Der Leser hat`s Maul zu halten

Immer mehr Zeitungen beschränken oder schließen die Kommentarfunktion mit der Begründung, vor zu vielen Hasskommentaren kapitulieren zu müssen. Dann heißt es wieder einmal: Der Leser hat´s Maul zu halten, meint Klemens Volkmann.

Der Leser ist der Depp. Als Abonnent oder Werbungskonsument für kostenlose oder kostenpflichtige  gedruckte und digitale Medienprodukte ist er jederzeit hochwillkommen. Sollte er sich jedoch erdreisten, eine andere Meinung zu haben als Redaktion und Regierung und dies auch noch mit spitzer Feder im Leserbrief kundtun, dann begibt er sich schnell auf vermintes Gelände. Ein falscher Schritt nach rechts und sein geistiger Erguss fliegt in den Papierkorb.

Die Nutzerregeln vieler Kommentarforen lesen sich denn auch mitunter, als wären sie vom Freiherrn von Knigge zusammen mit einem gewissen Herrn von Rochow verfasst worden. Weil das aber immer noch nicht reicht und die Leser nicht nachlassen im Wagnis, den Maßstab ihrer beschränkten Einsicht an die Handlungen der redaktionellen Obrigkeit anzulegen,  ziehen immer mehr Zeitungen einfach die Reißleine. Sie beschränken oder schließen die Kommentarfunktion mit der Begründung, vor zu vielen Hasskommentaren kapitulieren zu müssen. Dann heißt es wieder einmal: Der Leser hat´s Maul zu halten.

Der brave Leser ist gefragt

Jüngstes Beispiel für einen überraschenden Kommentar-Cut lieferte das Online-Portal der Welt. „Im Sinne unseres Qualitätsanspruches haben wir uns entschieden, die Kommentarfunktion bis auf Weiteres portalweit einzuschränken“, hieß es kurz und bündig. Für ausgewählte Artikel will die Redaktion künftig nur noch tagsüber und wochentags die Kommentarfunktion zeitweise öffnen und moderieren. Top-Themen sollen auch weiterhin zur Kommentierung im besagten Zeitrahmen freigegeben werden.

Wer nachbohrt, erfährt Näheres. Hintergrund der Einschränkung  sei das stark angestiegene Kommentarvolumen aufgrund der gegenwärtigen Themenlage, das die Welt-Kapazitäten übersteige.

Man muss Welt Online zugutehalten, dass sie zu den letzten Refugien gehörte, in denen man bislang noch ziemlich frei zu jedem Beitrag seine Meinung schreiben konnte. Ein ambitioniertes Unterfangen für die Welt. 10.000 Leserkommentare am Tag, rund um die Uhr, zu allen Themen. Die Welt hatte hierzu eine technische Lösung gefunden, meldete kürzlich der Onlinebranchendienst Meedia der Verlagsgruppe Handelsblatt. Die Berliner setzen auf eine Software, die Beleidigungen und andere verbotene Äußerungen automatisch herausfiltern soll. Das System wurde von einer Spezialfirma angeblich auf Basis von 8,5 Millionen Kommentaren aus den vergangenen fünf Jahren, programmiert. Besonders stolz seien die Macher darauf, dass die Fehlerquote nur bei vier Prozent liegen soll.

Bei der plötzlichen Kurskorrektur so kurz vor den Stimmungswahlen in drei Bundesländern darf sich Welt Online nicht wundern, dass die Verdächtigungen der User-Gemeinde ins Kraut schießen. Denn auffällig ist, dass sich die WON-Kommentare bei Flüchtlingsthemen geschätzt zu über 95 Prozent gegen die regierungsamtliche Flüchtlingspolitik und deren Randthemen richteten. Oftmals nahmen die kritischen Kommentarspalten den vielfachen Platz des eigentlichen Berichts ein.

