Hannelore on top

Wie Hannelore Kraft „On Top“ rechnet und dabei herauskommt, dass das, was die Bürger zahlen ihnen ja gar nicht gehört hat. So rechnet man sich reich.

© Andreas Rentz/Getty Images

Nordrhein-Westfalen ist mit 188,0 Milliarden Schulden das am höchsten verschuldete Bundesland. Dabei ist schon berücksichtigt: Damit die Zahl nicht ganz so schrecklich ist, verlagert das Land die Verschuldung auf die Gemeinden und Städte.

Insbesondere die hohen Kosten der Flüchtlinge schlagen bei den Kommunen zu Buche. Das sollten man wissen, wenn man die Ministerpräsidentin Hannelore reden hört. So führte sie  kürzlich im WDR-Fernsehen (am 23. November 2016),  ein Rechenkunstück vor, das sie seither wiederholt: Alles geht on Top.

„Wenn man über Zahlen redet, wir haben in diesem Jahr im Haushalt 4,6 Mrd. für Integration […] Aber wichtig war uns auch immer die Botschaft: Dieses Geld ist on top gekommen. Das heißt, es ist nirgendwo anders dafür was weggenommen worden. Es muss niemand darunter leiden, dass jetzt diese Aufgaben finanziert werden.“

„On top“? Glaubt die Frau eigentlich selbst, was sie da redet? Wenn ja, stellt sich die Frage, ob Frau Kraft noch die erforderliche Eignung für das Amt der Ministerpräsidentin eines wichtigen Bundeslandes besitzt. Wenn nein, dann stellt sich die Frage, was denn Bürger von einer Ministerpräsidentin denken sollen, die ihnen eine an Schwachsinn grenzende Geistesverfassung unterstellt. Niemandem würde etwas weggenommen?

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Vermutlich denkt Frau Kraft bei ihrem „on top“ an Geld, das ihr Land nur deshalb bekam, weil der Bund den Geldhahn aufmachte, um die Migrationskrise zu bewältigen. Oder weil NRW mehr Steuereinnahmen zufließen als ursprünglich geplant, oder weil beides gleichzeitig zutrifft. Und weil bei dieser unerwartet positiven Entwicklung der Landesfinanzen mehr Geld herauskam als zunächst erwartet, kann folglich, so jedenfalls die eigenwillige Logik von Hannelore Kraft, auch niemandem etwas weggenommen worden sein. Klar, was die Bürger erwirtschaften, gehört ihnen gar nicht, sondern dem Staat, weswegen Steuern niemandem etwas wegnehmen können.

Eine seltsam verengte Betrachtungsweise. Vielleicht sollte an dieser Stelle, ebenfalls nicht ganz ohne volkspädagogischen Ehrgeiz, daran erinnert werden, dass Staatsgeld, auch wenn es „on top“ daherkommt, einem Steueraufkommen entstammt, das im ganzen Land und im Wesentlichen vom ganzen Volk erarbeitet wird und den Bürgern in Form der öffentlichen Daseinsfürsorge grundsätzlich auch wieder zusteht. Angesichts dieser Umstände muss es erlaubt sein nachzufragen, ob eine „Flüchtlingspolitik“ nicht schon deshalb verfehlt genannt werden muss, weil sie finanziell eigentlich nicht gerechtfertigt werden kann. Doch zunächst ein paar Tatsachen vorweg.

Nach Auskunft von Finanzminister Schäuble können Bund, Länder und Gemeinden bis zum Jahr 2020 mit 42 Milliarden Euro höheren Einnahmen rechnen als bisher geplant. Gewissermaßen „on top“, um in Krafts Sprachgebrauch zu bleiben (DIE WELT vom 4. Mai 2016). Dagegen stehen ziemlich beeindruckende Aufwendungen, die durch die Bewältigung der über weite Strecken selbstverschuldeten „Flüchtlingskrise“ entstanden sind. Und an diesem Punkt überschlagen sich die Zahlen.

