Das fliegende Auto

Innovationen entstehen an den Rändern, in unbeobachteten Ecken, vorangetrieben in kleinen Werkstätten am Rande der Stadt, die die Wünsche von Enthusiasten erfüllen. Wie auf diesem Weg sogar der Mythos vom fliegenden Auto Realität werden kann, verdeutlicht der vierte Teil unserer Serie zur Zukunft der Mobilität.

Wer sich fragt, welche neuartigen Fahrzeuge es für den Individualverkehr denn noch geben könnte, wo wir doch vom Auto bis zum Elektrofahrrad schon alles in einer enormen Typenvielfalt haben, der sollte sich in den Nischen umsehen. Der sollte kleine, mitunter homogene Nutzergruppen suchen, deren Bedarfe noch optimaler erfüllt werden können, als bislang. Denn Innovationen entstehen an den Rändern, in unbeobachteten Ecken, vorangetrieben in kleinen Werkstätten am Rande der Stadt, die die Wünsche von Enthusiasten erfüllen. Wie auf diesem Weg sogar der Mythos vom fliegenden Auto Realität werden kann, verdeutlicht der vierte Teil unserer Serie zur Zukunft der Mobilität.

Zu den größten Fehlern, die Unternehmen bei der Entwicklung neuer Produkte begehen können, zählt die Auswahl der falschen Zielgruppe. Michael Werner hingegen kennt seine Kunden ganz genau. Zu den häufigsten Fehlern, die Beobachter bei der Bewertung von Innovationen begehen, gehört der, sich selbst als potentiellen Käufer zu betrachten. Das fliegende Auto, liebe Leser, wird aber nicht für Sie gemacht. Zumindest für die weitaus meisten von Ihnen nicht.

Um kaum eine technische Vision ranken sich mehr Mythen. Kaum eine wird sehnsüchtiger erwartet und gleichzeitig vehementer abgelehnt. Beide Seiten leben von einer merkwürdigen Mischung aus Ignoranz und Unglauben, die sich aus den oben genannten Fehleinschätzungen speist. Jeder hat, wenn der Begriff „fliegendes Auto“ fällt, gleich das Bild vor Augen, wie sich herkömmliche PKW auf Knopfdruck in den Himmel heben und den Stau einfach überfliegen. Was aus der einen Perspektive eine tolle Sache wäre, ist aus der anderen technisch nicht machbar und außerdem viel zu gefährlich. Im Auto zu fliegen, so lehrt es Hollywood im Blade Runner, im Fünften Element oder in Star Wars, sei wie auf der Straße zu fahren, nur ohne Straße.

Bilder dieser Art behindern Konstrukteure wie Michael Werner nur in ihrer Arbeit, statt sie zu unterstützen. Zu schnell haftet einem entweder der Geruch an, ein weltfremder Spinner zu sein, der seine Zeit und sein Geld in der Jagd nach unrealisierbaren Träumen verpulvert. Oder man wird mit unerfüllbaren Erwartungshaltungen konfrontiert, die nur in Enttäuschung umschlagen können. Das fliegende Auto ist eine Art Perpetuum Mobile der Fahrzeugindustrie.

Michael Werner baut es trotzdem. Er hat sich Jahre Zeit genommen und sich ganz genau überlegt, wie es den funktionieren könnte und was es denn leisten sollte, um einen scharf definierten Kundenkreis anzusprechen.

Seine Geschichte beginnt im Jahr 1993. Damals führte er ein Sportartikelgeschäft und handelte mit Surfbrettern, Mountainbikes und Skateboards. Es war die Zeit, als das Gleitschirmfliegen in Deutschland einen ersten Boom erlebte. Man stürzte sich dazu von den Hängen der Mittelgebirge und der Alpen in die Tiefe.  In der norddeutschen Ebene aber, in der Michael Werner lebt, gibt es keine Berge. Um trotzdem abheben zu können, ersann er den Rucksackmotor. Ähnlich wie Astrid Lindgrens Karlsson vom Dach schnallt man sich einfach Motor und Propeller auf den Rücken. Der auf dem Boden ausgebreitete Schirm wird durch den Luftstrom angehoben, sobald man das Gerät einschaltet. Dann läuft man los und hebt nach wenigen Metern ab. Die Idee wurde populär und Michael Werner verkaufte seinen Laden, um 1994 die Firma Fresh Breeze zu gründen, die sich ganz der Motorschirmfliegerei verschrieb. In diesem Segment ist er heute, mit 17 Mitarbeitern, Weltmarktführer. Den Rucksackmotoren folgten die Trikes. Dreirädrige Fahrzeuge, in denen man komfortabel sitzend startet, fliegt und wieder landet. Eines seiner Modelle gestaltete Werner als Fahrrad,das über Pedale und Kettenantrieb am Boden mit Muskelkraft bewegt werden kann. Ein anderes ist als Autoanhänger zugelassen, Ausstattung eines Hobbys für Enthusiasten. An freien Tagen, wann immer das Wetter es hergibt, transportieren diese ihr Trike mit dem PKW zum nächsten Flugplatz, breiten den Schirm aus, schalten den Antrieb ein und fliegen ein paar Runden mit mäßigen Geschwindigkeiten um 70 km/h über die Landschaft. Das macht Spaß. Ein paar tausend Menschen weltweit verwenden die Produkte von Fresh Breeze. Zum Vergnügen fliegen sie im Kreis, mehr ist nicht drin. Denn wenn es dunkel wird oder das Wetter sich verschlechtert, muss man dahin zurückkehren, wo das Auto steht.

