Nichts erschwert die Integration von Flüchtlingen mehr als ihre große Zahl

Eine Bundeskanzlerin, die keinen Plan hat und die zugibt, dass der Staat kann seine Grenzen nicht mehr kontrollieren kann: Das war gestern das Eingeständnis von Angela Merkel bei Anne Will. Dabei ist doch klar: Nichts erschwert die Integration mehr als die große Zahl.

Wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben. Wer zu früh kommt, kann allerdings auch Pech haben. Friedrich Merz jedenfalls hatte im Jahr 2000 einen wahren Proteststurm (der Begriff „shitstorm“ war damals noch unbekannt) ausgelöst, als er sich für eine „deutsche, freiheitlich-demokratische Leitkultur“ aussprach. Sie sollte der Wertmaßstab sein, an dem sich Zuwanderer zu orientieren hätten.

Merz, damals Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, verstand Leitkultur als Gegenkonzept zur grassierenden Multikulti-Welle. „Multikulturelle Gesellschaft“ lautete das Zauberwort, mit dem vor allem die Grünen und der linke SPD-Flügel für ein neues Deutschland eintraten: für eine Gesellschaft, in der die traditionellen christlich-abendländischen Werte samt der Errungenschaften der Aufklärung nicht abgeschafft, aber keinen Vorrang vor den Wertvorstellungen von muslimischen Zuwanderern haben sollten. Multikulti bedeutete und bedeutet ein Höchstmaß an Verständnis für Menschen aus anderen Kulturkreisen. Krippenspiele in Kitas gelten als unzulässige religiöse Indoktrination kleiner Muslime. Weltoffen ist, wer lieber die Klassenfahrt ausfallen lässt, als muslimische Mädchen zu zwingen, an solchem ruchlosen Treiben teilzunehmen. Selbstverständlich ist es als Zeichen großer Aufgeklärtheit zu werten, wenn in Schwimmbädern die Öffnungszeiten zugunsten von „Frauenschwimmen“ reduziert werden. Wenn die Zuwanderer ihre Frauen und Töchter als Menschen zweiter Klasse betrachten und behandeln, dann passt das zwar nicht zu den Postulaten der Frauenbewegung, muss aber hingenommen werden. Wenn entsprechend erzogene türkischen Jungen ihrer deutschen Lehrerin erklären, sie als Frau habe ihnen gar nichts zu sagen, dann ist multikulturelle Nachsicht angezeigt. Wer partout nicht nach den hierzulande geltenden Regeln spielen wolle, der hat vor allem Verständnis verdient, aber nur im äußersten Fall Sanktionen. So jedenfalls sehen es die Multikulti-Ideologen.

Friedrich Merz stieß mit der Forderung nach einer deutschen Leitkultur in der eigenen Partei auf große Zustimmung. Im CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber und dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch fand er wortgewaltige Mitstreiter. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel unterstütze das Konzept hingegen nur halbherzig. Der Gegenwind war auch heftig. Dass die Grünen die Forderung nach einer Leitkultur als Inbegriff des Rassismus und der Ausländerfeindlichkeit anprangerten, dürfte die Union nicht sehr beschwert haben, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder sich über den Begriff lustig machte, auch nicht. Es war der inzwischen verstorbene Präsident des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, der die Union zum Teil-Rückzug bewegte. „Was soll das Gerede um die Leitkultur? Ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten?“, fragte Spiegel empört. Zudem hielt er CDU/CSU vor, der Begriff Leitkultur sei schon von den Nazis benutzt worden.

Das war ein Schock für die Union. Und in der öffentlichen Diskussion und in den Medien war die Sache zu Gunsten der Leitkultur-Gegner entschieden. In der CDU wurde die Formulierung „deutsche Leitkultur“ kaum noch verwendet. Im geltenden Grundsatzprogramm von 2007 heißt es, unsere „kulturellen Werte und historischen Erfahrungen sind die Grundlage für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und bilden unsere Leitkultur in Deutschland.“ An anderer Stelle wird ziemlich verschwiemelt formuliert: „Die gesellschaftliche Integration von Zuwanderern auf der Basis der Leitkultur in Deutschland ist ein wichtiger Beitrag zur kulturellen Sicherheit.“ „Deutsche Leitkultur“ wurde mit ängstlichem Blick auf die veröffentliche Meinung zur „Leitkultur in Deutschland“ weichgespült. Und was „kulturelle Sicherheit“ bedeuten mag, wissen vielleicht nicht einmal die Autoren dieser Passage selbst.