Der FOCUS berichtete am 10.11.2015 von geschätzten 21,1 Milliarden Euro Flüchtlingskosten für das Jahr 2015. Die Süddeutsche Zeitung vom 5. November 2015 wusste von voraussichtlich 20 Milliarden Euro Bedarf für das Jahr 2016. Die ZEIT vom 1. Februar 2016 berichtet von einer Schätzung des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Danach müsste der Staat für Unterbringung, Verpflegung sowie Integrations- und Sprachkurse 2016 und 2017 knapp 50 Milliarden Euro aufbringen.

Alle Unsicherheiten solch komplexer Schätzungen großzügig in Rechnung gestellt, würde diese Prognose bedeuten, dass das Steuer-on-top von Hannelore Kraft bereits Ende des Jahres 2017 mehr als verbraucht wäre. Eine Erweiterung der Perspektive auf das Jahr 2020 steigert die Dramatik. DER SPIEGEL vom 14. Mai 2016 vermeldet unter Berufung auf eine Aufstellung des Bundesfinanzministeriums, dass die Bundesregierung bis zum Jahre 2020 mit Kosten von rund 94 Milliarden Euro für die Unterbringung, Versorgung und Integration von Flüchtlingen rechnet.

Immerhin: In dieser Summe enthalten seien aber auch die Ausgaben für die Bekämpfung von Fluchtursachen in Krisenregionen. Die Zahl von 94 Milliarden Euro war offenbar so bemerkenswert hoch, dass sie sich flugs bis in die Peripherie der Europäischen Union herumsprach. So unterrichtete das kroatische Nachrichtenmagazin NACIONAL noch am selben Tag das heimische Publikum über die Schätzungen der Beamten des deutschen Finanzministeriums (Nacional vom 14. Mai 2016: Njemačka vlada planira potrošiti 93,6 milijardi eura za izbjeglice). Bei ihrer Schätzung unterstellten die Beamten, dass im Jahre 2016 600.000 Flüchtlinge ins Land kommen, 400.000 im Jahr 2017 und in den Folgejahren jeweils 300.000. Und weiter nahmen sie an, dass 55 Prozent der anerkannten Flüchtlinge nach fünf Jahren einen Arbeitsplatz hätten.

Dass die Migrationszahl für 2016, wie wir heute wissen, zu hoch angesetzt ist, bedeutet allerdings nicht, dass das für die Zuwanderungszahlen der kommenden Jahre auch gilt. Wenn die Fachleute des Bundesfinanzministeriums aber davon ausgehen, dass sich die Migranten nach fünf Jahren auf dem ersten Arbeitsmarkt etabliert haben, dann scheinen mit ihnen jedoch die wilden Pferde eines regierungsamtlichen Optimismus durchgegangen zu sein.

Jedenfalls kam der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) und Leiter des BAMF, Frank-Jürgen Weise, Ende vergangenen Jahres noch zu ganz anderen Zahlen. Weise prognostizierte, dass 10 Prozent der Migranten nach 5 Jahren arbeiten, 50 Prozent nach 10 Jahren und 70 Prozent nach 15 Jahren. Und diese Zahlen scheinen sich in der Realität zu bestätigen. Gleichwohl stellte auch er seine Zahlen in ein günstigeres Licht: Am Ende bekomme die Gesellschaft mehr zurück, als sie in die Flüchtlinge investiere. Schon einen Satz später allerdings ging sein politisch bedingter Zweckoptimismus in die Knie: „Wir sollten uns nichts vormachen, wie schwer es ist, für Menschen aus anderen Kulturen in unsere geregelte Arbeitsmärkte zu kommen.” (Quelle: Taunus-Zeitung vom 5. November 2015)

Wer aber das Ausmaß der finanziellen Bewältigung der sogenannten Flüchtlingskrise für die gesamte relevante Zeitspanne abschätzen möchte, muss sich den unendlichen Weiten eines Raumes kaum noch nachvollziehbar großer Zahlen öffnen. Zahlen allenfalls noch vergleichbar mit dem unheildrohenden Schwarzen Loch der Euro-Krise. Eine Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Auftrag der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung vom April 2016 ergab: Die Flüchtlings-Krise könnte den deutschen Staat langfristig bis zu 400 Mrd. € kosten, wenn die wirtschaftliche Integration der Migranten scheitert.

