horror vor „Gebrauchsanweisungen“, die nur verstehen kann, wer sie nicht braucht.

Dennoch haben ich vor ziemlich genau 200 Tagen meine Schwellenangst gegenüber Twitter überwunden, habe mir von einem Experten Nachhilfe geben lassen und bin seitdem bei dem Kurznachrichtendienst dabei. In diesem guten halben Jahr habe ich viel erfahren und gelernt. Hier meine wichtigsten Erkenntnisse, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder gar Objektivität.

Transparenz:

In der Twitter-Welt kann jeder Text von allen registrierten Nutzern gelesen werden. Jeder kann sehen, wem ich auf Twitter folge und wer mir folgt. Ich kann zwar einen eigenen Tweet nachträglich löschen oder einen Retweet zurücknehmen. Aber irgendjemand hat ihn vielleicht doch gesehen und festgehalten. Öffentlicher geht’s nicht.

Informationsflut:

Wer den Tweets von Instituten, Medien und Journalisten folgt, wird ständig mit Informationen und Insider-Wissen versorgt, mit Texten, Statistiken und Hintergrundwissen. An vieles käme man gar nicht oder nicht so leicht heran. Ein echtes Plus.

Eigene Plattform:

Man kann zu jeder Tages- und Nachtzeit alles loswerden. Was „raus“ muss, kann hier „raus“. Das mindert die Gefahr von Magengeschwüren. Man geht aber auch das Risiko ein von „Schnellschüssen“, die man hinterher bedauern könnte. (Ist mir erfreulicher Weise noch nicht passiert.)

Jahrmarkt der Eitelkeiten:

Man begegnet Wichtigtuern jeder Art. Solchen, die meinen, jede ihrer Ansichten gehörte in Stein gemeisselt. Und solchen, die überzeugt sind, die Welt wolle wissen, wo sie gerade sind, wie ihre aktuelle Stimmung ist, ob der Mann/die Frau ihrer Träume heute gut drauf ist, ob sie gerade Schuhe kaufen oder in der Sonne liegen. So viel eitle Selbstbespiegelung findet man selten.

Plattform der Selbstvermarkter:

Nicht wenige „User“ nutzen Twitter ausschließlich zur Eigen-PR – wo sie was veröffentlicht haben, auf welchem Podium sie heute sitzen, welche wichtige Figur sie jetzt treffen. Richtig peinlich sind Redakteure, die ständig darauf hinweisen, was für außergewöhnliche Texte zu lesen und was für sensationelle Berichte zu sehen sind – ausschließlich im eigenen Medium.

Kollektive Feigheit:

Schätzungsweise die Hälfte „zwitschert“ anonym, teilweise unter hochtrabenden Pseudonymen („Zwischenruf aus dem Regierungsviertel“), teilweise unter albernen („Erich Honecker“). Gerade diese Anonymen fühlen sich besonders berufen, Mut und Zivilcourage von anderen zu fordern. Sie sollten eine Selbsthilfegruppe gründen: AA – Anonyme Angsthasen.

Privatiers unter sich:

Auffällig viele Journalisten betonen, sie seien bei Twitter „privat“ unterwegs, ihre Äußerungen seien „rein privater Natur“. Da drängt sich die Frage auf, ob zwischen der privaten und beruflichen Meinung gravierende Unterschiede bestehen. Vertreten die Kollegin oder der Kollege in ihren Tweets eine andere politische Auffassung als in ihren gedruckten und gesendeten Meinungsbeiträgen? Wenn’s so wäre, wär’s traurig.

Online-Pöbel:

Je anonymer der Absender, desto aggressiver der Ton. Da wird in einem unvorstellbaren Maße krakeelt und beleidigt. Dabei offenbaren einige Zeitgenossen unfreiwillig, dass sie offenbar nur die Fäkalsprache beherrschen. Diese traurigen Gestalten scheinen auch nicht zu wissen, dass zwischen der Primitivität ihrer Ausdrucksweise und der Primitivität ihrer Gedanken ein enger Zusammenhang besteht. Da hilft nur eines: diese Pöbler zu „blockieren“.

Politische Schlagseite:

Wer aus den „Tweets“ Rückschlüsse auf die politische Stimmung zieht, liegt falsch. Bei Twitter tauchen sogar noch relativ viele Piraten auf, obwohl diese Partei außer Querelen nichts (mehr) zu bieten hat. Unter den Twitter-Nutzern bekäme Rot-Rot-Grün eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit und jeder Asylbewerber ohne nähere Prüfung das Bleiberecht – im Gegensatz zu allen Meinungsumfragen.

Gutmenschen-Eldorado:

Mag der Mensch an sich schlecht sein, bei Twitter besteht noch Hoffnung. So vielen Gutmenschen wie hier begegnet man in der realen Welt allenfalls auf Kirchentagen oder Kongressen zum Thema „Friede & Gerechtigkeit“.

Freizeitgesellschaft:

Alle Welt klagt über Stress und Arbeitsverdichtung. Der Stress an unseren PC-Arbeitsplätzen kann freilich nicht so schlimm sein. Würden sonst so viele vom Steuerzahler finanzierte Mitarbeiter von Abgeordneten und Redakteure öffentlich-rechtlicher Anstalten twittern? Hauptsächlich während der Arbeitszeit, kaum am Wochenende.

Meine Zwischenbilanz nach 200 Tagen:

Twitter ist informativ, Twitter fördert die politische Diskussion, Twitter ist ein Paradies für Feiglinge und Nervensägen jeder Art. Eine Zwischenbilanz nach 200 Tagen Praktikum bei Twitter: Die virtuelle Welt ist voller Informationen; aber die politische Bewertung deckt sich nur rein zufällig mal mit der in der realen Welt.

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