Die seltsame Geschichte der Up-Geordneten Petra „Pinocchio“ Hinz

Wo liegen die Grenzen der Wahrheit? Inwieweit darf eine Angabe als richtig gelten, ab wann ist sie als Täuschung zu werten? Ist Euphemismus nicht die erste Stufe zur Flunkerei? Aus aktuellem Anlass begibt sich Ludger Kusenberg alias Ludger K. auf die Spuren der Unwahrheit. Mit offenen Worten an ein hohes Tier …

„Wer auf die Lüge baut, baut auf den Sand.“ Johann Christian August Heinroth, 1834. Es war DIE Enthüllung der letzten Woche: eine Abgeordnete des Deutschen Bundestages hat im Lebenslauf mit Studium, Staatsexamen und Berufserfahrung geprahlt – und alles davon war gelogen! Name der Dame: Petra Hinz. Die kannten Sie bis vor Tagen auch nicht, stimmt’s? Nicht mal ich, der in Essen lebt (also dort, wo Petra Hinz zu Hause ist und Politik betreibt), hatte den Namen auf dem Schirm; plötzlich war der Name dann auf jedem Schirm, doch egal, welches Senderlogo ins Mikrofonpüschel gestickt war: die aus meiner Warte drängendsten Fragen wurden nicht gestellt. Hat Frau Hinz „nur“ einen falschen Lebenslauf ins Internet hochladen lassen, oder hat sie (was eine wesentlich heftigere Missetat wäre) unechte Zeugnisse eingereicht, sprich Urkundenfälschung betrieben? Gilt in der Politik generell die inverse Lenin-Parole „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“ wenn es um Bewerbungen geht, oder ist Hinz der allseits berühmte „bedauerliche Einzelfall“? Wie läuft so eine Polit-Karriere ab, wer wählt aus, wer kann heuern, wer trägt (Mit-)Verantwortung beim Heuern, sind Rechenschaften abzulegen und nachvollziehbar? Machen sich schweigende Mitwisser langfristig auch strafbar? Sollte nicht anlässlich dieser Unfasslichkeit mal darüber nachgedacht werden, ob steuerfinanzierte Bezüge im Betrugsfall rückwirkend entziehbar sein müssen?

Das den Sachverhalt enthüllende INFORMER Magazine (eigene Schreibweise) aus Essen stellt zumindest sehr kluge Fragen hinsichtlich der Erpressbarkeit der Frau Hinz (was ggf. etliche von ihr mitgetragene Mehrheitsentscheidungen in bedenklichen Kontext bringen würde), während „die Großen“ der medialen Zunft zumeist nur die überflüssige, da komplett selbsterklärende Frage nach dem Motiv in den Mittelpunkt ihrer Berichte setzen: Warum hat Frau Hinz das bloß getan? Auch der Anwalt der Entlarvten blies diesen Punkt in offizieller Stellungnahme zu fast philosophischer Größe auf. Ich staune und frage: Meint ihr das ernst?! Also falls ja, dann dient vielleicht die folgende Anmerkung als Steigbügel beim Schwung auf den Antwortgaul: Die Frau hatte nix, wirklich NIX als Qualifikation vorzuweisen, kassiert heute aber geschätzte 100.000 Euro pro Jahr. Na? Klingelt‘s?

Mich hat die Posse Petra Hinz dazu bewegt, mal generell einen Sachverhalt unter die Lupe zu legen, der mich seit längerem beschäftigt: der fließende Übergang von einer wahren zu einer falschen Aussage, der Unterschied zwischen formaler und inhaltlicher Richtigkeit. Wie lange darf eine mithilfe sprachlicher Finessen (oder einfach Dreistheiten) „gepimpte“ Angabe als richtig gelten, ab wann ist eine Angabe als falsch zu werten?  Ist die Fassadenklitterung nicht beinahe Kennzeichen unserer Welt, der Euphemismus eine erste Stufe zur Flunkerei? Oje, bevor das jetzt ins Abstrakte driftet, lassen Sie mich ganz fix wieder zum Thema kommen und Ihnen von einem Freund berichten – ich bin überzeugt, sein „Lebenslauf“ ist ein Musterstück für vieles, was auf dem Markt herumstolziert. Folgender Dialog fand vor Jahren sinngemäß so statt (Gedächtnisprotokoll, Namen geändert):