Diese Kosten entstünden dann, wenn die Flüchtlinge erst nach 20 Jahren in den Arbeitsmarkt integriert seien und nur niedrigbezahlten Tätigkeiten nachgingen. In diesem Fall wären die Transfer-Leistungen (z.B. Kindergeld) an Migranten deutlich höher als das, was diese in Form von Steuern und Abgaben zurückzahlen würden. Gelinge die Integration am Arbeitsmarkt nicht, zahlten alle drauf, so die Studie. Gelinge die Integration, würde Deutschland davon profitieren. Fänden alle Flüchtlinge gute Jobs, werden die Staatsfinanzen sogar entlastet. Wie gesagt, wenn! Solch durch und durch optimistische Annahmen legen die Frage nahe, ob man sich in Deutschland überhaupt noch eine andere wirtschaftliche Entwicklung vorstellen kann außer die einer Hochkonjunktur.

Bleibt man im zeitlichen Nahbereich, stehen sich zwei Zahlen gegenüber. 42 Milliarden Steuermehreinnahmen bis 2020 und im selben Zeitraum 94 Milliarden für Aufwendungen zur Bewältigung der Migrationskrise. Immerhin ist festzuhalten, dass es sich bei den 42 Milliarden Euro um Geld handelt, das durch die Ausgaben für Migranten und Flüchtlinge nicht mehr zur Verfügung steht für die Sanierung der Sozialversicherungssysteme, der Rente, des Gesundheitssystems, der Pflegeversicherung, für Krankenhäuser, für Infrastruktur, Umwelt, für eine bessere, das heißt, angemessenere Bezahlung des Personals in der Kranken- und Altenpflege, oder für eine Familienpolitik, die diese Bezeichnung auch wirklich verdient. Von der steuerlichen Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen ganz zu schweigen.

Im Übrigen handelt es sich beim „on top“ des Bundesfinanzministers auch um Geld, das gerade in Nordrhein-Westfalen dringend gebraucht würde für die Sanierung von Straßen, Schulen, Schwimmbädern. Dass viele ihrer Städte immer mehr herunterkommen, pleite sind oder jedenfalls fast, scheint Frau Kraft nicht sonderlich zu beunruhigen. Denn mit dem unverhohlenen Stolz einer überzeugten Protagonistin der Willkommenskultur verkündet sie:

„Wir sagen, jetzt gehen wir davon aus, die Menschen, die kommen, bleiben. Wir müssen sie nicht nur unterbringen und versorgen. Wir wollen sie schnell integrieren und wir haben Gott sei Dank auch exzellente Voraussetzungen in unserem Land. Wir sind nämlich das einzige Bundesland, das flächendeckend Integrationszentren aufgebaut hatte schon vorher […].“

Sozusagen Integrationszentren statt sozialem Wohnungsbau. Es wird also niemandem etwas weggenommen!

Finanzminister Wolfgang Schäuble ist in dieser Beziehung ehrlicher. Er macht klar, dass auch die vermutlich höheren Steuereinnahmen der kommenden Jahre für die Bewältigung einer Einwanderungswelle gebraucht werden, die unter dem Begriff der Flüchtlingskrise firmiert. Schäuble sagt, selbst wenn derzeit weniger Menschen auf den alten Routen nach Deutschland kämen, seien andere auf anderen Wegen unterwegs. Und außerdem müssten die bereits in Deutschland angekommenen Flüchtlinge integriert werden (DIE WELT vom 4. Mai 2016). Und da ist es wieder, dieses Argument der staatlichen Ohnmacht. Flüchtlinge, Migranten als unabwendbares Naturereignis. Auch Schäuble scheint wie selbstverständlich davon auszugehen, dass jeder, der als Flüchtling in Deutschland ankommt, auch auf Dauer im Land bleibt, wenn er nur will. Und deshalb natürlich integriert werden muss.

