Anne Will: Bezahlter Beifall für den Minister

Eine spannende Besetzung und eine ungewöhnliche Diskussion: Bei Anne Will kracht Europa aufeinander und Linke wie Grüne sind sich einig: Europa ohne uns. SPD-Maas versucht, die Kanzlerin und seine Haut zu retten.

Screenshot: Anne Will, ARD

Bevor wir gleich bei Anne Will einsteigen, ein Wort zur Bedeutung solcher Talkshows und über die Funktion als politisches Sprachrohr von oben nach unten. Wenn die aktuelle Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung über den Vizekanzler berichtet, er hätte in der vergangenen Woche „mit einer Bemerkung von sich reden“ gemacht, dann fiel diese nicht etwa im Parlament, sondern in einer dieser öffentlich-rechtlichen Big-4-Talkshows, ohne dass die Zeitung das noch explizit erwähnte.

Talk statt Debatte

Fast so, als hätte das keinen informativen Wert, wo die politische Debatte stattfindet. Übernehmen die Talkshows die Wächterfunktion nach dem Ausfall des Bundestags?

Diese Wächterfunktion haben Will, Illner, Maischberger und Plasberg tatsächlich übernommen, wenigstens manchmal. Wenn sich die Kanzlerin, wie in der vergangenen Woche wieder bei Anne Will selbst einlädt, um sich und ihre Politik kostenlos positiv und emotional aufzuladen, dann ist die Vierte Gewalt auf eine Weise ad absurdum geführt wie aus dem Wunschzettelkasten eines Recep Tayyip Erdoğan oder Wladimir Putin.

Nach Merkel alleine zu Hause sind dieses Mal bei Anne Will wieder alle Sessel besetzt. Allerdings ohne AfD mit ihrem Masterthema: Einwanderungskrise. Diese Partei findet in den Talkshows seit Frauke Petry bei Maischberger quasi nicht mehr statt. Das mag man bedauern, das könnte allerdings auf unfreiwillige Weise auch als Glücksfall gelten. Denn diese verbindliche Stoßrichtung der Mitdiskutanten gegen die AfD-Vertreter sorgte regelmäßig nur für ein großes Einvernehmen in den illegitimen Talkshow-Interimsparlamenten.

Ein Glücksfall auch deshalb, weil das die Gelegenheit bietet, unterschiedliche politische Positionen dort herauszustellen, wo das Fernsehpublikum schon keine mehr wahrnehmen oder erwarten wollte.

Lädt Anne Will Katrin Göring-Eckardt (KGE) von den Grünen, Heiko Maas (SPD) und Katja Kipping (LINKE) ein und platziert ihnen gegenüber mit dem Außenminister Österreichs Sebastian Kurz (ÖVP) und dem slowakischen Europaabgeordneten Richard Sulík (SaS) zwei ausländische Gäste mit einwanderungskritischer Haltung, dann hat das durchaus ein erweitertes Potenzial für einen neuen Blick auf dieses Bildschirm-Ersatzparlament. Denn die Frage wird sein, ob Kurz und Sulík an diesem späten Sonntagabend nur die Leerstelle der geschassten AfD ausfüllen, um den Blick frei zu machen auf drei Vertreter dieser geisterhaften linken Mehrheit links von der CDU: auf diese rot-rot-grüne Mehrheit, gegen die sich die SPD 2013 noch zugunsten der Großen Koalition entschieden hatte. Also gegen einen Kanzler Gabriel.

Werden die drei Auserwählten den Fernsehzuschauern bei Anne Will Rot-Rot-Grün schmackhaft machen, indem sie in trauter Gemeinsamkeit auf die beiden Einwanderungskritiker von außerhalb eindreschen? Indem sie ein zuwanderungswilliges linkes Deutschland repräsentieren? Wird man dieses riskante Vorwahlmanöver wagen und die linke Einigkeit in den Vordergrund stellen? Oder werden im Gegenteil die Risse deutlicher, bevor der Kitt von morgen überhaupt trocknen kann? Wird Katrin Göring-Eckardt die schwarz-grüne Maske aufsetzen? Nie war das so einfach wie unter einer dunkelgrünen Angela Merkel. Wer, wenn nicht sie hat überhaupt erst grüne Stammpositionen wieder auf die Tagesordnung gesetzt? Wird dieser größtmögliche Bypass für den politischen Gegner zur Mitgift für den Wahlabend 2017?

Reden wir überhaupt über das Thema, das interessiert?

