Flüchtlingsmädchen und Kanzlerin: Über Filmschnitt, Rollenbilder und beflügelte Empörungskultur

Vor einigen Wochen in Ellmau im Duo mit US-Präsident Obama war Angela Merkel noch die Königin der Titelseiten durch das dpa-Foto von Michael Kappeler, einerseits hochgelobt von ihren EU-Kollegen als emotional kluge Verhandlungspartnerin in den zurückliegenden Verhandlungen der Griechenland-Politik, anderseits attackiert für „Grexit auf Zeit“ und vermeintlich harte Haltung in der Griechenland-Krise, in der das Bild Deutschlands ebenso wie das seiner Kanzlerin ins Negative kippte. Zwischen Kritik an Macht, Zynismus und Kapitalismus rückte das emotional mächtige Bild eines weinend zusammengebrochenen griechischen Rentners ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, welche Auswirkungen Politik auf einzelne Menschen haben kann.

Jetzt kursiert ein NDR-Video im Netz: Die Bundeskanzlerin in einer Diskussionsrunde mit jungen Menschen in Rostock. Unter ihnen ist ein junges Mädchen namens Reem, das vor vier Jahren aus dem Libanon nach Deutschland gekommen ist. Reem geht zur Schule, spricht mittlerweile fließend Deutsch, ist angekommen in diesem Land und in einem anderen Leben. Vor der Kamera verleiht die Schülerin ihren Wünschen und Hoffnungen Ausdruck. Dennoch sollen Reem und ihre Familie jetzt abgeschoben werden. »Das muss man einem hoffnungsvollen, jungen Menschen erst einmal erklären« heißt es dazu in der Anmoderation zum NDR-Beitrag, in dem die Kanzlerin mit der jungen Libanesin spricht.

Der Haken an diesem NDR-Video: Es ist stark zusammengeschnitten, das tatsächlich mehrminütige Gespräch zwischen Angela Merkel und Reem über Asylpolitik und Integration auf diese Weise sinnentstellend verkürzt. Ein harter Bildschnitt, danach folgt die Sequenz eines unerwarteten Geschehens: Das junge Mädchen bricht in Tränen aus. (Ist das angesichts persönlicher Belastung durch die individuelle Lebenssituation des Kindes einerseits, durch die ungewohnte Situation vor Kameras andererseits tatsächlich so unerwartet?) Für einen Moment unterbricht die Bundeskanzlerin ihren Satz, ist buchstäblich sprachlos, reagiert auf merkwürdige Art unbeholfen und hilflos. Die Verdichtung auf zwei Schnipsel aus dem Gespräch führt zu Empörung im Netz: Unter dem Hashtag #merkelstreichelt verleihen zahlreiche Menschen ihrem Zorn mit teils justiziablen Formulierungen, groben Beleidigungen und hasserfüllten Kommentaren Ausdruck. Nur wenige bemühen sich um objektivere Betrachtung der emotionalen Bilder oder machen sich gar die Mühe, das Original des Videos anzusehen.

Verlassen wir als Betrachter für einen Augenblick die Perspektive auf die offizielle Figur »Bundeskanzlerin Angela Merkel«. Während der letzten Tage ist sie vom Sockel der hochgelobten Lichtgestalt des einfühlsamen Verhandelns hinabgestürzt auf eine bloße Projektionsfläche der Negativschlagzeilen und Gehässigkeit von »Grexit« bis Flüchtlingspolitik. Die Interpretation der kurzen, zusammengeschnittenen Videosequenz, der hinein interpretierte Vorwurf der Kaltherzigkeit und fehlenden Empathie kulminiert unter anderem in der taz in den Generalvorwurf »schäbiges Deutschland«. (Die Diskussion über den Beitrag der taz auf Facebook.) 

Was wir aber tatsächlich in der Videosequenz sehen, ist eine von der Situation völlig überrumpelte Frau, deren Körpersprache und Reaktionen Bände sprechen. Es verschlägt Angela Merkel die Sprache. Überrumpelt und wortlos steht sie mit hängenden Schultern für Sekundenbruchteile verstummt in der Turnhalle. Die Kanzlerin reagiert emotional und fremdelt mit dieser Reaktion sichtbar. Sie ist keine Amtsperson in diesem Moment. Mit verlegenem Lächeln geht sie auf das weinende Kind zu, berührt in einer hilflosen Geste dessen Schulter, versucht unbeholfen zu trösten. Was aus diesem Bild vor allem spricht, ist die grenzenlose Überforderung. Wer wäre das nicht? Die Körpersprache der Kanzlerin verrät das überdeutlich; ihr Lächeln ist unter Psychologen als sogenannte »Übersprunghandlung« bekannt. Was hier ein Ausdruck von Überlastung und Hilflosigkeit ist, kann im Extremfall dazu führen, dass entsetzte Menschen in Gelächter ausbrechen. