Deutsche Depression

Die deutsche Krankheit könnte man als manisch-depressiv bezeichnen: Mal sind wir himmelhoch-jauchzend („Wir sind Papst“, „Wir sind Weltmeister“), mal haben wir Versagensängste und trauen uns selbst nicht mehr über den Weg.

Will man die Gegenwart erklären, muss man in die Vergangenheit schauen. Es ist wie beim Psychologen: Diagnostiziert dieser beispielsweise eine Depression, liegen die Ursachen oft in der Vergangenheit, meistens sogar in der Kindheit. Ähnlich ist es mit einem Staat, einer Gesellschaft. Auf Deutschland bezogen nennen wir diese Krankheit einfach „deutsche Depression“. Wie äußert sich diese und wie wirkt sie sich auf unser tägliches Leben aus? Sie ist der Grund für viele Missstände, die wir gerade erleben.

Das deutsche Trauma ist nach wie vor das „Dritte Reich“, vor allem in Person von Adolf Hitler. Nein, das wird keine Geschichtsrelativierung, im Gegenteil. Die Freiheit des Individuums und unsere Demokratie sind das wichtigste Gut. Beide sind allerdings in Gefahr – und es besteht ein Zusammenhang mit der deutschen Geschichte. Die deutsche Krankheit könnte man als manisch-depressiv bezeichnen: Mal sind wir himmelhoch-jauchzend („Wir sind Papst“, „Wir sind Weltmeister“), mal haben wir Versagensängste und trauen uns selbst nicht mehr über den Weg.

So viel Verleumdung war lange nicht

So wie im Moment. Faschist, Nazi, Gutmensch usw. – sind Begriffe, die man 100-mal am Tag liest. Ich habe in keinem Zeitpunkt meines Lebens so viele Menschen gesehen, die als Nazis, Faschisten oder Rassisten tituliert wurden. Dabei bin ich mir sicher, dass sie das meist nicht sind. Ist das die tolerante und aufgeschlossene Gesellschaft? Ich sehe das nicht so. Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der man sagen durfte, was anderen nicht gefallen musste. Sie das aber zu tolerieren hatten und lernen mussten, mit anderen Meinungen und Ansichten umzugehen. Das ist unsere Aufklärung, das Goldstück unserer Gesellschaft, in der Humanismus und Freiheit selbstverständlich waren.

Und all das wird gerade von drei Seiten angegriffen: von Islamisten, von Rechtsextremen und von Vertretern der Political Correctness, unter die ich auch das linksextreme Spektrum subsumiere. Dieser Tage ist man für einige schon ein Nazi, wenn man den radikalen Islam kritisiert oder die Sorge äußert, dass wir es vielleicht nicht schaffen werden. Auch der Ägypter Hamed Abdel-Samad ist für einige ein Nazi. Bezeichnend, dass es ausgerechnet „linke Urdeutsche“ waren, die ihn vor einem Vortrag vor ein paar Wochen angriffen. Wer sind denn jetzt die wahren Rassisten? Abdel-Samad? Faschistische Züge haben eher diejenigen, die ihn mundtot machen wollen –- und da sind sich Islamisten und die Vertreter der Political Correctness erschreckend einig.

Die politische Korrektheit macht eine ehrliche und offene Debatte unmöglich. Sie lähmt den Diskurs. Viele trauen sich nur hinter vorgehaltener Hand, Dinge beim Namen zu nennen. In den Talkshows sind es fast nur Menschen mit Migrationshintergrund, die den Islam kritisieren. Gegenüber der Mehrheitsbevölkerung herrscht in den Medien und in der Politik eine Gesinnungsethik, die einerseits dem eigenen Volk nicht über den Weg traut, andererseits aber von Fremden, die nie auch nur die Spur von religiöser Freiheit erlebt haben, die Heilung des eigenen Schuldgefühls erwartet.

