Merkel allein

Dem Jahrhundertthema Migration verschafft der deutsch-türkische Deal, objektiv kein europäischer, wie das subjektive Empfinden der anderen 27 zeigt, im besten Fall eine Verschnaufpause.

In den Fernseh-Nachrichten wechselt der Ton. Die Wunschformel Merkel erzielt Durchbruch in Brüssel setzt sich nicht durch. Sigmund Gottlieb kommentiert Merkel nicht nur Seehofer-gefällig, sondern auch Hofreiter-kompatibel: „Die Menschenrechte haben keinen Wert mehr.“

Hinter solch  unmissverständlichen Bewertungen bleiben etliche Kollegen so zurück, wie ich es von jenem Moment erwartet habe, in dem die Kanzlerin ihre klammheimliche Kursänderung offiziell macht. Wer sich so lange nicht nur kritiklos, sondern jede Kritik zurückweisend hinter und vor Merkels Botschaft gestellt hat, tut sich schwer, davon wieder runter zu kommen.

„Flüchtlingsdeal mit der Türkei: Merkel ist gescheitert„, kommentierte Malte Pieper, ARD-Studio Brüssel, gestern um 18 Uhr 40:

„Was ist das alles jetzt? Kann sich die EU zufrieden auf die Schulter klopfen? Kann Kanzlerin Angela Merkel entspannt nach Hause fahren – in der Gewissheit, es noch einmal hingebogen zu haben? Ich glaube: Nein. Ich glaube, dieses Gipfelergebnis ist der endgültige Beweis dafür, dass Merkel mit ihrer Art, Politik zu machen, gescheitert ist. Denn es reicht eben nicht, sich immer erst dann einem Problem zuzuwenden, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist.“

Eine Regionalzeitung ist näher bei den Leuten. Einen „… fulminanten Salto rückwärts zur Position Merkels vom vergangenen Herbst, wo sie zum Durchwinken einlud“, nennen es die Nürnberger Nachrichten: „Jetzt hat sie an der Sicherung des Bollwerks Europa mitgewirkt und dabei ihren bisherigen Widersachern wie dem Ungarn Viktor Orbán oder Österreichs Werner Faymann nachträglich recht gegeben.“

Willy Brandts Wort vom „donnernden sowohl als auch“ kommt die Frankfurter Rundschau nahe, wenn sie druckt: „Die aktuellen Pläne sind eine Mischung aus Idealismus und Kaltschnäuzigkeit. Es ist noch keine wirkliche Lösung. Aber es ist ein Anfang.“ Oder ist sie damit noch näher an Christoph Schwennickes Formel vom „donnernden weder noch“?

Eine Mischung aus Idealismus und Kaltschnäuzigkeit? Was bitte ist das? Es ist noch keine wirkliche Lösung. Aber es ist ein Anfang. Oder ist solche Kommentierung einfach scheißliberal?

Was haben die Staats- & Regierungschefs der EU tatsächlich vereinbart?

  • Wer ab morgen, Sonntag, dem 20. März illegal aus der Türkei nach Griechenland kommt, wird zurück gebracht – nachdem jedes Asylgesuch einzeln geprüft wurde.
  • Für jeden in die Türkei zurückgebrachten Illegalen, nehmen die Länder der EU einen syrischen Flüchtling als legalen Migranten auf, insgesamt bis zu 72.000.
  • Diese 72.000 ergeben sich aus bisher nicht ausgeschöpften Kontingenten, die im Juli 2015 beschlossen wurden – und die nach Merkels Hoffnung gar nicht ausgeschöpft werden müssen.

Die Botschaft dieser Maßnahmen formulierte Angela Merkel gestern so: „Das heißt, wer sich auf diesen gefährlichen Weg begibt, riskiert nicht nur sein Leben, sondern hat eben auch keine Aussicht auf Erfolg.“

Machtpolitisch bedeutet das: Merkel hat die 28 der EU zu etwas Gemeinsamem gebracht. Wenn das (erwartungsgemäß) in der Praxis nicht funktioniert,

  • sind die anderen Schuld,
  • setzt Merkel fort, was sie am besten kann: verhandeln
  • folgen neue Gipfel
  • bleibt es beim Medienvorhang, hinter dem
  • die Regierungen und Bürokratien lautlos machen, was sie wollen.

„Angela Merkel hat eine europäische Lösung erreicht – aber damit ihre eigene humanitäre Haltung aufgegeben“, sagt Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter. Ob es  bei Merkels Schwenk vom Mädchen Reem zur Ungarn-Aktion um ihre humanitäre Haltung ging, mögen die Historiker beantworten – oder jeder für sich selbst. Der moralische Anspruch der Gesinnungsethik jedenfalls ist dahin. Und der Beweis für Verantwortungsethik nicht erbracht.

Rot-grün-rot im strategischen Aus
Merkels Machtmuster
Hofreiters Statement werden ähnliche aus unterschiedlichen Richtungen folgen. Übrigens interessant, wie lange das dauert. Die alle Bundestagsparteien umspannende Kanzlerinnen-Bewegung beginnt sich aufzulösen. Das Timing zwischen dem letzten und dem nächsten Wahlsonntag passt. Ihre entscheidende Mithilfe beim Wählertreiben hin zur AfD und weg von Rot-Grün-Rot können letztere nicht mehr ungeschehen machen. Dass die EU-Maßnahmen vom Papier, auf dem sie stehen, den Praxistest bis zum September schaffen, ist ausgeschlossen. Warum sollte Griechenland selbst mit viel auswärtiger Hilfe die Hürde der Einzelfallprüfung aller Migranten managen können, wo es bisher nichts organisatorisch hinkriegte? Warum sollten die Teufel in den Details dieses mal schneller ausgetrieben werden können?

Ein Verbündeter aus der Kanzlerinnen-Bewegung bleibt Merkel erhalten – nicht der schwächste: Winfried Kretschmann. Kommt es in Baden-Württemberg zu Grün-Schwarz, ist das Fundament für die Jamaika-Koalition im Bund gelegt.

Dem Jahrhundertthema Migration verschafft der deutsch-türkische Deal, denn das ist er objektiv, kein europäischer, wie das subjektive Empfinden der anderen 27 zeigt, im besten Fall eine Verschnaufpause.

„Der Notnagel Türkei soll nun das europäische Haus zusammenhalten. Dass es so weit kommen konnte, bleibt ein Armutszeugnis für die selbst ernannte Werte- und Solidargemeinschaft Europa“, schrieb der Tagesspiegel.

Frankreichs Staatspräsident François Hollande warnt vor zu großem Optimismus und weist auf die Lage in Libyen: „Die Vereinbarung mit der Türkei wird nicht das Ende der Flüchtlingskrise sein.“

Werden die Eliten nun lernen, was der Historiker Heinrich August Winkler anmahnt?

„Zur deutschen Verantwortung gehört, dass wir uns von der moralischen Selbstüberschätzung verabschieden, die vor allem sich besonders fortschrittlich dünkende Deutsche aller Welt vor Augen geführt haben. Der Glaube, wir seien berufen, gegebenenfalls auch im Alleingang weltweit das Gute zu verwirklichen, ist ein Irrglaube. Er darf nicht zu unserer Lebenslüge werden.“

Die schönen Tage von Aranjuez der All-Kanzlerinnen-Bewegung sind vorbei. Aber noch warten wir auf die volle Verwirklichung der Forderung von Don Carlos: Sire, geben Sie Gedankenfreiheit.

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