Die Obsession mit dem Ausnahmezustand ist undemokratisch

Macht Schluss mit dem Urteils-Terror, fordert Zeitgeisterjäger Matthias Heitmann.


Screenshot ARD

Ja, ich gebe es zu: Ich habe den Film „Terror – Ihr Urteil“ nicht gesehen. Ich hatte keine Lust. Ich fand den Hype um die ganze Sache auch ziemlich daneben. Da war eine Sendung im Fernsehen, bei der die Leute abstimmen durften. Das passiert beim „Dschungelcamp“ und beim „Eurovision Song Contest“ auch, ohne dass wir uns plötzlich alle menschlich und philosophisch-demokratisch ernstgenommen und aufgewertet fühlen.

Auf Gemeinschaftsgefühle, weil wir alle denselben Mist glotzen, kann ich verzichten. In den 1970er-Jahren kam es laufend vor, dass sich die Nation um den nur aus zwei Kanälen bestehenden „Lagerfeuer-Ersatz“ in den heimischen Wohnzimmern versammelte und sich dann am nächsten Morgen kollektiv austauschen konnte. Es ist zwar so (und schlimm genug), dass wir alle das öffentlich-rechtliche Fernsehen finanzieren, ob wir es nun konsumieren oder nicht. Aber einen Konsumzwang kann man daraus nicht ableiten! Wir müssen nicht über jedes Stöckchen springen, das uns hingehalten wird. Ganz abgesehen davon: So relevant war das Thema nun auch wieder nicht.

Tatsächlich ist die Frage, ob die Mehrheit der deutschen Fernsehzuschauer den Soldaten, der in dem Film 164 Flugzeuginsassen opfert, um 70.000 Menschen in einem Stadion zu retten, schuldig findet oder nicht, nicht wirklich relevant. Gestatten Sie mir eine Gegenfrage: Angenommen, Sie hätten zwei Kinder, beide würden entführt und der Entführer sagt Ihnen, eines Ihrer beiden Kinder müsse sterben, damit das andere überlebt. Welche Entscheidung würden Sie fällen? Und wie wichtig wäre Ihnen dabei das Votum Ihrer Mitmenschen?

Natürlich können Sie auch diese Situation als abwegig abtun. Wir können alternativ auch die Frage stellen, ob Sie damit einverstanden wären, einem dem Tode geweihten Patienten gegen dessen Willen Organe zu entnehmen, um sie jüngeren, hoffnungsvolleren Menschen einzupflanzen. Oder wir reden über Kinder, die in Ost-Aleppo von Trümmern erschlagen oder aufgedunsen in der Ägäis angeschwemmt werden. Im Vergleich zu dem im Film „Terror“ konstruierten Dilemma sind diese Szenarien weitaus realistischer. Und natürlich würde die man Ihre Entscheidung im Entführungsdilemma moralisch bewerten. Aber was würde man dabei über Sie tatsächlich erfahren? Nicht viel. Wahrscheinlich erführe man mehr über die nachfragende Gesellschaft als über Sie.

Das ganze Theater um „Terror“ hat mit einer demokratischen Debattenkultur nichts zu tun. Vielmehr zeigt sich, wie katastrophen- und untergangsfixiert unsere Gesellschaft inzwischen ist. Alle möglichen und täglich wiederkehrenden Fragen, Probleme und Widersprüche unseres Lebens 1.0 blenden wir gekonnt aus, drücken uns um klare Standpunkte und wollen tatsächliche Entscheidungsmöglichkeiten nicht offen miteinander diskutieren. Aber dann sollen wir aus dem Bauch heraus Entscheidungen über Leben und Tod von fiktiven 164 oder 70000 Menschen mit schuldig oder nicht schuldig bewerten?! Offen gesagt ist das widerwärtig!

Wir brauchen keine öffentlich-rechtlichen Nachhilfestunden, um uns mit schwierigen rechtlichen und moralischen Fragen auseinanderzusetzen oder um in Abgründe zu schauen. Wir tun dies geradezu obsessiv und mehr oder minder die ganze Zeit: Unsere komplette Debattenkultur leidet unter der umfassenden Dramatisierung und der grotesken Zuspitzung in nahezu allen Themenbereichen! Hinter jedem langen Gewand, Bart oder Schleier, hinter jeder Deutschlandfahne oder jedem kahlgeschorenen Kopf, hinter jedem heißen Sommertag oder Asylantrag, hinter jedem Banker und jedem Bettler – überall lauert der sofortige und unabwendbare Untergang. Wir können ja die Welt kaum noch anders sehen als in Extremen, geschweige denn anders über sie debattieren als im Duelliermodus auf Leben und Tod. Abstufungen und Grautöne sind verkappte Dammbrüche und Rückzugsräume der Feinde, und die Gegner der Schwarz-Weiß-Sicht auf die Welt sind Kollaborateure der schwarzen Macht!

Unsere Obsession mit dem Ausnahmezustand kommt daher, dass wir verzweifelt versuchen, unser Verhalten wenigstens in Grenzfällen und an den tiefsten Abgründen klar zu regeln und abzusichern. Wir tun dies nicht, weil wir mutig robust und selbstbewusst die Gestade unseres Landes verteidigen wollen, sondern, weil wir verlernt haben, uns im Alltag darüber zu verständigen und gegenseitig zu vergewissern, was richtig und was falsch ist. Auf der verzweifelten Suche nach gesellschaftlicher Werte-Orientierung organisieren wir uns um konstruierte Ausnahmezustände – ganz gleich, wie unregulierbar diese auch sein mögen – und merken dabei gar nicht, dass gerade diese Blickrichtung unsere Kurzsichtigkeit weiter verschärft.

Für eine funktionierende Gesellschaft, in der Menschlichkeit, Selbstverantwortung und Toleranz eine zentrale Rolle spielen sollen, bieten das Extrem und der Abgrund keine Leitlinien, im Gegenteil: Wer beim Autofahren fortwährend ängstlich die Leitplanke fixiert, verliert das Gespür für die tatsächliche Breite der Fahrbahn, für die eigene Manövierfähigkeit und die eigene Sicherheit – und wird somit zum Verkehrsrisiko.

Matthias Heitmann ist freier Publizist und Autor des Buches „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (TvR Medienverlag, Jena 2015, 197 S., EUR 19,90). Im Dezember erscheint sein neues E-Book „Zeitgeisterjagd Spezial: Essays gegen enges Denken“. Informationen über seine Publikationen, Seminare und Vorträge finden sich unter www.zeitgeisterjagd.de.

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