Wenn jeden Tag die Kommentarspalten voll von GroKo-feindlichen Äußerungen sind, die begierig nachgefragt werden, dann kann das kaum im Sinne der Berliner Regierenden sein, darf man annehmen. Nun musste das wichtigste Thema, die Flüchtlingspolitik, am Wahlsonntag vom Leser unkommentiert bleiben.  Ein Schelm, der sich Böses dabei denkt.

SPON und SZ machten schon früher zu

Die Welt steht freilich nicht allein in der angeblich unkontrollierbaren Kommentarwelt. Spiegel Online hat schon länger den Kommentar-Hahn weitgehend zugedreht. Auch hier schreibt eine große Kommentargemeinde speziell in der Flüchtlingsdebatte ständig gegen die redaktionelle Meinung an. Das verwundert, denn eigentlich ist der Spiegel doch ein Magazin für Linke, Akademiker und Intellektuelle. Mittlerweile hat man den Eindruck, dass die Kommentarfunktion gerne bei thematischen Ladenhütern oder Augsteins Kommentaren geöffnet wird.

Eine Reihe anderer Zeitungen fühlt sich inzwischen ebenfalls überfordert von der aufwendigen Arbeit, die Leser auf Verbalinjurien zu kontrollieren. Sie sehen sich in einer Reihe mit dem Hassproblem in den sozialen Netzwerken, kapitulieren vor Trollen, führen Sperrstunden ein oder begrenzen die Kommentare auf wenige Themen. Als ob der Leser ein Gegner wäre, werden mitunter die Kommentarspalten in den Onlineportalen der Zeitungen martialisch mit Kampfzonen gleichgesetzt.

Das Magazin „Journalist“ hatte 119 Vollredaktionen gefragt, ob sie im vergangenen Jahr die Kommentarfunktion auf Ihren Webseiten eingeschränkt haben, „weil Sie mit der Flut vor allem rechter/strafrechtlich relevanter Kommentare nicht mehr zurechtkommen“, meldet Meedia.  66 antworteten. Von denen gaben wiederum 27 Redaktionen an, dass sie tatsächlich Schutzmaßnahmen ergriffen haben. Allerdings sagten auch 39, dass sie bislang auf Einschränkungen verzichten würden.

Als Grund für Einschränkungen werden wirtschaftliche Gründe genannt, sprich: der hohe Moderationsaufwand, zu viel, zu teuer. Viele Redaktionen kommen mit der Flut vor allem von rechten und strafrechtlich relevanten Kommentaren nicht mehr zu Rande, sagen sie. Andere, wie die SZ, haben sich die Problematik auf höchstem ethischen Niveau zurechtgelegt: „Die öffentliche Debatte zu  moderieren, ist ein Kern unseres Jobs“, meint der Digitalchef der SZ. Heißt ins Deutsche übersetzt: die Diskussion unter den Artikeln wird seit anderthalb Jahren  durch einige wenige moderierte Foren ersetzt. Basta.

Vielen Zeitungen und ihren Online-Portalen scheint es aber generell wie der Kanzlerin zu gehen: sie kommen mit dem nervigen Leser/Bürger nicht zurecht.  Und bist du nicht willig, dann brauch in Gewalt, heißt am Ende offensichtlich die Devise. Da kommt das Phänomen „Hass-Mail“ gerade recht, um tabula rasa zu machen. Es wird übersehen, dass Hass-Mails nicht repräsentativ sind für die Kommentarfunktion. Und auch gerne verschwiegen, dass Politiker mittlerweile mit solchen Mails stolz hausieren gehen. Auch nicht die feine Art.

Wenig überzeugend wirken die eigenen moralischen Ansprüche, wenn über die pressefeindliche türkische Regierung hergezogen wird. „Polizei stürmt Redaktion Erdogan-kritischer Zeitung Zaman“, meldete die Welt und verortete die Türkei bei der Pressefreiheit auf Platz 149 von 180 Staaten. Da hatte sie aber schon die Kommentarfunktion beschränkt und ihre eigenen Leser mundtot gemacht.

Klemens Volkmann ist Redakteur im Ruhestand und hat viele Jahre in einer obersten Landesbehörde gearbeitet.

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