Ein realistisches Bild ist nötig

Medien und Politik haben es von Anfang an versäumt, den Menschen ein realistisches Bild der Flüchtlinge zu vermitteln. Man konnte den Eindruck gewinnen, es kämen nur Familien mit Kindern oder Akademiker. Von Gewalt in Flüchtlingsheimen wurde ebenso wenig berichtet wie über gewalttätige Migranten. Eine Integration von Millionen mehrheitlich muslimischer Einwanderer in Deutschland wird angesichts der bereits bestehenden Parallelgesellschaften gar nicht möglich sein. Neben Menschen, bei denen die Integration gelingen wird, werden durch den Flüchtlingsstrom auch islamischer Extremismus, arabischer Antisemitismus, nationale und ethnische Konflikte sowie ein vollkommen unterschiedliches Rechts- und Gesellschaftsverständnis importiert.

Islamkritik wird als Rassismus abgetan. Dabei wird übersehen, dass der Islam keine Rasse, sondern eine Religion mit politischem Herrschaftsanspruch ist. Wenn ein Muslim einer Frau nicht die Hand gibt, weil sie eine Frau ist, ist man nachsichtig. Das Gleiche gilt, wenn ein muslimischer Flüchtling kein Essen von weiblichen Helfern annehmen will. Man stelle sich dagegen vor, eine Weiße würde einem Schwarzen nicht die Hand geben, weil er schwarz ist. Oder ein Nichtjude würde einen Juden nicht berühren wollen, weil er Jude ist. Der Aufschrei wäre zu Recht riesengroß. Umgekehrt bleibt er jedoch aus – im Gegenteil: Kritisiert man das, gerät man noch selbst in den Verdacht, rassistisch zu sein, weil man den Islam kritisiert.

Auch Homophobie, Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus bei Muslimen scheinen plötzlich nicht mehr so schlimm zu sein. Dass muslimische Mädchen nicht am Schwimmunterricht und an Klassenfahrten teilnehmen, ist für viele kein Problem. Die Verschleierung ist für viele leider kein Symbol der Unterdrückung der Frau, sondern ein sympathisches Bild von Multikulti. Dabei ist es auch das Kopftuch, das den Körper der Frau übersexualisiert und unverschleierte Frauen in den Augen konservativer Muslime als unmoralisch darstellt. Solche Sichtweisen führen zu den Verbrechen gegenüber Frauen, die wir an Silvester in zwölf Bundesländern erlebt haben. Wie das erst im Sommer werden soll, wenn Frauen und Mädchen naturgemäß weniger anhaben, verrät uns die Politik nicht, sagt stattdessen: „Wir schaffen das“ und „Wir haben kein Sicherheitsproblem“.

Bitte kein doppeltes Maß

Anderes Beispiel: Man stelle sich vor, in Köln hätten 1.000 Deutsche muslimische Frauen aufgrund ihres Aussehens sexuell belästigt, begrapscht, ausgeraubt und vergewaltigt – und dazu noch eine Moschee mit Raketen beschossen. Der Aufschrei wäre wieder zu Recht riesengroß, unendlich viel größer als der Aufschrei jetzt. Man stelle sich dann aber Leute vor, die diese Vorfälle relativierten und behaupten würden, das sei alles kein Problem einer spezifischen Gruppe, weil es so etwas zum Beispiel auch auf dem Oktoberfest und in anderen Bereichen der Gesellschaft gebe. Man müsse allgemein über Sexismus reden und dürfe das Problem jetzt nicht ausschließlich bei den Deutschen suchen. Jeder, der so argumentierte, würde allenthalben als Nazi oder Geisteskranker tituliert werden.

Umgekehrt findet man diese Relativierer aber in allen Bereichen der Gesellschaft, vor allem in den Medien. Woran liegt es, dass mit zweierlei Maß gemessen wird? Warum findet eine ehrliche Debatte nicht statt? Warum fordern wir als Gesellschaft nicht ausnahmslos ganz klar unsere Werte bei der Integration ein? Warum haben wir so wenig Vertrauen in unsere Demokratie? Passiert ein Terroranschlag oder Verbrechen wie in Köln, wiederholen die Gesinnungspolizisten fast gebetsmühlenartig den Satz, das habe alles nichts mit dem Islam oder der Herkunft zu tun. Viele wollen gar keine klare Analyse der Verhältnisse, weil die Konsequenzen entweder nicht in die eigene Weltanschauung passen oder weil sie zugeben müssten, dass sie mit ihrer anfänglichen Einschätzung der Flüchtlingswelle völlig danebenlagen.

