Österreich – eine Lektion für den Westen

Wer als Bundespräsident in der Wiener Hofburg am Arbeitsplatz im Habsburger-Ambiente Platz nimmt, ist weniger entscheidend. Dass 50 Prozent das rot-schwarze Regierungskartell abgewählt haben, ist die Botschaft für alle Machtkartelle in den westlichen Demokratien.

Screenprints: ORF

Wer das Präsidenten-Rennen in Wien macht, wissen wir erst Montagabend, weil die Briefwahlstimmen dann erst ausgezählt sind. Was es bedeutet, wenn 50 Prozent den Aufrufen des versammelten Establishments in Österreich und besonders Unsensibler aus Berlin und Brüssel und so weiter nicht folgen, Van der Bellen zu wählen, können wir auch ohne das Endergebnis beurteilen.

In Österreich zählt es zum Sprachgebrauch, von den beiden Reichshälften zu reden. Gemeint waren die rote und schwarze Hälfte. Die Blauen (FPÖ) und die Komunisten waren lange Randerscheinungen ohne Bedeutung.

Schwarz war grob gesprochen das Land und Rot das urbane Wien und die Industriezonen rund um verschieden große kleinere Städte. Der österreichische Staatsfunk ORF zeigte die Österreichkarte, auf der die Wahlmehrheiten für den FPÖ-Kandidaten blau eingefärbt sind und die für den formal unabhängigen Kandidaten Alexander Van der Bellen grün. Die Schnittmenge zwischen den früher rot und schwarz gefärbten Regionen ist bemerkenswert hoch. Anders ausgedrückt: Die rote Reichshälfte hat Hofer gewählt, die schwarze Van der Bellen.

Politisch strukturell gesagt: „Unten“ hat Hofer gewählt, „Oben“ Van der Bellen. Ja, das ist grob vereinfachend, aber als Trend richtig. Im ORF war die traditionelle Wahlabend-Runde geladen, die Fraktionsvorsitzenden (Obleute) der Parteien im Nationalrat. ÖVP und SPÖ folgten der Einladung nicht. Die Grüne  sagte zum Stimmenergebnis von 50:50 „Zäsur“, der Blaue „Sieg gegen das System“, der vom Team Stronach: „Das System wurde abgewählt.“ Der Pinke formulierte das nur anders, „die Leute haben die Nase voll von den alten Parteien“, der Prozess der Veränderung beginne, er habe viele Chancen.

Bei Anne Will („Die Krise der Volksparteien“) stellten Frau Dreyer/SPD und Herr Laschet/CDU unter Beweis, dass sie nichts gelernt haben. Dreyer redete die Lage in Deutschland schön, Laschet noch schöner. Herr Friedrich/CSU beschwor die Konservativität seiner Partei. Parteienforscher Korte erklärte, wie die Bundestagsparteien durch das Ignorieren von Themen der AfD das Feld bereiten – absolut vergleichbar mit Österreich.

Wer der Runde erfrischend klaren Wein einschenkte, war Alt-Juso Dirk Schümer von der WELT: Österreichs Entwicklung findet überall in Europa statt. Sein treffendster Satz in mehrfacher Bedeutung des Wortes: Hier klingt es wie in einer Wahlkampf-Veranstaltung.

Das Signal von Wien ist unmissverständlich für jeden, der es verstehen will. Die Demokratien des Westens stehen mitten in einer Zeitenwende.

Ein alter Schulfreund, der sehr lange in der SPÖ war und nie ein FPÖ-Anhänger, sagte mir vor der ersten Abstimmungsrunde, Hofer stünde ihm näher, aber aus Vernunft werde er Van der Bellen wählen. Montag abends werde ich wissen, ob er für eine kleine, aber entscheidende Wählergruppe sprach.

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