Es gibt keine Freiheit ohne gute Regeln

Merkel und Maas zählen auf unsere Trägheit. Wenn sie versuchen, eine gute Regel aufzuheben, weil dies angeblich ad hoc alternativlos sei, wenn sie an den bewährten Institutionen vorbei ihre Privatregeln etablieren wollen, immer dann müssen wir ihnen widersprechen. Erinnern wir sie, dass sie in unserem Auftrag handeln. Und wenn sie sich nicht erinnern lassen, wählen wir sie ab und wählen jemand anderen.

Ich muss Ihnen etwas gestehen: Ich mag Regeln. Nicht arbiträre, zufällige Regeln, nein die mag keiner. Aber gute, kluge Regeln, die beruhigen mich. Einige der schönsten und wertvollsten Dinge der Welt bestehen aus nichts als Regeln. Das Schachspiel ist die Summe seiner Regeln. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« ist eine Regel. Jedes Musikstück ist »nur« die Hörbarmachung von Regeln, manchmal sogar nichts als Regel. Und auch Grundgesetz und Menschenrechte sind Sammlungen von Regeln.

Gute Regeln können eine Gemeinschaft definieren und sie können Epochen eröffnen. Die Magna Carta war eine Reaktion auf das Chaos, das der unfähige König Johann Ohneland übers Land gebracht hatte. Die Verträge des Westfälischen Friedens sollten das Ende des Chaos des Dreißigjährigen Krieges besiegeln. Muss der Mensch in den Abgrund selbstgeschaffener Zerstörung gesehen haben, um die Bedeutung guter Regeln zu erkennen?

Wir sind Deutschland und wir sind zerrissen. Merkels moralischer Opportunismus zerrt uns Deutsche an einem Arm, die Realität auf Plätzen und Bildschirmen zerrt uns am anderen. Was aber, wenn Merkels Moral-Machbarkeit-Delta nur ein Symptom ist? Vielleicht ist Merkel gar nicht das Problem? Vielleicht sind wir das Problem? (Wenn Sie mir an dieser Stelle den Missbrauch des »wir« vorwerfen, erlauben Sie mir bitte, auszuführen!)

Regelmüde

Ich befürchte, wir sind »regelmüde« geworden. Fast alles, was »wir Deutschen« je geschafft und erschaffen haben, war in Regeln begründet, doch wir scheinen ihrer überdrüssig. Unsere allergrößten Leistungen und unsere schrecklichsten Taten waren beide außergewöhnlich regelbasiert. Wir waren nicht die Ersten, die einen Genozid versuchten. Auch nicht die Ersten in Europa. Doch wir trieben die Industrialisierung des Massenmordes via Regeln und Methoden in davor und danach ungekannte Organisationstiefe.

Nach dem Krieg machten wir das alte »Made in Germany« zum Banner des Wirtschaftswunders. »Wertarbeit« wurde zum Germanismus, also einem deutschen Wort, das im englischen Sprachraum als solches eingesetzt wird. Wie auch das von VW im Marketing eingesetzte »Fahrvergnügen«. Ob wohl »Abgasskandal« auch so ein Wort wird? Der »Zeitgeist« hätte seine »Schadenfreude« daran.

»Made in Germany« versprach: Dieses Produkt ist gebaut nach sinnvollen Regeln. Sinnvolle Regeln in der Konstruktion und sinnvolle Regeln in der Produktion. Waren anderer Länder mochten ein aufregenderes Design auf die Straße bringen oder mehr stiff upper lip in den boardroom. Wer aber ein nach allen »Regeln der Kunst« gefertigtes Produkt wollte, welches das Adjektiv »fertig« wirklich verdiente, der musste nach »Made in Germany« greifen. Unser guter Ruf und unser Wohlstand waren miteinander verschränkt. Und sie speisten sich aus dem Einhalten kluger Regeln.

Es mag belächelt werden, manche steuerfinanzierten Deutschland-Hasser mag es wütend machen, doch noch ist die angebliche Regelhaftigkeit des bundesdeutschen Alltags hoch attraktiv für »Ausländer« aus der ganzen Welt. Es sind nicht (nur) die deutschen Sozialleistungen, die Menschen verschiedenster Kulturen hierhin rufen. Es ist (auch) das Versprechen, Chaos und Unsicherheit gegen Ordnung und Gerechtigkeit tauschen zu können.

Kluge Regeln, die tatsächlich befolgt werden, das ist, trotz Merkel, einer der wichtigsten deutschen Aktivposten – wenn nicht sogar der wichtigste. Wo kluge Regeln befolgt werden, da siedeln sich Unternehmen und Menschen an.

Die deutsche 68er-Generation wird gelegentlich gescholten für einige Probleme unserer Gesellschaft in und nach der Jahrtausendwende. Mit gewissem Grund. Sie waren ja die großen Regelbeseitiger. Manche der von ihnen angegriffenen Regeln gehörten fürwahr beseitigt, etwa die Kriminalisierung Homosexueller. Andere Regeln wurden vielleicht vorschnell geschleift, so die unausgesprochene Regel, wonach politisch Verantwortliche eine abgeschlossene Schullaufbahn aufweisen sollten. Oder Lebenserfahrung. Oder zumindest Geschichtskenntnisse auf Grundschulniveau.

Durch Regelbeseitigung zur Macht

Wie die Kreuzzügler in den Heiligen Krieg zogen, Jerusalem von den Heiden zurückzuerobern, so zogen die 68er aus, das ihnen verhasste Deutschland von der Autorität vermeintlich überflüssiger Regeln zu befreien. Was sich bewährt hatte, hatte Autorität. Was Autorität hatte, war dem Machtanspruch der 68er im Weg. Also war alles, was sich bewährt hatte, ein Feind. »Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren« war einer ihrer Sprüche. »Wissen ist Macht. Wir wissen nichts. Macht nichts« ein anderer. Dem, der selbst keine Leistung vorweisen kann, ist sogar die Meritokratie ein unterdrückerisches System.

Wer nach Macht strebt, doch ahnt, dass ihm der Tradition nach keine Macht zusteht (weil er weder kompetent noch reich noch aristokratisch ist), der muss eben gegen die bestehenden Regeln ankämpfen, selbst und extra brutal, wenn diese sinnvoll sind. Wenn du nicht in der Lage bist, einen nützlichen Beitrag zu leisten, aber dennoch von Anspruchsgedanken wachgehalten wirst, hast du das Gefühl, alle seien dein Feind, sie »machten dich kaputt«. Im Motto »Macht kaputt, was euch kaputt macht« entdecken wir eine Bauchschmerz-bereitende Parallele zwischen Spontis und den Franchise-Terroristen des »Islamischen Staates«. Die einen zerstören, stellvertretend, den TV-Apparat, weil sie den Kommentator darin nicht mögen. Die anderen sparen sich den symbolischen Zwischenschritt. Argumentieren tun sie beide nicht. Sie predigen und beanspruchen Macht. Argumentation ließe ja die Denkmöglichkeit zu, dass man selbst unrecht hat, die bestehenden Regeln aber gut sind, und – Marx bewahre! – »konserviert« werden sollten.

Das deutsche Regelwerk wird heute erneut mürbe geschossen. Akteure innen und außen kochen ihr eigenes Süppchen und verheizen fürs Feuer das Küchenmobiliar.
Die Marke »Volkswagen«, hier als symbolschweres Beispiel gewählt, stand einst für jene geregelte Wertarbeit. Heute kämpft VW gegen den Ruf als Regelverbieger. Eine Software simulierte das Einhalten von Regeln. Intern wusste man, dass die Regeln nicht eingehalten wurden, aber der guten Geschäfte wegen tat man, als sei alles beim alten Regelhaften.

Der Volkswagen-Skandal hatte sich zuvor ja im Skandal einer weiteren grunddeutschen Einrichtung angekündigt, dem Skandal des Allgemeinen Deutschen Automobil-Clubs. Beim ADAC-Skandal hatte man sich in der Auswertung einer Beliebtheits-Abstimmung nicht an die eigenen Regeln gehalten. Die Überwindung des Skandals bestand konsequenterweise daraus, sich selbst neue, bessere Regeln zu geben.

Macht durch Regel-Manipulation

Auf höherer Ebene manipuliert heute die Regierung Merkel den deutschen Regelapparat. Merkels Regeltanz wird weitreichendere Folgen haben als eine Wahl zum goldenen Engel oder ein Abgastest.

Im Jahr 2015 erscholl es rund um den Globus, in Deutschland würden alle Regeln zur Immigration aufgehoben. Das stimmte zwar nicht vollständig, nur die Grenzkontrollen waren außer Kraft, doch was macht das schon? Der bereits fließende Menschenstrom wurde mächtiger. Weitere Hunderttausende machten sich auf den Weg. Bis heute brechen rund um den Globus täglich Menschen nach Deutschland auf. Nicht alle kommen an.

Die Aufhebung aller Regeln bei einer für den Staat lebensnotwendigen Aufgabe, sprich, die partielle Anarchie, ist niemals gerecht. Anarchie kann nicht gerecht sein. Gerechtigkeit braucht Regeln. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Anarchie ist ja nicht wirklich regellos. Alle Regeln aufzuheben, bedeutet realiter, den Alphawölfen die Herrschaft zu überreichen. Anarchie kennt nur ein Recht, nämlich das Recht des Stärkeren. Als das Kanzleramt im Jahr 2015 die Grenz-Anarchie beschloss, begann weltweit in den Lagern, Armenhäusern und Kriegsgebieten ein Hauen und Stechen.

Wer würde es nach Deutschland schaffen, bevor jenes vermeintlich gelobte Land wieder zu Sinnen kam? Auf Seelenverkäufern, in LKW-Laderäumen oder zu Fuß brach man in Richtung deutscher Grenze auf. Es war waghalsig, es war kostspielig, aber es war eine Chance, sein Leben grundlegend zu verändern. Wo altes Recht aufgehoben wird, etabliert sich neues Recht ganz von selbst. Recht, das sich auf archaische Weise »von selbst« etabliert, wird selten modernen Maßstäben gerecht. Die Erwartung, auf Merkels Globaleinladung könnte etwas anderes als Leid und Ungerechtigkeit folgen, ist mit »töricht« noch viel zu höflich umschrieben.

Regellosigkeit ist grausam

Wenn Familien zu uns kamen, dann nur jene, die genug Hab und Gut verscherbeln konnten, um gewissenlose Schlepper zu bezahlen. Die meisten aber, die es schafften, waren die Stärksten und Gewieftesten, nicht die Gebildetsten oder Hilfsbedürftigsten.

Diejenigen, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen, die blieben im Krieg. Eingekesselt und dem Bombenterror ausgeliefert. Regellosigkeit ist grausam. Uns wurden kulleräugige Kinder und Fachärzte verkauft. Wir bekamen Helfer-Burnout und Hashtags mit Städtenamen. Zu viele Kinder und Fachärzte ließen wir zum Sterben in Aleppo. Selber schuld, so die praktische Merkel-Doktrin, wenn sie es nicht via Schlauchboot oder kriminellen Schleppern nach Deutschland schaffen. Anarchie ist ansteckend. Die teils unmenschlichen Zustände in den Lagern entlang der Flüchtlingsroute können als direkte Folge merkelscher Regellosigkeit gelesen werden. Gute Regelwerke waren oft die Reaktion auf Chaos. Es scheint, dass Chaos die Folge ist, wenn gute Regelwerke beschädigt werden.

Es gibt keine Freiheit ohne gute Regeln. Wenn die Abwesenheit von Regeln zu Freiheit führte, müsste Somalia das freieste Land der Welt sein. Ist es nicht. Somalia ist das korrupteste Land der Welt. Dafür legt das angrenzende Kenia neuerdings Sonderschichten bei den Grenzkontrollen ein.

Metaethics 06
Sie machen Angst, das Falsche zu sagen, um uns zum Schweigen zu bringen
Würden Sie in einem Spiel mitspielen wollen, in dem ein einziger Spieler nach Belieben die Regeln verändern oder auch mal ganz außer Kraft setzen darf? Es wäre kein gutes Spiel. Genau genommen wäre es überhaupt kein Spiel. Möchten Sie in einem Staat leben, wo einer allein nach Tageslaune die Regeln verändern oder ganz außer Kraft setzen darf? Wäre ein Staat ohne Regeln noch ein Staat?
Doch nicht nur die Aufhebung gültiger Regeln nach Gusto und Umfragewerte beschädigt den Staat. Die Einsetzung von Regeln ohne tragfähige Legitimation kann das noch größere Problem sein.

Legitimation durch Weinerlichkeit

Der Justizminister scheint derzeit an einer Paralleljustiz auf dem Gebiet erlaubter Meinung zu arbeiten. Darüber wurde geschrieben, hier und anderswo. In der Geschichte gesellschaftlicher Regelwerke wurden ja bislang diverse Legitimations-Arten ausprobiert: Göttliche Offenbarung, Charisma, Sieg im Kampf, ererbte Macht, jüngst Parlamentarismus und die »marktgerechte Demokratie«. Der Justizminister fügt eine weitere Spielart hinzu: Legitimation durch Weinerlichkeit. Verboten soll sein, was regierungsnahe Meinungsführer empörend finden. Diese Super-Legitimation scheint so wirksam, dass sie den etablierten Institutionsweg umgeht.

Es ist derzeit mehr als unschick, das Wort »Diktatur« in den Mund zu nehmen. Wenn Merkel-Anhänger das Wort »Diktatur« hören, haben diese üblichen Unverdächtigen schnell mehr Schaum vor ihrem Mund als auf ihrem Latte Macchiato.

Doch, sagen Sie mir: Wenn ein Einzelner oder eine kleine Gruppe ihre eigenen Regeln nach Gutdünken durchsetzt, ohne Debatte, ohne Legitimation außer eines diffusen Gefühls, an aller Machtteilung vorbei, inhaltlich gegen Geist und Gelerntes der Demokratie verstoßend, nicht selten faktisch nur den politischen Gegner einschränkend, was wäre der richtige Terminus? Was Merkel bei Grenzen und Maas bei Meinungsfreiheit treiben, das hat für Demokratie zu wenig Demos und für Theokratie zu wenig Erleuchtung.

Lassen wir uns nicht ablenken

Merkel und Maas werden nicht plötzlich aus innerem Antrieb zur rechtsstaatlichen Besinnung kommen. Es liegt an uns, den Bürgern, (wieder) die Einhaltung von Regeln einzufordern. Wir müssen es benennen, kritisieren, blockieren und letzten Endes unmöglich machen, dass uns schlechte oder mangelhaft legitimierte Regeln aufgedrückt werden. Einige Bürger gehen in die Politik, andere auf die Straße. Einzelne geben gezielt Spenden an konstruktiv denkende Parteien. Der Wege sind viele, wir müssen sie nur gehen.

Ich bin Wortarbeiter, mein Werkzeug sind Widerspruch und Gegenvorschlag. Ich habe es zuvor gesagt und ich sage es wieder: Wenn sie das Regelwerk Deutschlands verfeuern wollen, ist es unsere Pflicht, ihnen Tag und Nacht zu widersprechen.

EU-Juncker erklärte berühmterweise, wie er auf europäischer Ebene neue Regeln einführt: »Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter.« Er bezog sich auf EU-Abgeordnete, doch für die Bürger gilt das genauso. Man könnte ausbauen: »… weil die meisten gar nicht begreifen, oder abgelenkt sind von Olympia, Fußball oder Scheindebatten auf Nebenschauplätzen«. Lassen wir uns nicht ablenken. Lernen wir, zu begreifen.

Die Regeln unseres Zusammenlebens sind unsere Welt. Merkel und Maas zählen auf unsere Trägheit. Sie fürchten unsere Widerrede, während sie unsere Welt demontieren. Wenn sie versuchen, eine gute Regel aufzuheben, weil dies angeblich ad hoc alternativlos sei, wenn sie an den bewährten Institutionen vorbei ihre Privatregeln etablieren wollen, immer dann müssen wir ihnen widersprechen. Wenn sie hundert mal denselben Fehler begehen wollen, müssen wir zweihundert mal extra laut »Nein!« rufen. (Erfahrungsgemäß hören Politiker auf dem Widerspruchsohr besonders schlecht.) Erinnern wir sie, dass sie in unserem Auftrag handeln. Und wenn sie sich nicht erinnern lassen, wählen wir sie ab und wählen jemand anderen.

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