„Es ist ein Drama, was sich da gerade an der griechisch-mazedonischen Grenze abspielt!“, startet Anne Will. Sie harren aus bei Regen und Kälte, erklärt die Off-Stimme im eingespielten Trailer vom Ort des Geschehens. Schuld sein sollen die Tageskontingente Österreichs, erzählt der Einspieler.

Justizminister Heiko Maas findet, diese Bilder zeigten, dass das keine Lösung ist. „Wir wollen morgen auf dem Gipfel eine Lösung mit der Türkei, die die Außengrenzen schützen. Wir können die Griechen mit dieser Situation nicht alleine lassen.“ Rede man über Migration, müsse man bei den Fluchtursachen anfangen. Das klingt nach der Kernbotschaft der Linkspartei, mehr nach Sahra Wagenknechts Kritik an US-Amerikanischer militärischer Interventionspolitik als nach einer irgendwie gearteten uneingeschränkten Begeisterung über eine gesicherte Altersvorsorge durch massenhafte Zuwanderung oder nach einer kulturellen Bereicherung, wie sie Karin Göring-Eckardt (KGE) aufschäumt.

Was ist schon Wirklichkeit, wenn alle nur daran glauben?

„Wir sollten nicht den Fehler machen zu glauben, dass es ohne solche Bilder geht“, erklärt im Klartext der Außenminister Österreichs. „Die Grenze zwischen der Schutzsuche und einem nachvollziehbaren Leben in Österreich, Deutschland oder Schweden sind verschwommen.“ Wer auf der Suche nach Schutz sei, fände den auch in Griechenland. „Auch in der Türkei würde es nötig werden, Menschen zu stoppen. Es wird in der Türkei nicht wesentlich sanfter stattfinden, als in Mazedonien oder sonst wo. Die Balkanroute wird geschlossen. Das wird morgen beschlossen.“ Das sitzt erst einmal und macht auch recht gut sichtbar, worin sich die Debattenführung in Deutschland und Österreich unterscheiden: Die Wirklichkeit ist eine Macht aus Wien, die Berlin verleugnet.

Göring-Eckardt findet am schnellsten Worte. Sie will, dass es ein geordnetes Verfahren an der europäischen Außengrenze gibt. Sie will, dass innerhalb Europas verteilt wird. „Niemand kommt hierher, weil er sich sein Leben schön machen will“, meint KGE. Das allerdings sieht der Wiener Sebastian Kurz völlig anders. „Wir wollen die Fluchtursachen bekämpfen“, sagen Göring-Eckardt wie Maas. Man fragt sich, ob das nun die neue verschleiernde Sprachreglung ist, wenn man doch nur sagen will: Wir wollen die Einwanderung reduzieren mit allen Mitteln. Ja, Anne Will lässt in Berlin diskutieren und nicht in Wien. Nur dem Außenminister von dort ist das völlig schnuppe, dem slowakischen Abgeordneten auch. Für ihn sei die Zahl Null bereits Obergrenze. Grenzen müssten geschützt werden. Und die Polizei müsse handeln. „Man muss ja nicht gleich umbringen, aber man muss Gewalt anwenden“, setzt Richard Sulík noch einen drauf. Als wolle er noch klarmachen, dass der Debattenstil in Bratislava in seiner Klarheit dann aber noch einmal härter wäre als der in Wien. An Maas gewandt: „Sie wollen nur die Bilder verschieben von Mazedonien in die Türkei, weil da möglicherweise weniger Kameras aufgestellt sind.“

Klare Worte. Aus Bratislava. Unerhört

Man könne keine Zahl verhindern zum Preis von Menschenleben, relativiert Katja Kipping. Europa müsse eben investieren in die Länder, die Menschen aufnehmen. „Ich bin dagegen, Menschen sterben zu lassen“, sagt Kipping auf Wills Frage, ob man alle uneingeschränkt aufnehmen soll. Damit ist sie der Moderatorin zwar ausgewichen, aber sie bleibt damit immerhin glaubwürdig, wie einfach das auch auf diesen Allgemeinplätzchen sein mag.

Sulík verweist auf die spanische Grenze, die abgeschottet ist. Dort gäbe es nur 11 Tote, während es anderswo in diesem Zeitraum Tausende gegeben hätte. Ein gutes Argument für die Abschottung? KGE findet das naiv und relativiert ebenfalls. Nur ganz anders als Katja Kipping: „Wir müssen uns vor Rechtspopulisten schützen, vor sonst nichts.“ Meint sie damit ihren Gesprächspartner aus der Slowakei? Es klang jedenfalls wie eine Drohung. „Was haben sie überhaupt für ein Menschenbild?“, legt KGE noch eine Schippe drauf.
Ja, die Grünen haben es in dieser Zeit schwer, sich von der Flüchtlingskanzlerin abzugrenzen. Also noch eine Eskalationsstufe des Guten obendrauf: „In einem anderen Europa will ich nicht leben“, sagt KGE. Das ist die Steigerung des Kanzlerinnen-Satzes von dem Land, das nicht mehr ihres wäre. Nein, bei den Grünen, bei KGE, ist in der Sache überhaupt kein Kompromiss, kein Diskurs mehr mit den europäischen Nachbarländern angedacht.

