Brief an eine Historikerin und Aktivistin

Die politische Linke steht vor der großartigen Situation, dass es im Bundestag außer der CSU keine einzige Partei gibt, die bereit wäre, ihr zu widersprechen. Dieser Zustand muss auf jeden Fall bewahrt werden, per fas et nefas, um jeden Preis. Wer könnte einer solchen Versuchung schon widerstehen? Es ist einfach zu verlockend. Schreibt Historiker Ronald G. Asch in seinem Offenen Brief.

Sehr geehrte Frau Detjen!

Ich stieß vor kurzem auf den Artikel in der ZEIT online „Vor dem Brain Drain“ vom 19. Februar dieses Jahres.

Der Artikel ist wie viele andere geschrieben, die jede Kritik an der gegenwärtigen Politik der offenen Grenzen zurückweisen. Es gibt hunderte solcher Artikel, was für die Beiträge der Gegenseite auch gilt. Dennoch möchte ich Ihnen einige Worte darauf erwidern, nicht weil dieser Artikel besonders wichtig wäre, sondern weil er mir so paradigmatisch erscheint, und auch deshalb, weil wir gewissermaßen Kollegen sind. Die Art, wie der Appell an Emotionen die Argumente überlagert, aber auch die implizite und explizite Brandmarkung und Stigmatisierung des politischen Gegners – anders kann man es nicht nennen – ist beispielhaft und ich möchte Ihnen dazu gratulieren, innerhalb der Gattung des migrationspolitischen Kampfartikels ein besonders schönes Werkstück abgeliefert zu haben.

Was an Ihrem Artikel für den, der nicht von Anfang an Ihre ideologischen Prämissen teilt, außerordentlich verstörend ist, das ist der denunziatorische Ton, in dem Sie Ihre politischen Gegner – es sind für Sie wohl eher Feinde – von jeder Diskussion ausschließen wollen. Warum stört mich das so sehr?

Vielleicht kann ich das mit einer Anekdote begründen. Vor kurzem sah ich auf you tube eine Diskussion zwischen Alain Finkielkraut und Ghaleb Bencheickh, die vor knapp einem Jahr stattgefunden hat.

Bencheickh, den Sie wohl nicht kennen werden, schätze ich generell als einen Mann, der eine universale Bildung mit intellektuellem Scharfsinn und Spiritualität zu verbinden mag; aber mit gewissen Vorbehalten schätze ich auch Finkielkraut. Bencheickh war sich in vielen Fragen mit dem Mitglied der Academie Française einig, aber dessen doch gelegentlich etwas pauschale Urteile über den Islam und die Muslime schlechthin sah er natürlich kritisch. Statt jedoch die Keule der politischen Korrektheit zu schwingen, gab er ihm mit ausgesuchter Höflichkeit zu verstehen, dass für einen Philosophen seiner Statur ein wenig mehr an Differenzierung vielleicht angemessen sei. Ein Mann wie Bencheickh, zugegebenermaßen der Sohn eines Diplomaten, hat Stil, diesen Stil sucht man in Ihrem Artikel vergebens, wie ich leider sagen muss.

Statt auch nur eine Sekunde lang darüber nachzudenken, ob es nicht für ein Land wie Deutschland doch Grenzen der Aufnahmefähigkeit für Flüchtlinge und andere Immigranten geben könnte, ob nicht das Zusammenleben von Menschen mit zumindest zum Teil völlig konträren Wertvorstellungen, doch konfliktreich werden könnte, statt auch nur einmal über die Kosten dieser Politik nachzudenken, die mein Freiburger Kollege Raffelhüschen ja sehr treffend offen gelegt hat, ordnen Sie Ihre politischen „Feinde“ sofort als „Völkler“ ein, die, welch Frevel, an irgendeine Art von Fortleben des Nationalstaates glauben. Sie werfen ihnen im übrigen vor, die Genfer Konvention zum Schutz von Flüchtlingen in den Staub zu treten, obwohl sich gerade aus dieser Konvention eben kein juristischer (moralisch kann man die Dinge immer noch anders beurteilen, da würde ich Ihnen teilweise sogar zustimmen) Anspruch auf Asyl in Deutschland ergibt, wenn man zuvor schon in einem anderen Land Zuflucht gefunden hat, mögen die wirtschaftlichen Bedingungen dort auch schwierig sein.