„Wir geben den Migranten einfach das Grundgesetz auf Arabisch oder übersetzen die Neujahrsansprache entsprechend“, das war und ist der Tenor. Dass viele der jungen männlichen muslimischen Flüchtlinge außer ihrer Mutter noch nie eine unverschleierte Frau gesehen und auch keinen Respekt vor westlich gekleideten Frauen haben, wird nicht realisiert oder es herrscht die Naivität vor, das könne man mit ein paar Integrationskursen schon hinbekommen. Selbst sachliche kritische Stimmen wurden unter „Dunkeldeutschland“ oder „Pack“ subsumiert. In den sozialen Netzwerken radikalisierten sich die Fronten weiter. Pegida und die Erfolge der AfD sind die Konsequenz dieser gescheiterten Debattenkultur – und nicht zuletzt ist auch die CDU schuld, die sich unter Merkel immer mehr nach links bewegt.

Wir haben keine konservative Partei mehr. Es ist wie auf einem Boot: Wir drohen zu kentern, weil sich alle auf der „korrekten“ Seite drängeln. Die politische Korrektheit geht Hand in Hand mit einer Portion Verachtung Deutschland gegenüber. Ihre Vertreter schmücken sich auch oft mit einem Helfersyndrom, das ihnen ein moralisches Überlegenheitsgefühl gibt. Kritische Stimmen haben nichts zu melden, denn auch wenn gerade die Anhänger der politischen Korrektheit sich so gern gegen Pauschalisierung wenden, tun sie umgekehrt genau das: Sie diffamieren jeden Kritiker als „rechts“.

Demokratie braucht die ehrliche, offene Debatte

Das kollektive schlechte Gewissen aufgrund des Dritten Reiches wird instrumentalisiert, obwohl teilweise noch nicht einmal die Generation unserer Eltern zu der Zeit lebte. Das schlechte Gewissen wurde uns eingetrichtert. Wir haben Hitler in der Schule gefühlt ein Dutzend Mal durchgenommen: in Sozialkunde, Geschichte, Religion, Deutsch, Ethik, Politik. Zumindest mir kam es vor, als bestünde die deutsche Geschichte zur Hälfte aus diesen zwölf Jahren. Ich möchte Hitler nicht relativieren, denn er ist einer der schlimmsten Verbrecher der Menschheitsgeschichte. Aber gerade deshalb können wir doch glücklich sein, dass wir jetzt in einem demokratischen Land leben – im Herzen von Europa, umgeben von Freunden, die einst Feinde waren.

Unsere einzige Pflicht als Gesellschaft besteht darin, unsere Demokratie zu bewahren, zu der auch eine ehrliche Debattenkultur gehört. Wenn aber die Vertreter der Political Correctness Themen und Meinungen tabuisieren, kann diese Debatte nicht mit der nötigen Offenheit geführt werden. Die Gesellschaft radikalisiert sich. Es passiert genau das, was wir gerade erleben. Ein schwacher Staat mit Helfersyndrom und uneingeschränkter, missverstandener Willkommenskultur, der nicht in der Lage ist, seine Grenzen zu schützen und kriminelle Flüchtlinge abzuschieben, vergiftet die Stimmung zusätzlich. In der öffentlichen Wahrnehmung werden fast diejenigen als schlimmer angesehen, die Straftaten von Migranten benennen als diejenigen, die sie verüben. Die Vertreter der Political Correctness schaden damit unserer Demokratie mehr als jeder im politisch Rechts genannten Spektrum.

Demokratie bedeutet auch Streit und verschiedene Meinungen in einer ehrlichen und sachlichen Debatte. Menschen, die diese aber aufgrund von Tabuisierungen verhindern, sind Karrieristen oder haben nicht verstanden, wie Demokratie funktioniert. „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“ Dieser Satz von Voltaire sollte unser Leitsatz sein. Viele haben ihn dieser Tage vergessen. Sie haben die „deutsche Depression“.

Markus Hibbeler arbeitet als Fotograf in Oldenburg für Presse und Firmen.

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