Diese Einschränkung zu überwinden, ist Michael Werners Ziel. Es braucht ein Trike, das nicht nur fliegen, sondern auch auf allen Straßen fahren kann – vom Feldweg bis zur Autobahn. Dadurch gewinnen seine Kunden eine neue Flexibilität. Innovationen lösen keine Probleme (den Stau), sie schaffen neue Möglichkeiten (für Gleitschirmflieger).

Das „XDreeme“ getaufte Gerät ist fast fertig und befindet sich im Zulassungsverfahren. Wobei die gesetzlichen Hürden für die Straße weit höher sind, als die für die Luft. Das Foto zeigt den aktuellen Zustand des Serienmusters, das schon mehrere tausend Kilometer fahrend und fliegend zurückgelegt hat. Die Verkleidung ist noch provisorisch, sie wird bald durch leichte aber stabile Teile aus Verbundwerkstoffen mit einer hochwertigen Oberfläche abgelöst. Der Rest der Technik steht. Als ich Michael Werner vor einigen Tagen in seiner Werkstatt besuchte, arbeitete man gerade an der Positionierung der Rückspiegel. Die Innovationen, die in diesem Fahrzeug stecken, sind für eine detaillierte Beschreibung zu zahlreich. Fahrwerk und Stoßdämpfer, Lenkung und Bremsen, alles wurde neu erdacht und immer wieder optimiert. Herzstück ist der Motor, der über ein ebenfalls neu entwickeltes Getriebe entweder die Hinterräder oder den Propeller antreibt. Mit zwei Motoren wären die Gewichtsgrenzen für ein ultraleichtes Fluggerät gerissen worden.

Es sieht nicht aus wie ein Auto, es ist aber eines. Mit 150 Pferdestärken erreicht der XDreeme locker 200 Stundenkilometer auf der Autobahn und zieht bei den Testfahrten verwunderte Blicke auf sich, denn sein Beschleunigungsvermögen ist aufgrund des geringen Gewichtes enorm. In der Luft ist das Fahrzeug wegen seiner ungünstigen Aerodynamik bei weitem nicht so schnell unterwegs. Aber 80 bis 100 km/h genügen für eine deutliche Zeitersparnis, da man sich ja Umwege und Staus erspart. Je nach gewählter Tankgröße liegt die Reichweite bei 300 bis 500 Kilometern. Zwei Personen mit kleinem Gepäck können transportiert werden.

Am Wochenende mal eben auf die Nordseeinsel? Eine schnelle Stippvisite bei Verwandten oder Bekannten? Man fährt mit dem XDreeme zum nächsten Flugplatz, holt den Schirm aus seiner Tasche auf dem Dach, baut den Propellerkäfig auf, klappt die Luftschraube hoch und fliegt los. Mehr als fünf  Minuten sollen auch Ungeübte für diesen Umbau nicht benötigen. Bei Notfällen hilft das Rettungssystem, das raketengetrieben einen zweiten Schirm öffnet, an dem das ganze Fahrzeug sicher zu Boden schwebt. Ansonsten fliegt man einfach so nah an sein eigentliches Ziel heran wie es geht, landet, packt den Schirm wieder ein und legt den Rest der Strecke auf der Straße zurück.

Das fliegende Auto ist kein Auto, das meistens fährt und manchmal fliegt. Es ist ein Fluggerät, das gelegentlich auch die Straße nutzt. Damit man als Hobbypilot nicht darauf beschränkt ist, aus Spaß im Kreis zu fliegen, sondern sich auch tatsächliche Mobilitätsbedarfe erfüllen kann. Der XDreeme richtet sich an alle Kunden, die bereits ein Trike von FreshBreeze besitzen. Und erst einmal an niemanden sonst. Dreihundert Vorbestellungen sind bereits eingegangen und wenn nichts mehr dazwischen kommt, beginnen im November die Serienfertigung und die Auslieferung.

So funktioniert Innovation auch in scheinbar gesättigten und ausdifferenzierten Märkten. Sie beginnt mit der scharfen Definition der Zielgruppe in einem Nischensegment und der Antwort auf die Frage, was man dieser an attraktiven, neuen Optionen noch bieten kann. Die technische Entwicklungslinie ist dann, bei aller Komplexität, weitgehend vorgegeben. Die Lösung entsteht durch die Erweiterung eines vorhandenen Systems mit etablierten Technologien aus anderen Bereichen. Das fliegende Auto erscheint nicht als Revolution unserer Mobilitätssysteme in einem Schritt und ändert alle Regeln. Das fliegende Auto sprießt in einer unbeobachteten Ecke und passt sich an die Umgebung an. Es gedeiht  innerhalb der vorhandenen Gesetzgebung vom Flugplatzzwang bis hin zur Abgasvorschrift, es nutzt die vorhandenen Infrastrukturen und fordert weder Aus- noch Neubauten.

Manch ein Nutzer, der sich einen XDreeme anschafft, wird ihn seinen Freunden und Bekannten stolz vorführen. Manch einer mag dadurch angeregt werden, ebenfalls einen UL-Flugschein zu erwerben, um zum Gleitschirmflieger zu werden. Denn jetzt ist das mitunter sogar wirklich nützlich. Manch einer wird sich fragen, ob und wie man das Gerät noch weiter verbessern kann. Und manch ein kreativer Kopf wird darüber grübeln, ob und wie man ein solches fliegendes Auto nicht auch anders umsetzen kann. So hat es immer angefangen. Alle uns in der Rückschau als mächtige Umwälzungen erscheinenden Fortschritte begannen mit einem kleinen Impuls in einer kleinen Werkstatt am Rande der Stadt, verbesserten und verbreiteten sich erst langsam durch die Rückkopplung zwischen Nutzern und Entwicklern, bis sie scheinbar plötzlich und ohne Vorwarnung größere Märkte eroberten. Das fliegende Auto wird keine Ausnahme sein.

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