Kassandra spricht – Wie immer gegen die Wand

Der Zustand Europas spricht nicht gegen die alte Utopie, sondern gegen die Baumeister. Der Turm von Brüssel ist aus Nationalstaaten gefügt. Es wird anderer Baumaterialien, smarterer Techniken bedürfen. Die Utopie lebt. Behauptet Kassandra.

Europa ist voller schöner Geschichten. Homers Geschichte von Kassandra zum Beispiel. Die Tochter des Königs von Troja ist so schön, dass Apoll sie begehrt und ihr die Gabe der Weissagung schenkt. Da sie sich dem Gott jedoch verweigert, straft der sie damit, dass ihren Vorhersagen kein Gehör geschenkt wird. Niemand will das eigene Unheil wahrhaben. Kassandra sagt voraus, dass Troja untergehen wird. Die Trojaner aber ziehen das hölzerne Pferd der Griechen in ihre Mauern.

I.

Das haben auch die Europäer getan. Niemand wollte den Weissagungen Glauben schenken. Dazu bedürfte es keiner Prophetin. Es genügten die Fakten. 2017 wird es sich wieder erweisen, einem Jahr der Entscheidung. Nicht nur Wohl und Wehe der EU stehen auf dem Spiel, sondern unser Wohlstand. Immer mehr Bürger Europas empfinden die EU, die lange Wohlstand geschaffen hat, als multiple Bedrohung. Schuldenkrise, Vertrauenskrise. Da kommen Wahlen in Deutschland, Frankreich, Holland, wahrscheinlich Italien gerade recht. England muss seinen Ausstieg konkretisieren. Die Euro-Krise erreicht das verflixte siebte Jahr. Ausgerechnet dort, wo die Staatsverschuldung weiter wächst, tritt die Wirtschaft auf der Stelle, in Italien, Griechenland und anderswo. Draghi flutet die Märkte noch immer mit Geld, züchtet Blasen, lässt Banken zusammenbrechen. Der Steuerzahler werden dafür blechen.

II.

Nicht einmal die Griechen, deren Sieg Kassandra bestätigte, wollen die Prophetin noch hören. Sie wurde von Agamemnon als Kriegsbeute nach Mykene verschleppt. Sie warnte auch ihn vergebens. Gattin Klytämnestra erdolchte ihn wie auch Kassandra. Unheilspropheten wurden noch nie geschätzt, allenfalls benutzt, um Stimmung zu machen. Von den EU-Gegnern wie von den Hütern der real existierenden EU. Die einen profitieren von den Schreckensszenarien und versprechen, die EU zu dekonstruieren. Und deren Verteidiger tun so, als hätten sie mit dem Niedergang nichts zu tun. Sie bekämpfen die EU-Verächter statt das, was die EU tatsächlich zerstört.

War es nicht einer der großen Europäer, der den größten Fehler zu verantworten hat? Helmut Kohl sah den Euro zunächst als Schluss-Stein der politischen Union. Nach der Wiedervereinigung aber wurde der zur Bedingung, zum Fundament. Es konnte nicht tragen. Kohl blieb unbeirrbar. Schröder erkannte die „kränkliche Frühgeburt“ und tat nichts. So erwies sich der Euro als trojanisches Pferd. Genau genommen waren es zwei Pferde: Die Erweiterung der EU war das andere.

Deutschlands Migrationspolitik destabilisierte die EU zusätzlich. Berlin verwaltet die Dauerkrisen und scheut die Wahrheit für den deutschen Steuerzahler, die zu Tage träte, wenn es auf den Ausstieg Griechenlands und Italiens aus der Euro-Zone setzte. Frau Merkel kauft Zeit mit dem Geld der Bürger. Sie hat keinen Plan und nennt dies auf Sicht fahren. Die Kurzsichtige lehnt Sehhilfen ab, geht Kassandra aus dem Weg, und würde sie am liebsten aus dem Weg räumen. Klytämnestra lässt grüßen. Merkels Name wird mit einem dreifachen Niedergang verbunden sein: dem der CDU, dem Deutschlands, dem der Europäischen Union. Behauptet Kassandra.

III.

Es gibt nicht bloß Homers Fassung der Kassandra-Sage. In Vergils Version prophezeit die Schöne die strahlende Zukunft Roms. Die EU ist am Ende – es lebe Europa. Die Europäer haben gar keine andere Wahl. Wer auf die Wiederkehr des Europas der Nationalstaaten setzt, weigert sich, Schlüsse aus der Geschichte zu ziehen. Das Verhängnis der EU ist es doch, wegen der nationalstaatlichen Grundordnung an Grenzen zu stoßen, diese Grenzen aber ignorieren zu wollen. In den Europäischen Räten blockieren einander Nationalstaaten. Das Demokratiedefizit Europas kommt daher, dass Demokratie an die Nationalstaaten geknüpft ist. Sie aufzulösen ist so unmöglich wie der Versuch, sie zu übergehen. Die Völker, die Bevölkerungen, wie auch immer, spielen nicht mehr mit.

Was also wäre das neue Rom, das Vergil Kassandra weissagen ließ? Es wird kein neues Rom geben, so wenig wie das alte Brüssel überdauern kann. Jede Vorstellung von Zentralität ist von gestern. Das neue Europa wird ein komplexes, hochvernetztes, also effektives System sein. Auch das menschliche Gehirn kennt keine Hierarchie. Aber die Regionen des Gehirns sind tausendfach miteinander verknüpft. Europas Synapsen heißen nicht Paris, Berlin oder Rom. Wenn dem Abbau des Brüsseler Zentralismus das Wort geredet wird, muss auch alles entfernt werden, was den regionalen, bürgernahen Verbindungen über Nationalgrenzen hinweg im Wege steht. Europa braucht weder die alten Mächte noch neue Behörden und Institutionen. Aber warum, um nur ein Beispiel zu nehmen, sollten sich Bayerns Schulen an der in systematisch betriebenen Entwertung von Bildung in Restdeutschland orientieren? Läge es nicht viel näher, sich an Österreich und der Schweiz zu messen? Dazu bedarf es nicht der dämlichen Pisa-Tests. Auch kulturell und historisch gehört der Süden Deutschlands eher zur Alpenregion als zum norddeutschen Tiefland. Es gilt, Europas Wurzelwerk zu aktivieren.

Darüber hinaus muss das Zusammenrücken dort geschehen, wo es die Lage erfordert und krisenfest möglich ist. Also auf dem Feld der Sicherheit. Ein gemeinsames Grenzregime ist so unverzichtbar wie eine gemeinsame Einwanderungspolitik. Deutschland kann mit seinen Standards im Migrations- und Asylrecht nichts anderes sein als ein Magnet für die Mühseligen und Beladenen aller Länder. Es muss sich endlich europäisieren und darf sich nicht auch noch als moralische Weltmacht aufspielen. Und ist es nicht naiv, immer noch zu glauben, die NATO könne eine europäische Militärunion ersetzen? Eine NATO, der Erdogans autoritäre Türkei angehört, und die von den USA geführt wird, die sich von Europa entfernen? Es wäre auch sinnvoller, in Europa die Finanzmärkte gemeinsam zu regulieren statt Agrarmärkte. Die Landwirtschaft muss nur den Marktmechanismen folgen. Gegen die Auswüchse der Finanzmärkte hilft Marktwirtschaft allein nicht. Und für alles, was gemeinsam geschieht, gilt künftig: one man, one vote. Ohne Europas Bürger geht nichts mehr.

IV.

Kassandra sagt: Europas Union ist bald Geschichte. Und dann? Aus Kassandras Prophezeiungen Schlüsse zu ziehen, um sie zu entwerten, drauf käme es jetzt an. Die EU ist als Glücksfall der Geschichte gestartet. Jetzt tendiert sie zum Reinfall. Nie war die Realität der Utopie so nahe gekommen – wie beim Turmbau zu Babel. Und beim Turmbau zu Brüssel. Die unfertige Baustelle zu stabilisieren ist eine technokratische Lösung. Die EU als Ruine weiter zu betreiben, wäre die romantische Lösung. Romantiker lieben Ruinen. Vorsichtiger Rückbau wäre die pragmatische Lösung, aber keine Vision. Mit dem Zusammenbruch zu rechnen und dabei zuzuschauen wäre gar keine Lösung.

Der Zustand Europas spricht nicht gegen die alte Utopie, sondern gegen die Baumeister. Der Turm von Brüssel ist aus Nationalstaaten gefügt. Es wird anderer Baumaterialien, smarterer Techniken bedürfen. Die Utopie lebt. Behauptet Kassandra.

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