Spätrömische Verhältnisse – oder: Vom diskreten Charme der Dekadenz

Darf man Angela mit Salome vergleichen, und wie sollte das möglich sein? Und Dekadenz ist etwas sehr, sehr Schönes. In der Oper.

Lieber Roland Tichy,

wie ich darauf gekommen bin, unsere Angela mit Salome zu vergleichen, muss ich Ihnen gleich noch erzählen. Wir haben es mit einem christlichen Stoff zu tun und zugleich mit einer Lieblingsgestalt der europäischen Dekadenz. Klingelt es schon? Aber schön der Reihe nach.

Die Weltgeschichte hat schon immer „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ produziert. Das Theaterstück mit diesem Titel ist von „grell-verzweifelter Grundstimmung“ (Wikipedia). Unter anderem treten sein Verfasser Christian Dietrich Grabbe selbst, sowie der Teufel und dessen Großmutter auf, wie die gesamte biedermeierliche Gesellschaft gezeichnet von hoffnungsloser Lächerlichkeit. Wie Sie sehen, schweife ich erheblich ab.

Lächerlich macht sich im Augenblick auch das intellektuelle Sturmgeschütz der Kanzler_innenpartei CDU, die Konrad-Adenauer-Stiftung, die einen bestellten Artikel des bedeutenden Alt-Historikers Alexander Demandt nicht abdrucken mochte. Zensur findet nicht statt. Der Aufsatz hätte aber leider „in der aktuellen politischen Situation“ missverstanden werden können. Das darf unter gar keinen Umständen passieren. Die Angela-Partei bevormundet die Bürger ja doch aus leicht zu begreifendem Grund. Wir sind nun einmal beschränkt. Es ist schon daran zu sehen, dass wir sie gewählt haben.

Demandt erklärt den Fall des Römischen Reichs als Folge unbeherrschter Einwanderung. Im alles andere als nationalistische Römerreich (jeder konnte Römer werden, der Recht und Kaiser akzeptierte) waren Einwanderer als Siedler, Steuerzahler und Söldner willkommen. Bis die Völkerwanderung begann. Es setzte sich im vierten Jahrhundert in Rom allerdings die „Wir-schaffen-das-Partei“ durch. Der Kaiser glaubte auch aus christlicher Nächstenliebe zu handeln und ließ die Goten unkontrolliert über die Donau strömen.

Es war der Anfang vom Ende. Bald kam es zu Versorgungsproblemen. Andere Migrantengruppen, arm, kinderreich und kriegerisch, fühlten sich eingeladen. Plötzlich funktionierte auch die Integration der Fremden nicht mehr, jahrhundertelang ein Erfolgsmodell der Römer. Die Zahl der Migranten war jetzt einfach zu hoch. Da wir beigebracht bekommen haben, dass die Römer an ihrer Dekadenz, am Verfall der Moral, an Maßlosigkeit und Völlerei untergegangen seien, stellt sich jetzt allerdings die Frage, was falsche Einwanderungspolitik mit Dekadenz zu tun hat?

Vielleicht hätte ein wenig mehr Angst vor Veränderung den römischen Eliten gut getan, etwas weniger dolce vita, etwas mehr Verteidigung der eigenen Werte. Wie das Volk dachte, wissen wir nicht, es gab damals noch keine Allensbach-Umfrage. Ein Gefühl der Unsicherheit griff vermutlich um sich, als es zu ersten Versorgungsengpässen kam, während die Kaiser_in und ihr Hof noch immer satt, selbstzufrieden und von moralischem Größenwahn durchdrungen die Dinge auf sich zurollen ließen. Zum Glück, lieber Herr Tichy, ist das alles schon verdammt lang her.

Wir sind heute einen entscheidenden Schritt weiter. Wer es nicht mehr aushält unter den christlich-sozialistischen Abendlandsverteidigern, soll halt gehen. Also, ich finde, es hat schon etwas zu bedeuten, dass wir just in dem Augenblick einen neunten Planeten in unserem Sonnensystem entdeckt haben, in dem Stephen Hawking der Menschheit dringend empfiehlt, außerirdisch Asyl zu suchen. Ich bin mir sicher, wir schaffen das eher, als das Naheliegende in den Griff zu bekommen. Wir werden uns prächtig integrieren. Wo auch immer.

Über Aufstieg und Fall der Mächte hat als erster der große arabisch-islamische Gelehrte und Politiker Ibn Chaldun im vierzehnten Jahrhundert geschrieben. Seiner Lehre von der Dekadenz der Dynastien ist bis heute nichts Wesentliches hinzuzufügen. Die Degenerationserscheinungen folgen der zunehmenden Verfeinerung der Sitten. Es wachsen Empfindsamkeit, aber auch falscher Stolz, Überlegenheitsgefühl und Selbstüberschätzung. Und Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Wir reden jetzt natürlich über steinalte, unaufgeklärte, muslimische Sultane, nicht über deutsche Kanzler_innen. Die Zyklen von Aufstieg und Fall dauerten früher Jahrhunderte. Heute geht alles schneller, selbstverständlich auch das. Außerdem ist bekanntlich das einzige, was wir aus der Geschichte lernen kön-nen, die Erkenntnis, dass sie sich nicht wiederholt. Also cool bleiben, lieber Tichy, cool wie unsere Angela! Lassen Sie sich das gesagt sein!

Dekadenz ist schließlich etwas sehr Schönes. In der Oper. Salome zum Beispiel, ein Meisterwerk dekadenter Ästhetik. Die verhätschelte, selbstsüchtige Salome will weder das schönsten Geschmeide noch das halbe Königreich, sondern den Kopf des Jochanaan. Der Mann ist ein religiöser Fundamentalist der Extraklasse und für weibliche Reize so wenig zu haben wie für die römische Zivilisation am Hof des Herodes. Aber gerade deshalb begehrt Salome nichts nachdrücklicher, als den Leib des zotteligen Propheten. Sie fordert das Unmögliche, will partout von dem begehrt werden, der sie verachtet. Sie ignoriert die Verbohrtheit des frommen Fanatikers. Muss doch zu schaffen sein!

Ich weiß, der Vergleich hinkt. Unsere Angela will den Propheten gar nicht küssen. Aber um alles auf der Welt geliebt werden, will sie schon. Statt ihre sieben Schleier zu lüften, läuft sie notfalls lieber mit Burka herum, wenn der Prophet zu ihr kommt. Dafür habe ich Verständnis. Wie in Rom, wo jetzt nackte antike Statuen verhüllt werden, wenn Irans Staatsayatollah vorbeischaut um Geschäfte zu machen. Auf so etwas wäre nicht einmal die blühende Phantasie von Michel Houellebecq gekommen. Wahrscheinlich schreibt der längst an einer Fortsetzung.

Der Prophet will sich nicht beglücken lassen. Schon gar nicht von einer Frau. In der Oper kassiert Salome seinen Kopf. Unsere Angela hat den ihren abgegeben. Jetzt frage ich Sie: Wer von den beiden ist die dekadentere? Ich bin gespannt auf Ihre Antwort.

In diesem Sinne grüßt stets Ihr
Wolfgang Herles

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