Die Grünen brauchen Europa nicht mehr

Die Grünen brauchen eben Europa nicht mehr, wenn es nicht so will, wie die Thüringer Grüne es sich ausmalt. Das ist die Grenze zur SPD. „Es wird eine Außengrenze der EU geben und die Türkei ist ein wichtiger Partner“, erklärt Maas. Maas ist der putzige linke Hamster in der Runde, der die Reste aufmümmelt. Die Türkei ist zwar nicht in der EU, aber hat ihre Außengrenze zu schützen? Toll, diese Logik. Jetzt unterbricht KGE Maas mehrfach. Ja, wer so beseelt ist, Gutes zu tun, der kennt im Zweifel keine Freunde. Aber kann das auf diese Weise etwas mit Rot-Rot-Grün werden? Der eine hält die Moralhoheit und der andere die Kanzlerschaft? Will man so etwas wie das grüne Gewissen der Republik sein, das einzig zulässige, abgesegnet von der SPD? Aber das wird die Linke nicht machen. Die haben sogar das Weltgewissen parat. Das Internationale.

Der Österreicher lobt moderat die Kanzlerin für den Deal mit der Türkei, aber man dürfe sich nicht zu sehr von der Türkei abhängig machen. Die Sicherung der Westbalkanlinie zu kritisieren, versteht er überhaupt nicht. Und wie er das vorträgt, das hat schon etwas. Er bleibt der Unaufgeregteste am Tisch. Der deutsche Druck auf Griechenland in der Finanzkrise sei das Vorbild auch für das aktuelle Problem. „Komische Vorstellung von Europa“, höhnt KGE dazwischen und Katja Kipping verweist auf’s Tränengas. Grüne und Linke – das klappt schon ganz gut, Maas ist aber noch lange nicht im Club. Noch weniger, als er den Österreicher auch noch gegen Kipping verteidigt. Die Mitte hat ihren Preis. Maas versucht seine Haut zu retten, und das ist die der Kanzlerin.

Kontingente sind keine Obergrenze

„Es geht nicht, wenn man sagt, jeder legt seine Obergrenze fest. Wir müssen Kontingente festlegen“, sagt KGE. „Wir sollten nicht so tun, als wenn wir überflutet werden.“ Wenn sie mal offizielle Redezeit hat, bleibt es bei solchen debattenfernen Willenserklärungen. Aber nur so kann es gehen, wenn man seine Haltung offensichtlich überhaupt nicht zur Diskussion stellen mag. Wieso begrenzte Kontingente keine Obergrenze haben, das weiß nur die Grüne. Vermeintlich.

„Sie haben dicht gemacht, das ist das Problem“, poltert KGE Richtung Außenminister. Als der Österreicher sie auch einmal unterbricht, meint Göring-Eckardt: „Ich wusste gar nicht, dass sie so unhöflich sind.“ Es gibt eben in Deutschland zwei Sorten Menschen: Die, die jederzeit unterbrechen dürfen (Grüne), und solche, die sich unterbrechen lassen müssen (alle anderen). Vor diesem Hintergrund ist es eine Sensation, was dann passiert:  „Sie sind aber auch ganz schön unhöflich“, sagt Anne Will, als KGE wenig später auch Anne Will unterbricht. Will spürt es wohl jetzt auch: Die Grüne verhindert das Aufkommen jedes vernünftigen Gespräches. Maas ebenfalls: Aber entweder ist er es leid oder er will es sich nicht weiter verscherzen mit der Vertreterin des ersten Juniorpartners. Die über dem Kopf  geschwungene Moralkeule der KGE wirkt bei Maas am stärksten. Der Slowake ist zwar auch ruhiger geworden nach der ersten harschen Abwatsche, rappelt sich aber noch mal hoch und an Maas gewandt: „Reden wir doch mal Klartext, die Grenze muss geschlossen werden. (…) Europa ist eine Vertragsgemeinschaft, und wenn die Verträge nicht eingehalten werden, muss man sich nicht wundern.“

Was kostet die Türkei?