Muss? Konsequente, wirkungsvolle Hilfe vor Ort in den nahöstlichen Flüchtlingslagern hätte übrigens ein Bruchteil des steuerlichen „on top“ gekostet. Das UN-Flüchtlingshilfswerk hatte seit 2012 flehentlich Hilferufe ausgesandt und vor einer humanitären Krise gewarnt. Laut UNHCR wären im Jahre 2015 4,5 Milliarden Dollar nötig gewesen, um den vier Millionen syrischen Flüchtlingen in den Lagern in Libanon, Jordanien und der Türkei mit Nahrung, Unterkünften und elementarer medizinischer Versorgung zu helfen (Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2015).

Selbst wenn Deutschland diese Hilfe allein und zusätzlich auch für die Jahre 2014 und 2013 übernommen hätte, wäre vielleicht ein Zehntel der Summe herausgekommen, die der Finanzminister allein bis 2020 für Flüchtlinge aufwenden muss, die sich schließlich im Herbst 2015 ihren Weg nach Deutschland gebahnt haben. Es wäre also noch ziemlich viel Geld übrig geblieben zur Unterstützung des Wiederaufbaus, den die Menschen aus den heimatnahen Flüchtlingslagern nach Ende des Krieges hätten unmittelbar anpacken können. Selbst wenn jedem anerkannten Flüchtling, der 2015 deutschen Boden betreten hat, eine Rückkehrhilfe von 10.000 Euro geboten würde, käme nur ein Bruchteil der jetzigen und zukünftigen Integrationskosten zusammen. Denn dass Flüchtlinge und Migranten massenhaft auf dem ersten Arbeitsmarkt reüssieren, diese Illusion haben selbst die hartnäckigsten Integrationsoptimisten verloren.

Angesichts einer langfristig zum Scheitern verurteilten „Flüchtlingspolitik“ in Deutschland und angesichts der Entwicklung weltweiter Migrationsbewegungen stellen sich Fragen ganz grundsätzlicher Natur. Gibt es für Migrationswillige ein Menschenrecht auf unbeschränkte weltweite Niederlassungsfreiheit? Haben Flüchtlinge das Recht, sich das Land, in dem sie Schutz suchen, selbst auszusuchen? Ist das Asyl- und Flüchtlingsrecht überhaupt noch zeitgemäß? Birgt die leichte und kostengünstige Erreichbarkeit eines jeden Punktes der Welt nicht die Gefahr, dass der Ansturm von Migranten attraktive Zielländer strukturell überfordert? Wie weit geht das Selbstbestimmungsrecht demokratischer Nationen? Soll heißen, haben die Staaten zwar die Pflicht zur wirksamen humanitären Hilfe, aber gleichzeitig das Recht, ihre Gesellschaften vor den Belastungen oder Gefahren massenhafter Einwanderung zu schützen? Haben demokratische Gesellschaften das Recht, nicht nur ihr Wohlstandniveau gegen Masseneinwanderung zu schützen, sondern auch ihre kulturelle Identität vor ungewollter Veränderung?

Deutschland und Europa stehen am Scheideweg. Es gilt zu wählen zwischen demographischer und kultureller Selbstbehauptung und Selbstaufgabe. Die Selbstaufgabe wird das Ergebnis einer Politik sein, die die verheerenden Wirkungen einer Globalisierung der Migrationsströme als unabwendbares Schicksal hinnimmt. Seit der Antike bot das heilige Gastrecht dem Flüchtling grundsätzlich immer nur einen zeitlich beschränkten Schutz. In Deutschland jedoch neigt das politisch-mediale Establishment einer stillschweigend hingenommenen Verkehrung des Gastrechts zu – zugunsten eines faktischen Bleiberechts für alle. Vielleicht meint Wolfgang Schäuble, dass eben genau das seinen finanziellen Preis habe und im Zweifel den „on top“, vielleicht aber auch noch sehr viel mehr kostet.

Prof. Dr. Berthold Löffler, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, Hochschule Ravensburg-Weingarten.

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