Welcome to Germany: der kurze Sommer der heiteren Anomie

Dem freudigen, nicht nur freundlichen Willkommen vieler Deutscher für viele aus anderen Ländern kann nur die Ernüchterung des Wie Weiter folgen.

Metereologisch haben wir bereits Herbst. Politisch sind wir im Hochsommer der fröhlichen Anomie. Im August prägten Hass, Feindschaft und Anschläge gegen Asylbewerber und andere Zuwanderer die Schlagzeilen der Medien. Im September dominieren Bilder und Berichte über freundliche Begrüßung und großzügige Hilfe vieler Freiwilliger.

Angela Merkel erscheint wieder einmal als Spitze der Bewegung. Internationale Medien loben die Deutschen und zeigen mit Fingern auf Ungarn und die anderen an der Ostgrenze der EU. Gleichzeitig bekunden Politiker der meisten Parteien, dass es sich bei den 20.000 vom Wochenende um eine Ausnahme gehandelt hat, dass nun Dublin wieder gilt: Wonach im ersten Ankunftsland der EU entschieden werden muss, wer als Flüchtling anerkannt wird. Ist das realistisch?

Wie weiter nach Welcome in Germany?

„Neue Milliarden für Flüchtlinge – schärfere Asylregeln“ titelt die Süddeutsche Zeitung. Mit je drei Milliarden Euro für Gemeinden und Länder sowie den Bund können die notwendigen Maßnahmen für die 800.000 oder eine Million Migranten, mit denen Deutschland in diesem Jahr rechnet, wohl gestemmt werden. Nach diesem Schritt tritt die Bundesregierung gestärkt in Brüssel an. Aber die Chancen für eine einheitliche EU-Einwanderungs- oder auch nur Asylpolitik sind schlecht. Das gute Bild, das Deutschland selbst in den britischen Medien attestiert wird, vertieft die Unterschiede zu den 22 von 28 Mitgliedsländern der EU, die den deutschen Weg nicht mitgehen wollen.

Aber bleiben wir einen Moment noch bei Deutschland – und Österreich. In Wien und München zogen viele in die Bahnhöfe zu einem beeindruckenden Willkommen und tätiger Hilfe. Vereinzelte Berichte über Ähnliches von Seiten der ungarischen Bevölkerung auf dem Marsch der 1.000 von Budapest in Richtung Österreich kamen dazu und über viel Gastfreundschaft in Serbien. Manche Berichterstatter waren von so viel Zivilgesellschaft offensichtlich überrascht. Die Begeisterung steckte an und ergriff Journalisten und auch Politiker, von denen das niemand erwartet hätte. Am Frankfurter Hauptbahnhof begrüßten 500 Einheimische 70 Ankömmlinge. In München twitterte die Polizei an die Münchner, nicht noch mehr Sachspenden zu bringen. In Hamburg stoppten flüchtlingsbegeisterte Damen Spender, die Gummi-Bärchen verschenken wollten. Da ist Gelatine drin vom Schwein und der Muslim darf das nicht, Sie verstehen? Schnell werden erschöpfte und ermüdete Flüchtlinge mit den absurden Wohlstandsgebahren deutscher Helikopter-Helfer konfrontiert. Aber mit Kuscheltieren, so schreibt hier Frank Lübberding, wird man das Flüchtlingsproblem nicht lösen können. Die Medien laufen heiß; sie sind aktivistisch und verfolgen eigene Ziele, statt zu berichten. Im Zweifelsfall erlebt man eine Neu-Auflage des Manipulationsvorwurfs, wenn der Kuscheltierjournalismus die Grenze zwischen nüchterner Berichterstattung und emotionalem Handlungsaufruf überschreitet.

Wie lange kann dieser Sommer der heiteren Anomie dauern? Dass Zehntausende unter Suspendierung von nationalem Recht wie EU-Regeln ins Land kommen, stört zurzeit niemand. Ja, ich glaube, in der Hilfsbereitschaft von so vielen steckt ein nicht unbeträchtliches Element von „Unten-gegen-Oben“, von zivilem Ungehorsam.

Teil des Maßnahmen-Pakets der großen Koalition ist die Rückkehr zur Einhaltung der Dublin-Regel. Ich kann nicht erkennen, wie das möglich sein soll. Die nächsten Tausende sind auf der Balkanroute unterwegs, die Regierung von Oberbayern rechnet für heute mit weiteren 10.000. Ich denke, die Regierungen auf der ganzen Balkanroute bis Deutschland wissen sehr genau, dass sie über keine Mittel verfügen, um den weiteren Zustrom einzudämmen.

Auch wenn es zynisch klingt, das einzige, was den Zustrom für ein paar Monate kleiner machen kann, ist das Wetter. Im ungarischen Ankunfts-Lager Röszke war letzte Nacht nicht genug Platz in beheizten Zelten, die ersten Neuangekommenen froren trotz Schlafsäcken und Decken im Freien. Wegen der Jahreszeit läuft die Frist für politische Lösungen noch schneller. Und gleichzeitig verschlechtern sich die Bedingungen in Schlüsselländern.

Schweden und Dänemark am Wendepunkt?