Katja Kipping findet den Preis der Einigung mit der Türkei viel zu hoch. „Die türkische Regierung führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung, gegen die Kurden. (…) In diesem Land passieren schlimme Dinge.“ Die Kritik geht an Maas, aber der gibt ihr Recht. Man kritisiere ja genau das. Aber das sei eben auch kein Grund, nicht mehr mit der Türkei zu reden, erklärt Maas. Und man fragt sich, wie das nochmal mit Seehofer und seinem Besuch in Moskau war. Wie abfällig hatte sich Maas dazu geäußert? Aber längst gibt es zweierlei Recht: Ein linkes (immer gut), und ein rechtes (eignet sich für die Kopfnuss).

Weiter Maas: „Wir müssen auch aus unserer eigenen humanitären Verantwortung heraus mit der Türkei reden.“ Und das ist dann schon ein dolles Kabinettstück. Denn so zurückhaltend umschreibt man die Zurückhaltung von Flüchtlingen durch die Türken: Als Teil einer humanitären Verantwortung! „Dass die Türkei ihre Trümpfe ausspielt, das machen doch andere europäische Staaten auch“, legt Maas noch einen nach. Das wird Erdogan freuen. Wenigstens einer, der ihn versteht im Westen – der frühere Humanist Maas. Die Türkei ist auf dem fortgeschrittenen Weg in die Diktatur und erhält Geld wie Visumsfreiheit nach Europa. Das nennt man dann wohl Realpolitik, nachdem man sich geweigert hat, sich den Realitäten real zu stellen.

Etwa diesen:

„Die Masse der Flüchtlinge macht sich auf den Weg um ein bessere Leben vorzufinden.“, grätscht der Österreicher gegen KGE: Ihm hätten Syrer gesagt, wenn sie nach Polen geschickt worden wären, wären sie in Syrien geblieben. KGE schweigt ausnahmsweise.

Weltmeister in Menschenrechtsfragen

„Wir sollten uns nicht als Weltmeister in Menschenrechtsfragen aufspielen“, hätte Seehofer gesagt, erzählt Anne Will und schaut dabei KGE fast süffisant grinsend an. Die erklärt, dass man trotzdem mit der Türkei über die Standards reden müsse, wie die Flüchtlinge in der Türkei versorgt werden sollen. Das wird Erdogan aber auch so was von beeindrucken.

„Wird denn die Slowakei mitmachen bei der Abnahme von Kontingenten von der Türkei?“ Das ist die Frage. Und die Antwort ist so klar, wie bekannt: „Nein, das wollen die Bürger nicht“, erklärt der Slowake. Und nun entlädt KGE den am smarten Außenminister aufgestauten Druck. Sie wird auf üble Weise persönlich, als sie Richard Sulík vorhält, er selbst sei ja auch geflüchtet und spielt damit auf die Einreise der Familie des Slowaken 1980 nach Deutschland an. Aus Sicht von Schengen ist Griechenland eine Insel, man sollte sie ausschließen aus dem Schengenraum, hält der dagegen. Europa ist eben Konflikt.

Katja Kipping widerspricht, als sie meint, das sich Griechenland sehr wohl an die Genfer Konventionen halten würde. Wie das allerdings mit der Versorgung der Menschen an der mazedonischen Grenzen so schief gehen kann, scheint sie für den Moment vergessen zu haben. Oder die Dresdnerin traut den Griechen nicht einmal mehr die vernünftige Versorgung von 8.000 Menschen zu, wo sie uns Deutschen sehr wohl eine von 2 Millionen zumutet.

Maas erklärt dem Slowaken, dass man nicht alle Vorteile der EU annehmen kann, aber sich dann um die Aufnahme von Kontingenten drücken will. Den lautesten Applaus bekommt Maas für diese ausgetretenen Argumente von seinem Pressesprecher. Das fällt deshalb auf, weil der Gute mehrfach alleine klatscht und viel zu laut. Anne Will macht einen Running Gag daraus. Maas – der Mann, der für seinen Beifall zahlt? Falsch. Sie und ich, die Steuerzahler, finanzieren den Applaus für den frisch verliebten Minister. Und so bleibt für morgen, den neuen Tag der Lösung all` unserer Probleme in Brüssel: Deutschland ist der weiche Bauch Europas, und Österreich-Ungarn regelt den Verkehr.

Ach ja. Das war eine Talkshow. Der Deutsche Bundestag schweigt. Vielleicht ist es auch besser so: Die Regierung hat doch schon ihr Presseamt.

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