Triumphierend bemerken Sie, dass es ja völlig absurd sei, an irgendeine Identität von Volk, Staat und Grenze zu glauben. Ist das wirklich so absurd, ist das nicht eher eine Definitionsfrage? Hängt es nicht auch davon ab, wie man „Volk“ definiert z. B. als eine Erinnerungsgemeinschaft, die ethnisch auch relativ heterogen sein kann? Sind nicht die Nationalstaaten auch heute noch durch jeweils ganz unterschiedliche politische Kulturen geprägt? Wäre es etwa denkbar, dass Figuren des öffentlichen Lebens in Frankreich eine Anzeige in einer Sonntagszeitung schalten, in der die grenzenlose Aufnahme von Flüchtlingen als große Erlösung vom nationalen Trauma der Schuld an einem Genozid angepriesen wird, und man darauf verweist, es sei ja eine so „wunderbares Erfahrung “ endgültig von dieser Schuld erlöst zu werden, wie das in Deutschland gerade eben unter der Federführung von Lea Rosh geschehen ist? Ja der Kolonialismus ist auch in Frankreich und England auf eine gewisse Weise ein Trauma, aber dass eine ganze Nation sich so klar über ihr eigenes moralisches Scheitern definiert und zwar am Ende doch lagerübergreifend, das ist doch eher spezifisch deutsch, was immer man davon im Einzelnen halten mag. Es gibt über die für die politische Identität der Bundesrepublik in der Tat notwendigerweise konstitutive Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit hinaus einen spezifisch deutschen „Schuldstolz“ und in gewisser Weise ist ja auch Ihr Artikel mit seiner – verzeihen Sie mir, dass ich das so deutlich sage –  recht kitschigen Anspielung auf Hannah Arendt recht deutsch.

Aber nationale Spezifika beschränken sich nicht auf die politische Kultur, auch viele Konventionen des Alltag sind immer noch durch nationale Kulturen geprägt, man denke an den Umgang der Geschlechter miteinander, oder den Humor oder dessen Fehlen. Natürlich befinden sich diese Konventionen beständig im Wandel und sind oft auch durch eine gewisse Ambiguität gekennzeichnet, aber sie existieren dennoch. Wenn man sich auf derartige Dinge gar nicht mehr einigen kann – weil z. B. für den Einen schon ein Handschlag mit einer Frau eine religiöse Verunreinigung darstellt, während der Andere glaubt, sein Privatleben bei jeder Gelegenheit exhibitionistisch in die Öffentlichkeit tragen und sich am ganzen Körper tätowieren zu müssen – was hält dann eine Gesellschaft noch zusammen? Sie meinen das Grundgesetz? Nein, damit kann man im Alltag meist nicht sehr viel anfangen, es sind vielmehr juristische Codes minderer Ordnung bis hin zum Strafgesetzbuch, die dann greifen – das ist die Kehrseite der so oft gepriesenen Diversity. Was wir dann haben, ist eine Gesellschaft, die einerseits vermutlich durch ein sehr hohes Maß an Segregation (die bekannten gated communities) und andererseits schlimmstenfalls auch durch viele „Fergusons“ gekennzeichnet ist. Angenehm ist das Leben in einer solchen Gesellschaft nicht, eher „nasty and brutish“, wenn auch für die Wohlhabenden nicht notwendigerweise „short“, um Thomas Hobbes zu zitieren.

Muss eine Politik der vollständig offenen Grenzen zu solchen Konsequenzen führen? Vielleicht trotz Michael Walzer („Wenn Staaten zu Nachbarschaften werden, werden Nachbarschaften zu Staaten“) nicht notwendigerweise, aber die Gefahr ist doch recht groß, dass genau dies eintritt. Die Konsequenzen für den Sozialstaat, der sicherlich auf ein amerikanisches Niveau zurückgefahren werden müsste, wenn sich die Kontrolle über die Grenzen nicht wiederherstellen lässt, will ich hier gar nicht näher erörtern. Nun haben Sie natürlich darauf verwiesen, dass Menschen mit beruflicher Qualifikation in Deutschland keine Heimat finden und deshalb lieber gleich weiter ziehen und dass dies sehr töricht und auch ungerecht sei. Das wäre in der Tat sehr bedauerlich und auch schon jetzt ist es absurd, dass z. b. der iranische Hochschulabsolvent grundsätzlich Probleme hat, legal nach Deutschland zu gelangen, während jemand ohne jede Qualifikation, der nur vor der Armut flieht, mit allen – relativen – Annehmlichkeiten der Willkommenskultur rechnen kann. Letzteres würden Sie freilich, wie ich vermute, als absolut notwendig ansehen, aus humanitären Gründen, so dass man dies dann eben auch bei reinen Wirtschaftsmigranten ohne Ausbildung nicht ändern dürfte.

Über alle diese Dinge ließe sich sicherlich diskutieren. Das würde freilich voraussetzen, dass Sie bereit wären, Ihr Gegenüber als agonalen Gegner, nicht als antagonistischen Feind anzusehen. Jedes Wort Ihres Artikels legt die Vermutung nahe, dass Sie dazu nicht bereit sind, weil Sie sich ihrer moralischen Überlegenheit absolut sicher sind. Dazu kann man Ihnen nur gratulieren, aber vielleicht liegt Ihre Überlegenheit ja auch darin begründet, dass sie vom Frevel des „Maskulinismus einer alternden Generation“ – welch wunderbare Formulierung – frei sind. Mit dieser natürlichen moralischen Überlegenheit der (jungen!) Frau als Autorin, kann man natürlich schwer konkurrieren, wenn man selber zum falschen Geschlecht gehört und auch noch die Mitte des Lebens überschritten hat. (Sind solche Vorwürfe Ihrerseits nicht eigentlich verwerflicher „ageism“? Aber vermutlich verwechsle ich da etwas.)

