Staatshandeln: Neubau statt Einsturz

Jetzt braucht es quer durch Gesellschaft und Wirtschaft eine Allianz der Vernünftigen. Von Veränderungen der politischen Formationen durch Wahlergebnisse dürfen wir realistischer Weise nichts erwarten – vielleicht aber vom Mitmachen einzelner Politiker.

Bald in jedem Haushalt? Dokumentationspflicht über alles

Roland Appel, weiland grüner Vormann im nordrhein-westfälischen Landtag schrieb zum Versagen der Regierung Merkel, „Unvernunft und Symbolpolitik scheinen die nächste Krise vorher zu bestimmen.“ Oder: Staatshandeln in Not.

Die wirklichen Probleme würden nicht offen benannt – wie das zentrale, „dass viele Geflohene und illegale Einwanderer den Behörden gar nicht bekannt sind oder auch falsche Identitäten angeben konnten. Weil sich die Bundespolizei weigert, beim Erstkontakt biometrische Fotos und Fingerabdrücke zu nehmen, auch die bayerische Landespolizei und ihre Computersysteme dafür inkompatibel sind, keinerlei brauchbare Daten mit dem BAMF ausgetauscht werden können, werden Geflohene, die bei der Bezirksregierung Köln oder in Dortmund ankommen, wider Willen bezüglich ihrer Identität zu Überraschungseiern. Sie müssen bei der Ankunft in NRW erneut oder erstmalig registriert werden, weil der Föderalismus bis heute nicht auf Migration eingerichtet ist. Dass das BAMF immer noch mit der Aufnahme ‚von Hand‘ arbeitet, obwohl die Industrie von SAP bis zu Herstellern, die seit Jahren in der Pass- und Personalausweiserstellung schnelle Fotoautomaten oder Fingerabdruckscanner liefern, diese der Bundesregierung seit Monaten als schnelle Alternativen anbieten, aber nicht zum Zug kommen, ist ein Witz.“

Verwaltung wie vorgestern

Die Bundesregierung müsse offener mit den Problemen umgehen, sagt Appel, “es müsste zugegeben werden, warum dreihunderttausend Asylverfahren auf Halde liegen – nicht nur wegen der mangelhaften Identifizierung bei mehrfachen Antragstellern – auch weil etwa die Wiederholungsprüfungen nach drei Jahren bei längst anerkannten Geflohenen massenweise Kräfte binden und zähe, kostspielige und oft unnötige Verfahren erzeugen.“ Ein  Migrationsministerium stehe jetzt auf der Tagesordnung, ein Einwanderungsgesetz sei nötig, „das neben dem Asylrecht und der Genfer Flüchtlingskonvention die Möglichkeit bietet, legal nach Deutschland einzuwandern – natürlich nach Kontingenten, natürlich erst, wenn Sprachkenntnisse erworben sind und natürlich danach, ob die beruflichen Fähigkeiten hier gebraucht werden.“

Dazu müsse auch regelmäßig über die Ein- und Auswanderungszahlen berichtet werden: „Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden, dass 2014 etwa 1,4 Millionen Menschen nach Deutschland kamen, aber über 900.000 Deutschland wieder verlassen haben, darunter über 100.000 deutsche Auswanderer. Dass 2015 zwar schätzungsweise 1,5 Mio. Menschen nach Deutschland kamen, aber wieder etwa 900.000 gegangen sind und die Migrationsbilanz nach bisherigen offiziellen Zahlen der Bundesregierung also bei 550.000 Menschen liegt und nicht bei Millionen.“

Einwanderer sind keine Schachfiguren

Lauter Feststellungen und Hinweise, die ich teile. In der beruhigend gemeinten Wanderungsbilanz fehlt aber dieselbe Diagnose wie bei der bekannten Formel: Ein Land von 80 Millionen Einwohnern kann nicht nur eine Million aufnehmen, sondern auch mehrere. Dass 2015 Deutschland 900.000 verlassen haben, macht die Aufgabe, 1,4 Millionen zu versorgen und ihre Integration zu ermöglichen, nicht kleiner. Was gern übersehen wird: Die 1,5 Millionen von 2015 und die nächsten 1,5 dieses Jahr werden sich nicht auf 80 Millionen gleichmäßig verteilen. Sie lassen sich dort nieder, wo ihre Vorgänger als Einwanderer bereits siedeln. Im allergrößten Teil des Landes wird es wie bisher keine oder sehr wenige Zuwanderer geben und in den Teilen des Landes, wo sich die Zuwanderer bereits konzentrieren, nimmt diese Konzentration zu. Sollten die Regierungen des Bundes und der Länder versuchen, die Einwanderer künstlich über die Fläche zu verteilen, werden sie das Gleiche erleben, was in der EU geschah. Die wenigen Hunderte, die nach Polen und Frankreich gebracht wurden, machten sich umgehend auf und wanderten zu ihren Verwandten, Bekannten, Stammes- und Landsleuten in Deutschland und Schweden. Menschen sind keine Verfügungsmasse von Politikern und Bürokraten, die sich wie Schachfiguren hin und her schieben lassen.

