Vom Leugnen der Wahrheit. Oder: Zehn Gebote für Machthaber

Der Leugner ist mit Blindheit geschlagen, und er weiß es. Doch hält er sich für einen blinden Seher. Als einziger im Besitz der Wahrheit. Er befindet sich in einem Wahnzustand. Dann hat er die Wahl. Ab in den Mythos oder in die Psychiatrie. Auch blinde Seher können sich sehen. Nur eines können sie nicht: führen.

Servus Tichy, Frau Merkel leugnet erneut, dass die wachsende Gefahr radikalislamischen Terrors in Europa mit der unkontrollierten Migration zu tun hat. Schließlich sei die IS älter als die Fluchtwelle. Außenminister Steinmeier leugnet Erkenntnisse des Bundesnachrichtendienstes und des Innenministeriums. Danach ist die Türkei unter Erdogan eine Aktionsplattform für Islamisten zur Unterstützung der Muslimbrüder und der Terrororganisation Hamas. Aber muss man das so sagen?

Das Leugnen der Realität kann viele Gründe haben. Hier sind zehn.

I.

Leugnen aus diplomatischen Gründen. Rücksicht ist die erste Diplomatenpflicht. Die Türkei bleibt ein wichtiger Partner. Der Teufelspakt in Flüchtlingsfragen soll nicht gefährdet werden. Der türkische EU-Botschafter rechnet nach wie vor mit dem Beitritt seines Landes in die EU bis 2023. Bloß nicht widersprechen! Der Leugner scheut die Konsequenzen aus seinem Wissen. Kann die Türkei Mitglied der NATO bleiben? Lieber nicht daran rühren.

II.

Der Leugner geht davon aus, dass es objektive Wahrheit nicht gibt. Aus Elementen relativer Wahrheit, aus seiner Interpretation der Wahrheit, baut er sich die Welt nach eigenen Vorstellungen. Es gilt immer Martin Walsers Satz: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ Wie wahr!

III.

Der Leugner hält die Wahrheit für gefährlich. Rupert Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Angela Merkels ergebener Adept (und Agent im ZDF als langjähriger Fernsehratsvorsitzender): Die Wahrheit gefährde drei Millionen Türken, die in Deutschland leben, fördere mithin rechte Gewalt. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Lieber Friedhofsruhe als gar keine Ruhe. Das Schweigen im romantischen deutschen Walde ersetzt den demokratischen Diskurs.

IV.

Der Leugner macht es sich in seinen eigenen Illusionen bequem. Trägt rosa Brille. Nur wozu? Einem Blinden bedeutet die Farbe der Gläser nichts. Der Leugner betrügt sich selbst. Rechnet mit günstiger Fügung. So schlimm wird es schon nicht kommen.

V.

Der Leugner kennt die Wahrheit sehr wohl, weiß auch, dass er sich geirrt hat. Er leugnet jedoch weiter, weil er nicht zugeben will, dass er die Lage falsch eingeschätzt und deshalb falsch gehandelt hat. Er glaubt, die Korrektur der eigenen Position könne ihm schaden. Leugnen als wahltaktische Vorsichtsmaßnahme. Kann kontraproduktiv sein – siehe AfD.

VI.

Nach mir die Sintflut, denkt der Leugner der Wahrheit.

VII.

Der Leugner unterdrückt die Wahrheit, weil er es sich leisten kann. Umgeben von Hasenfüßen, Duckmäusern, Karrieristen, willfährigen Journalisten, ordnet er seine Version der Wahrheit an. Macht und die Wahrheit vertragen sich schlecht. Wer Macht besitzt, sucht sich die Wahrheit aus, definiert sie selbst. Gilt für die Erdogans wie für die Merkels dieser Welt. Ob sie damit durchkommen oder nicht, ist ein gutes Kriterium für die Qualität ihrer Demokratie.

VIII.

Der Leugner streitet die Wahrheit nicht ab. Besteht jedoch darauf, sie sei viel komplexer als dargestellt und darstellbar. Er durchschaut die Wahrheit ganz. Weiß aber, dass sie den schlichten Medien-Konsumenten und unmündigen Wähler überfordert. Deshalb bevormundet er sein Publikum.

IX.

Der Leugner ist mit Blindheit geschlagen, und er weiß es. Doch hält er sich für einen blinden Seher. Als einziger im Besitz der Wahrheit. Er befindet sich in einem Wahnzustand. Dann hat er die Wahl. Ab in den Mythos oder in die Psychiatrie. Auch blinde Seher können sich sehen. Nur eines können sie nicht: führen.

X.

Die Wahrheit widerspricht der Ideologie des Leugners. Ideologie aber steht stets über Wahrheit. Wahrheit ist Glaubenssache. Dennoch gilt das Wort aus Bertold Brechts Galileo Galilei, dem Stück, das von der Wahrheit unter der Knute des Dogmas handelt: „Wer die Wahrheit nicht kennt, ist bloß ein Dummkopf. Wer sie kennt, und sie Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“

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