Sie leisten freilich mit Ihrem Artikel, das werden Sie wissen, einen möglichen Beitrag zur weiteren Spaltung unseres Landes, obwohl wir uns gerade in der jetzigen Lage eine solche Spaltung eigentlich nicht leisten können. Aber ich verstehe Sie. Die politische Linke, der Sie sich offenbar zurechnen, steht vor der großartigen Situation, dass es im Bundestag außer der bayerischen CSU keine einzige Partei gibt, die bereit wäre, ihr zu widersprechen. Dieser Zustand muss auf jeden Fall bewahrt werden, per fas et nefas, um jeden Preis. Wer könnte einer solchen Versuchung schon widerstehen? Es ist einfach zu verlockend.

Sie vergleichen dabei die jetzige Lage Deutschlands mit der der niedergehenden III. Französischen Republik und dem Verrat der Intellektuellen, der dieser Republik den Todesstoß versetzt habe. Die Geschichte Frankreichs zwischen 1918 und 1940 lässt sich freilich auch ganz anders lesen, als Sie es tun. Einer derjenigen, der diese Geschichte anders liest als Sie, ist der von mir bereits erwähnte Alain Finkielkraut, der auch aus biographischen Gründen sehr viel enger mit diesen dunklen Jahrzehnten der europäischen und französischen Geschichte verbunden ist als eine junge deutsche Historikerin und deshalb vielleicht auch mit mehr Autorität sprechen kann. Finkielkraut, der sich übrigens im Werk der von Ihnen beschworenen Hannah Arendt durchaus auskennt, spricht auch von einer „trahison des clercs“, aber daran sieht er den Verrat von Linksintellektuellen an den universellen Werten, die so eng mit den helleren Seiten der westlichen Kultur und ihrer Geschichte verbunden sind, und die Marginalisierung dieser Werte im Namen eines postmodernen kulturellen Relativismus und eines Multikulturalismus der beständigen Selbstanklage. Diese Sichtweise muss man nicht notwendigerweise in all ihren Schattierungen übernehmen, aber weniger legitim als die Ihre ist sie ganz sicherlich nicht.

Ich empfehle Ihrer Lektüre die letzten Sätze von Finkielkrauts 2015 erschienenem Buch „La seule exactitude“ (ein Titel, mit dem er auf den katholischen Dreyfusiard Charles Peguy Bezug nimmt, der 1914 an der Front fiel). Dort beklagt der Philosoph, dass der Wahnsinn des Nationalsozialismus heute jede Form der Loyalität gegenüber der eigenen Geschichte, der eigenen Kultur und dem eigenen Land diskreditiert habe. Der Rassenwahn der „blonden Bestie“ habe auch das Bekenntnis des „citoyen-gentilhomme“ zu seinem Land unterminiert. Finkielkraut schließt mit einem elegischen Nachruf auf ein ehrenhaftes Nationalbewußtsein und schreibt: „Pour être sûres de rentrer dans le droit chemin de l’humanisme des Lumières, les nations démocratiques, lui ont cédé, san coup férir, leur noblesse oblige. Elles n’ont pas compris que cet abandon était sa vraie victoire, son maléfice ultime.“ (La seule exactitude, S. 296: „Um die Sicherheit zu gewinnen, dass es ihnen gelingt, auf den graden Weg des Humanismus der Aufklärung zurückzukehren, haben die demokratischen Nationen ihm gegenüber ohne jeden Widerstand ihre Idee des noblesse oblige aufgegeben. Sie haben nicht begriffen, dass die Verwerfung dieses Prinzips sein wirklicher Sieg [der des Rassismus] und seine letzte Untat war.“)

Diese Gedanken werden Ihnen zuwider sein, da für Sie alles, was sich auf den Nationalstaat und die Tradition der europäischen Kultur bezieht, nur ein Phantasma ist, aber vielleicht würde es Ihnen dennoch gut zu Gesicht stehen, anzuerkennen, dass man aus guten Gründen über diese Fragen anders zu denken vermag, als Sie es tun. Im akademischen Bereich, in dem Sie ja arbeiten, gilt jedenfalls das Gegeneinander der Argumente, nicht der bloße Apell an Entrüstungsgefühle. Zumindest sollte das so sein.

Mit freundlichem Gruß

Prof. Dr. Ronald G. Asch

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