In Schweden zeigen neue Umfrageergebnisse die „Schwedendemokraten“ bei  25 Prozent – doppelt so viel wie bei den Reichstagswahlen 2014. Damit lägen sie sowohl vor den Sozialdemokraten als auch vor den Konservativen. Das gleiche Bild sehen wir vor den Wahlen in Österreichs Hauptstadt Wien. Ob die Hoffnungen der verzweifelten Gegner der FPÖ aufgehen, dass der große Sympathiebeweis der Wiener für die durchziehenden Flüchtlinge sich in weniger Stimmen für die Zuwanderungsgegner niederschlägt, wird erst die Wahl am 11. Oktober erweisen. In Schweden wird 2018 gewählt.

Beobachter erklären das Modell des schwedischen Wohlfahrtsstaates schon jetzt für gescheitert. Sein Integrationsmodell war zugeschnitten auf europäische Einwanderer, sagt Timo Lockoki vom German Marshall Fund, berichtet Matthias Iken im Hamburger Abendblatt.  Den Idealen der Zeit nach seien die Ziele gewesen: „Gleichberechtigung, kulturelle Wahlfreiheit, Mitwirkung“. Seit den Neunzigerjahren hätten die Probleme nach der tiefen Rezession zugenommen. „Der Arbeitsmarkt ist heute dienstleistungsorientiert und nicht auf Menschen ausgelegt, die nicht perfekt Schwedisch sprechen“ (Lochocki).

Schweden alimentiere eine breite Bevölkerungsschicht, die dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt sei. Bis heute kümmerten sich „Einwanderungsbüros“ intensiv um Migranten. Diese Fürsorge, so Kritiker, lässt den Eigenantrieb erlahmen und hält die Einwanderer in Unmündigkeit. Gleichzeitig gibt es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit von 25 Prozent, in den Brennpunkten Stockholm, Göteborg und Malmö sind 40 Prozent der Jugendlichen zwischen 20 und 25 ohne Schulabschluss und Arbeit.

Jugendarbeitslosigkeit herrscht auch in vielen EU-Ländern, die keine Wohlfahrtsstaaten sind, nicht zuletzt im Süden. Dort wird vor Schweden gewählt. Der Septemberanfang sieht Deutschland in einer Freudenstimmung. Sie kann nur abkühlen, was auch immer das Dreieck Merkel-Hollande-Juncker in der Asyl- und Zuwanderungspolitik der EU zustande bringt oder nicht. Der Sommer der heiteren Anomie kann nur von kurzer Dauer sein. Auch der rundum optimistische Blick von Hans Hoff geht daran nicht vorbei: „Ich mache mir nichts vor. Der Umstand, dass sich die veröffentlichte Meinung gerade gedreht hat, heißt nicht, dass das lange so bleiben wird. Es werden auch wieder andere Zeiten anbrechen. Möglicherweise schneller als uns lieb ist.“

Welches Europa kommt auf die Tagesordnung

Es hilft alles nichts, die nicht nur unterschiedlichen, sondern entgegengesetzten Vorstellungen von jenem Europa, in dem wir morgen leben wollen – und können! – müssen die Eliten offen austragen und mit ihrem Souverän diskutieren. Dazu liegen nicht einmal ansatzweise genug Fakten auf dem öffentlichen Tisch. Und eine Diskussion beschränkt sich bisher auf kleine Zirkel von Kundigen, um nicht zu sagen, sie ist nur von akademischem Wert. „Immer mehr Europa“ und „ever deeper Union“ – mit diesen eurokratischen Formeln geht es nicht weiter.

Wer seine Stimme eindeutig erhebt, ist Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. In diesem Sommer hat er in Rumänien – symbolisch dort, wo auch einmal Ungarn war – eine Rede gehalten, deren Botschaft programmatisch lautet: „Wir möchten, dass Europa weiterhin den Europäern gehört.“ Er sprach vor Anhängern beim „XXVI. Studentenlager der Freien Sommeruniversität“, das jährlich im früheren Siebenbürgen stattfindet.

Da und dort kam der Auftritt in deutschen Medien vor, wurde aber eher erwähnt, ohne auf den Inhalt näher einzugehen. Dabei formuliert Orbán dort eine Position, die nicht nur für die Visegrad-Länder (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn), sondern wohl auch für die baltischen Staaten und Finnland repräsentativ sein dürfte. Schon insofern haben wir es nicht mit der Meinung eines exotischen Viktor Orbán allein zu tun. Ich bin sicher, dass er darüber hinaus auch für größere Teile der konservativen politischen Gruppierungen in Europas ganz oder teilweise repräsentativ ist – nicht etwa bloß für Kräfte wie Schwedendemokraten, dänische Volkspartei, niederländische Freiheitspartei, Vlaams Blok, UKIP, Le Pen und FPÖ.

Später in der Woche gehe ich auf diese Rede von Viktor Orbán im einzelnen ein. Wer mag, kann sich hier schon mal selbst ein Bild machen. Wer den „Gegenentwurf“ eines aktiven Politikers kennt – oder mehrere, dem bin ich für Hinweise dankbar.

Soll Welcome in Germany keine Epidsode bleiben, muss die EU den vielen, die schon dazu gekommen sind und noch kommen, sagen, was Europa ausmacht. Vor diesen wünschenswerten Zustand haben die Götter die Kraft und den Willen der Nationen Europas gesetzt, sich darauf erst mal selbst zu verständigen.

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