Jetzt plötzlich sind der Begriff „Leitkultur“ und das dahinter stehende Konzept wieder aktuell. Die große Zahl der Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge und Armutsmigranten hat selbst bei linken Multikulti-Vorkämpfern wie dem Publizisten Jakob Augstein zu der Erkenntnis geführt: „Deutschland wird also wirklich ein Einwanderungsland. Jetzt brauchen wir tatsächlich eine Leitkultur.“ Sozialdemokraten, allen voran Parteichef Sigmar Gabriel, sprechen seit kurzem so selbstverständlich von Leitkultur, als habe der Begriff schon im Godesberger Programm gestanden. Selbst Cem Özdemir von den Grünen, der die Akzeptanz einer Leitkultur vor 15 Jahren noch als Versuch diffamierte, Zuwanderer zur Assimilierung zu zwingen, sagt jetzt: „Meine Leitkultur ist das Grundgesetz.“ Da stehe alles Wichtige drin. Weil selbst Multikulti-Propagandisten nicht mehr leugnen können, dass „Integration kein Kindergarten“ (Augstein) ist, werden Leitkultur-Befürworter nicht mehr automatisch in die rechtsradikale Ecke gestellt. Dafür beschränken sich die linken Leitkultur-Entdecker auf das Grundgesetz als den kleinsten gemeinsamen Nenner.

Unser Grundgesetz ist zweifellos die beste deutsche Verfassung, die es jemals gab, die Grundlage unseres freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaats. Doch niemand täusche sich: Das Grundgesetz allein reicht als Wegweiser zur Integration nicht aus. Wenn Zuwanderer – ohne ihre Herkunft, ihre Kultur und ihre Religion zu verleugnen – in jeder Beziehung dazugehören wollen, genügt die Beachtung des Grundgesetzes und aller sonstigen Gesetze nicht. Integration ist mehr, geht weit über die Akzeptanz von Werten und Normen hinaus. Integration heißt, sich nicht als „deutscher mit türkischem Pass“ zu fühlen, sondern als Deutscher türkischer Abstammung. Ersterer lauscht andächtig den Worten seines Präsidenten Erdogan, für Letzteren ist wichtiger, was Joachim Gauck sagt.

Niemand weiß, wie viele es sind, aber es sind nicht wenige: Menschen aus fremden Ländern, die unsere Sprache nicht oder kaum sprechen, die mit Menschen aus ihrem Herkunftsland mehr oder weniger abgeschottet zusammen leben, die keine oder kaum Kontakte zu Deutschen haben und auch nicht haben wollen. Die allermeisten von ihnen sind durchaus gesetzestreue Bürger, werden nicht auffällig, weil der Staat sich im Prinzip nicht dafür interessiert, was sich hinter geschlossenen Wohnungstüren abspielt. Aber diese Zuwanderer sind eben nicht integriert, weil sie sich gar nicht integrieren wollen. Das hält eine Gesellschaft wie die unsere zunächst einmal aus. Problematisch wird es, wenn diese Zuwanderer alles daran setzen, dass ihre Kinder diese heimelige, vermeintlich heile Parallelwelt nicht öfter als unbedingt notwendig verlassen und dass vor allem ihre Frauen und Töchter weitgehend so leben müssen, wie es für von Männern dominierte muslimische Gesellschaften charakteristisch ist. Dagegen ist der Rechtsstaat machtlos, sofern die Justiz nicht erfährt, wenn gegen das Strafgesetzbuch verstoßen wird.

Sehen wir es positiv: Wenn selbst eingefleischte Multikulti-Romantiker erkennen, dass es ohne verbindliche Werte und Normen nicht geht, ist das ein Fortschritt. Bundespräsident Gauck hat es, das böse L-Wort vermeidend, so formuliert: „Gerade weil Deutschland immer mehr ein Land der Verschiedenen wird, braucht es die Rückbindung aller an unumstößliche Werte. Einen Kodex, der allgemein als gültig akzeptiert wird.“ Fragt sich nur, wie dieser Kodex durchgesetzt werden kann. Denn der nicht abreißende Zustrom an Flüchtlingen macht die Integration noch schwerer, als sie ohnehin ist. Zumal niemand weiß, wie viele der Neuankömmlinge zwar die Vorteile dieses Landes in Anspruch nehmen, sich jedoch in unsere Gesellschaft keinesfalls mehr als unbedingt nötig eingliedern wollen.

Wenn von den in diesem Jahr gekommenen und noch kommenden Flüchtlingen – zurückhaltend geschätzt – 600.000 bleiben werden und im Laufe der nächsten Jahre im Wege der Familienzusammenführung zwei bis drei Millionen nachholen, wenn sich die Zuwanderung in den nächsten Jahren in diesen Dimensionen wiederholt, dann braucht man sehr viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie wirkliche Integration gelingen soll. Es droht eine rasante Ausdehnung der Parallelgesellschaften mit all den bekannten negativen Folgen – bis hin zu dem Status als „no go area“. Denn nichts begünstigt die Ausdehnung von Parallelgesellschaften mehr als bereits bestehende.

Wer die neue Leitkultur-Debatte wohlwollend betrachtet, mag sich über die „Bekehrung“ mancher Multikulti-Verfechter freuen. Aber machen wir uns nichts vor. Was Staat und Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten bei der Integration nicht geschafft haben, werden sie unter dem doppelten Druck von großer Zahl und kurzer Zeit auch nicht erreichen. „Die Rückbindung aller an unumstößliche Werte“ anzustreben, ist gerade jetzt das richtige Ziel. Nur scheint es unerreichbar. So wird das Leben die Zuspätkommenden bestrafen. Und niemand interessiert sich mehr dafür, wer rechtzeitig gewarnt und Recht hatte.

 

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