„Ludger, kannst du mal über meinen Lebenslauf gucken? Ob das alles so ok ist?“

„Klar, zeig her! Mmh…“

Jan Bosch – Curriculum Vita
1996 bis 1998: Freie Mitarbeit im Hause der WAZ-Mediengruppe

„Ach, du warst bei der WAZ? Wusste ich gar nicht!“

„Na ja, ich habe für das WOCHENMAGAZIN geschrieben, die hängen ja auch irgendwie zusammen mit der WAZ. Also zumindest ist deren Redaktionsraum im selben Gebäude wo die WAZ ist, und die tauschen ihre Artikel auch mal untereinander aus.“

„Mmh. Warst du da für ein bestimmtes Ressort eingespannt?“

„Also, ich habe unregelmäßig Sachen dahin gefaxt, von denen ist dann auch immer wieder mal was veröffentlicht worden. Meine Oma hat die Ausschnitte gesammelt!“

„Ok, Jan, aber durch deine Wortwahl entsteht der Eindruck, dass du schwerpunktmäßig als Journalist für ein bedeutsames Medienhaus gearbeitet hast. Hast du das?“

„Ludger, meine Angabe ist so nicht falsch, also möchte ich sie auch so drin haben.“

„Ok, ok. Weiter im Text.“

1998 bis 2001: Studium „International Business Administration“ (Bachelor) an der Radboud University, Nijmegen (NL)

„Jan, du hast dein Studium abgebrochen! Und warum nimmst du nicht die deutschen Bezeichnungen? Ganz ehrlich, auf mich wirkt das so, als würdest du mit deiner hochtrabenden Wortwahl ein versemmeltes Studium zu adeln versuchen, das kann man dir als böswillige Täuschung auslegen, sei vorsichtig!“

„Aber meine Angabe ist ja nicht falsch, ich war da eingeschrieben und hab‘ Seminare besucht! Also habe ich doch da studiert, oder nicht? Und der Studiengang heißt so wie von mir aufgeführt, es ist ein Bachelorstudiengang. Ich behaupte ja nicht, erfolgreich abgeschlossen zu haben. Das bleibt drin!“

2002 bis 2004: Konzeptmitentwicklung „World Games“ (Duisburg Marketing)
2004 bis 2005: Assistent der Geschäftsführung Thyssen Krupp AG

„Ne, Jan, jetzt ist Schluss! Du hast bei den Marketing-Leuten ein unbezahltes Praktikum gemacht. Danach hat dich eine Zeitarbeitsfirma zum Aktensortieren in irgendeine schlecht beleuchtete Außenstelle von Thyssen geschickt. Assistent der Geschäftsführung …“

„… ja, aber klar, das war ich! Ich habe deren Archiv betreut.“

„Du hast Kartons geschleppt und Akten sortiert. Ist aller Ehren wert, aber was du schreibst …“

„… ist nicht falsch. Ich lege Wert darauf! Und niemand kann mir da was. Basta!“

Liebe Einblicker, es ist klar, worauf ich hinaus will, oder? Haben Sie beim Lesen vielleicht auch an Ursula von der Leyen gedacht und ihre angeberhafte „Gasthörerschaft in Stanford“? Meine These: Ein Großteil des Veröffentlichten bei linkmichel.com (oder wie auch immer die Portale heißen) sowie ebenso auf Schreibtischen im „echten“ Leben, also auch und erst recht in der Politik, ist voller Lack, der irgendwann zur Lackmeierei wird – auch wenn die Lackierenden sich keiner Schuld bewusst sind. Ich finde: In der freien Wirtschaft darf jeder Personalchef das so handhaben, wie’s dem eigenen Gutdünken passt – im Staatswesen aber oder noch allgemeiner: im öffentlichen Dienst müssen die Früchte höher hängen, die Regeln klarer und strenger sein und bei Zuwiderhandlung die Maßnahmen rigoroser. Hier bewirbt sich jemand ggf. um Wählerstimmen, und es geht um aller Leute Geld!

