Machtwechsel in Ostasien

Eurozentrismus, will heissen endlose Beschäftigung mit sich selbst, ist der Europäer liebste Tätigkeit. Es wäre verlockend, einmal zu berechnen, wie der Zeitaufwand für die „causa Griechenland“ sich zur wahren wirtschaftlichen, geopolitischen und kulturellen Bedeutung des Landes verhält. Hinz und Kunz sprechen von Globalisierung, doch auch die Medien verhalten sich genau wie die Politikerkaste: man befasst sich in endlosen argumentativen Kreisläufen mit Lokalproblemen und kümmert sich einen Dreck um das, was da in der Ferne geschieht. Dabei verändern sich heute die Dinge in Ostasien in einem Ausmaß und mit einer Geschwindigkeit, welche die Europäer aufrütteln sollten.

Die lieben Europäer sind rasch zur Stelle, wenn es darum geht, die USA zu kritisieren und lustvoll deren Untergang als Supermacht zu prophezeien. Im Unterschied zu Brüssel, London, Paris und Berlin hat Washington allerdings entdeckt, dass im 21. Jahrhundert im Indischen Ozean und im Pazifik „die Musik spielt“. Kaum jemand in Europa hat zur Kenntnis genommen, dass im letzten Jahr wichtige Teile der amerikanischen Flotte vom Atlantik in den Pazifik verlegt worden sind.

1980er: Bücher zur Weltmacht Japan

Die Geschwindigkeit und das Ausmaß, mit denen sich der Ferne Osten in den letzten vier Jahrzehnten verändert hat, sind wahrhaft atemberaubend. Nächstes Jahr jährt sich der Todestag von Mao Zedong zum vierzigsten mal. 1976 lebte ganz China, das durch die zehnjährige „Kulturrevolution“ nicht nur materiell, sondern auch kulturell zerstört worden war, im Steinzeitalter. Gleichzeitig machte sich Japan damals auf, an die Weltspitze der Wirtschaftsmächte aufzusteigen. Wer erinnert sich heute noch, dass in den 1980er Jahren Bücher und Traktate geschrieben wurden, welche die Westler aufriefen, japanische Managementtechniken zu übernehmen, und die prophezeiten, dass Nippon zur Weltmacht werde, welche selbst die USA herausfordern würde?

Alles ist ganz anders gekommen. Zwar sind auch heute Kommentierung und Berichterstattung zu Japan in den westlichen Medien einseitig und inkompetent. Genauso wie der Japan-Enthusiasmus der 1980er Jahre überrissen war, so ist heute der Japan-Pessimismus überrissen. Japan rangiert nur noch an dritter Stelle der Wirtschaftsmächte, doch ist es, wenn es um die Assets geht, viel reicher als jede andere Nation abgesehen von den USA. Zudem hat es Innovationskapazitäten bewahrt, die in der Welt gesucht sind, und nicht zuletzt weist es eine innere, soziale Kohärenz auf, die einzigartig ist. Japan ist das einzige grosse Land der Welt, in welchem es keine nennenswerten Minderheiten gibt, weder religiös noch kulturell,  weder linguistisch noch ethnisch noch sozial. Es ist das einzige Land der Welt mit einem  funktionierenden Gesellschaftsvertrag!

40 Jahre nach Mao ist China Weltmacht

Im China Mao Zedongs galt jemand, der über zehntausend Yuan Renminbi verfügte, als reich. Heute haben Hunderte von Millionen von Haushalten Vermögenswerte, die 100.000 oder mehr Yuan Renminbi ausmachen. Während bei Maos Ableben neunzig Prozent der Chinesen in bitterster Armut lebten, sind es heute weniger als zehn Prozent der Bevölkerung, die an der Armutsgrenze dahin vegetieren. Noch in den 1990er Jahren war der „Friendship Store“ in Beijing das einzige Geschäft mit Importwaren. Heute gehört China zu den wichtigsten Aussenhandelsmächten der Welt. Noch in den 1990er Jahren wusste man oft nicht, was mit den eingewechselten Yuan tun. Heute strebt Beijing machtvoll danach, seine Währung als Weltwährung, als internationale Reservewährung zu etablieren.

Die europäischen Regierungen kommen nicht einmal mit dem Kleinstaat Griechenland zurande und in jeder europäischen Kapitale wird nur noch ad hoc regiert, lebt man von der Hand in den Mund ohne jede klare Vorstellung, wohin die Reise in die Zukunft gehen soll. Derweil arbeitet die chinesische Führung konsequent gleich an mehreren Fronten an einer Wiederherstellung der Weltmacht China, die als Reich der Mitte, als Hegemon über Asien unangefochten an der Weltspitze steht.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs waren die Bretton Woods Institutionen das einzige noch verbleibende Ordnungselement aus der Nachkriegszeit. Seit Kurzem ist nun auch diese Epoche zu ihrem Ende gekommen. Der Internationale Währungsfonds (IMF) hatte sein Schicksal besiegelt und seine ohnehin schon angekratzte Glaubwürdigkeit vollständig verspielt, als nach dem Fiasko mit Dominique Strauss Kahn ein weiterer Westler, die ziemlich fragwürdige Französin Christine Lagarde, an die Spitze des IMF gerufen wurde, obschon sowohl aus China als auch aus Indien wesentlich qualifiziertere Kandidaten zur Verfügung standen.

IMF und Weltbank: Glaubwürdigkeit verloren

Bei der „Asienkrise“ 1997/98 hatte der IMF versagt. Damals schlug Tokyo die Errichtung eines asiatischen IMF vor und im Westen ging ein Sturm der Empörung unter den ordnungspolitischen Sittenwächtern gegen das Projekt los. Inzwischen hat nach all den Exerzitien mit Griechenland der IMF überhaupt keine Glaubwürdigkeit mehr. Dasselbe gilt auch für die Weltbank. In jüngster Zeit haben die Chinesen begonnen, die internationale Ordnung umzubauen. Erst mit der Gründung der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB), in welcher Beijing eine Vetostellung besitzt, und seit jüngstem mit der BRICS Bank. Beide Institutionen werden von den Chinesen gezielt eingesetzt, um die internationale Wirtschatsordnung umzubauen.

Japan hält vorderhand an der von ihm dominierten Asian Development Bank fest und ist zusammen mit den USA der AIIB bis anhin fern geblieben. Es ist natürlich ein Schock für Nippon, das einst von der Trilaterale bis zu G-7/G-8 der einzige Vertreter Asiens im exklusiven Klub der westlichen Industriemächte gewesen war, nun die Plattform mit anderen Asiaten teilen zu müssen. Tiefgreifende Änderungen dauern in Japan ihre Zeit. Doch mit Ministerpräsident Shinzo Abe ist ein neuer Wind in die Korridore der Macht in Tokyo eingedrungen. Im Westen sieht man vor allem „Abenomics“, doch Abe geht es um viel mehr. Er will einem Volk, das durch den rasanten Aufstieg Chinas und den eigenen demografischen Niedergang verunsichert ist, neues Vertrauen verschaffen und strebt dies mit einer neuen geopolitischen Positionierung Japans an.

Japan emanzipiert sich

Die von der amerikanischen Besatzungsmacht 1947 ausgearbeitete japanische Verfassung verpflichtet das Land zum Pazifismus, zur Aufgabe der Kriegführung. Auch mit Duldung der USA hat Japan in den vergangenen sechzig Jahren eine ansehnliche Selbstverteidigungsstreitmacht aufgebaut. Abe will nun, dass dieses Instrument auch fern der eigenen Landmasse und der eigenen Territorialgewässer eingesetzt werden kann. Zu diesem Zweck sind unlängst zwei neue Sicherheitsgesetze erlassen worden. Washington begrüsst ein geopolitisch selbstbewussteres Japan – nicht zuletzt mit Blick auf die Grossmacht China, die derzeit im Südchinesischen und im Ostchinesischen Meer Expansion betreibt. Bereits formieren sich neue Interessengemeinschaften, die einem allzu mächtig auftrumpfenden China Paroli bieten wollen.

Australien, Indien und Japan kommen sich näher. Tokyo fördert Milliardeninvestitionen in Südostasien und in Indien, derweil sich Beijing mit der Shanghai Cooperation Organization ein neues geopolitisches Instrument geschaffen hat, das vor allem in Zentralasien engagiert ist und dort ein machtpolitisches Vakuum vermeiden will. Schliesslich schwebt über dem ganzen  Fernen Osten die Unberechenbarkeit des nordkoreanischen Regimes. Genügend Konfliktstoff, genügend Risiken, aber auch ausreichend Chancen, dass man sich auch im fernen Europa etwas mehr mit Ostasien beschäftigen sollte.

Urs Schoettli war Korrespondent der NZZ in Delhi, Hongkong, Peking und Tokyo, wo er heute lebt.

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