Roland Appel schreibt weiter: „Allerdings könnte dabei auch auf die Tagesordnung kommen, dass die Geflohenen nur deshalb auf Wohnungsnot, mangelnde Arbeitsplätze und Ängste der Bevölkerung treffen, weil eine jahrzehntelange Politik der Angst um den Arbeitsplatz, der Verknappung von Wohnraum und der Verfall der öffentlichen Infrastruktur diese verursacht haben. Der schleichende Verfall der Schulsysteme, öffentlicher Gebäude, die mangelnde Ausstattung der Polizei mit Personal, das Ausbluten der Kommunen ist den anhaltenden Kürzungen der öffentlichen Etats im Zuge der neoliberalen Politik eines scheinbar ‚schlanken Staates‘ zu verdanken“.

Mit den schweren Defiziten der öffentlichen Infrastruktur hat Appel nur zu recht – und er dürfte zustimmen, dass seine Mängelliste noch bei weitem nicht vollständig ist. Gegen das „Glaubensbekenntnis“ an die Schuld des Neoliberalismus will ich hier nicht argumentieren, weil es viel praktischer geht. Nur ein Hinweis: An der Polizei wurde nicht gespart wg. neoliberal, sondern weil sie in unserem romantischen Neobiedermeier als wenig nötig bis störend empfunden wurde. Die wahre Erkenntnis liegt in der lückenlosen Beantwortung dieser Frage: Wofür haben Bund, Länder und Kommunen in dem Zeitraum neu und mehr Geld und wie viel ausgegeben, in der sie die Infrastruktur verrotten ließen?

Vom Politikversagen zum Staats- und Systemversagen ist irgendwann nur ein Schritt
Wie weit bis zum Systemversagen?
Hier liegt die Antwort: Die von Roland Appel kritisierte Symbolpolitik verhindert nicht nur aktuell ein realistisches Bild, sondern ist Ursache für immer neue kostspielige Sach- und Personalausgaben in Bereichen der Umweltpolitik, die Natur und Umwelt nicht dienen, auf dem unendlichen Feld der Volkserziehung von (angeblich) gesunder Ernährung bis mehr politischer als wissenschaftlicher Forschung, die an der Natur des Menschen vorbeigehen und weder ihm noch der Gemeinschaft nützen. Die Kosten dieses Neben-Staates gehen in die Milliarden. Eine Rechnung wird nicht gelegt, null Transparenz. Was immer wer über diesen, nennen wir ihn mal gesellschaftlichen Wohlfühl-Luxus denkt, in Krisenzeiten gibt es Wichtigeres. Über das andere können wir wieder ohne Vorbehalte reden, wenn die Krise geordnete Lösungsbahnen gefunden hat – von Bewältigung werden wir sehr lange nicht sprechen können.

Prioritäten des Staatshandelns neu setzen

Vor den Beginn des Wiedereinzugs der Vernunft in die Politik haben die Götter die Identifizierung der Folgen der Unvernunft gesetzt. Die falschen Prioritäten in den Staatsausgaben müssen korrigiert werden. Sie haben den Staat nicht schlanker, sondern an falschen Stellen fett gemacht – und oft von ihm alimentierte private Organisationen noch fetter. Heilige Kühe wie die staatliche Rente können auch mit weiteren Notoperationen nicht am Leben erhalten werden. Neue Lösungen sind gefragt – auf ganzer Breite und für alle Teile der Gesellschaft, nicht nur für die im Auftrag der Gewerkschaften des Kapitals und der Arbeit vom Staat Privilegierten.

Jetzt braucht es quer durch alle Teile von Gesellschaft und Wirtschaft eine Allianz der Vernünftigen. Von den Veränderungen der politischen Formationen durch Wahlergebnisse dürfen wir realistischer Weise nichts erwarten – vielleicht aber vom Mitmachen einzelner Politiker.

Bis vor kurzem sah ich nicht, mit welchem Hebel sich das anpacken ließe, wo wir doch nach dem bekannten Satz von Ralf Dahrendorf alle Sozialdemokraten geworden sind, also der Sozialstaat, wie er in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gewachsen ist, von keiner politischen Kraft von Bedeutung infrage gestellt wird. Jetzt kommen mit der großen Einwanderungswelle in den nächsten zehn Jahren so viele hinzu, die zusätzlich im Sozialgebäude Platz finden müssen, dass weitere Reparatur und Flickschusterei nicht mehr geht. Kluge Politik muss handeln, bevor der soziale Flicken-Anzug aus allen Nähten platzt und der Wirtschaft im Korsett überflüssiger Regelungsdichte noch mehr die Luft ausgeht.

Die natürliche Entwicklung eines baufälligen Gebäudes ist sein Einsturz. Neubau ist angesagt, bevor das politisch krachend passiert.

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