Fast bin ich geneigt, Frau Petra Hinz zu loben dafür, dass sie sich die tragenden Teile ihres Lebenslaufes komplett erblöfft hat, denn so fällt ihr Phantasiegebäude ohne großes Zutun von selbst zusammen. Viel kniffliger aber wird’s, wenn in der Öffentlichkeit werkelnde Personen sich eben nicht für eindeutigen Trug entscheiden (müssen), sondern Finessen einsetzen, die zwar keiner Lüge gleichkommen, wohl aber Verlogenheit offenbaren. Ein kurzer Schlenker ins Pressewesen scheint mir angebracht, bevor wir uns zum Abschluss den konkreten, echten, seit langem und auch jetzt noch im Internet einzusehenden Lebenslauf eines hochrangigen Politikers zur Brust nehmen wollen:

Zum ersten Mal wurde mir das Phänomen Trugschluss schon in ganz jungen Jahren klar, als die BRAVO (damals Leitmedium) Leser zu locken versuchte mit der Schlagzeile „Markus: Ich war schon mal im Knast“. Am Ende des beworbenen Interviews stellte sich raus, dass der Ich-will-Spaß-Sänger Markus mal im Rahmen irgendeiner Tätigkeit auch eine JVA besucht hatte. „Sitzen musste ich aber noch nicht“, waren die entlarvenden letzten Worte meines Jugendidols, die für mich die Grundlage stetigen Misstrauens Schlagzeilen gegenüber bildeten. Dieses hilft auch gegenwärtig:

„LKW rast in Nizza in Menschenmenge – 80 Tote“ – das war jüngst als Überschrift auf tagesschau.de zu lesen. Was wird hier suggeriert? Für mich erstmal ein tragischer Verkehrsunfall, nichts weiter. Das war’s aber natürlich nicht: Formal stellt der Satz zwar keine falsche Angabe dar, inhaltlich aber ist das ohne Zweifel üble Narretei! Bezichtigt man den Autor nun der Falschaussage, so dürfte der gewiss anführen „Wieso? Da ist doch wirklich ein LKW in eine Menschenmenge gefahren, oder etwa nicht?“ Drehen wir’s mal um: Stellen Sie sich vor, ein völlig unbescholtener LKW-Fahrer hätte einen Unfall mit Todesfolgen gebaut, unverschuldet durch einen platten Reifen verursacht (kann jedem von uns passieren), und dieser Fahrer wäre – hier völlig unerheblich – ein perfekt integrierter türkischer Staatsbürger gewesen. Nun stellen sie sich auf tageschau.de die Schlagzeile vor „Türke reißt 80 Menschen in den Tod“ – was wäre da wohl ZURECHT los gewesen? Wenn 60.000 Menschen einem Rolling-Stones-Konzert beiwohnen, so ist es rein statistisch sehr wahrscheinlich, dass sich darunter auch ein paar getreue NPD-Wähler befinden. Die Aussage „Stones geben Konzert vor Rechtsradikalen“ wäre also formal richtig – was sie inhaltlich noch perfider macht. Ähnliches gilt für die Krux des Passiv bei wikipedia: „… seine Werke werden seitens der Wissenschaft als Trivialliteratur angesehen.“ Sobald nur ein einziger Uni-Dödel auftaucht, der über einen (gerne renommierten und höchst erfolgreichen) Buchautor dergleichen sagt, so stimmt der diffamierende Satz – formal. Es bedarf nicht viel, um der Aussage „… jetzt wird ja auch gerade heiß darüber diskutiert, dass …“ zu formaler Richtigkeit zu verhelfen, achten Sie einfach auf die Fußball-Berichterstattung. „Anja Reschke wurde wiederholt vom Ku-Klux-Klan zu Vorträgen eingeladen“ – tja, wenn sich zwei Kapuzenträger aus Virginia bequemten, der hiesigen Journalistin des Jahres entsprechende Mails zu schicken, freilich ohne je darauf eine Antwort zu erhalten, wäre sogar solch eine abstruse Vorstellung schnell zur formalen Wahrheit mutiert. So, nun aber wie angekündigt zum Eingemachten:

Schauen Sie mal hier ->

m.mik.nrw.de/ueber-uns/minister.html

Und übereinstimmend hier ->

www.land.nrw/de/ralf-jaeger

Ich bin überzeugt, Sie kennen den Innenminister des Landes NRW Ralf Jäger, was an sich schon bemerkenswert ist, denn: Noch nie in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es ein Landesinnenminister zu vergleichbarer bundesweiter (!) Bekanntheit gebracht. (Dafür gebührt ihm aus vermarktungstechnischer Sicht Achtung, ehrlich.) Werfen Sie mal in Ruhe einen Blick auf seine Lebenslaufzeilen und berücksichtigen Sie dabei das heute von mir Geschriebene.

Trotz allem, was grad geschieht: Schönes Wochenende!

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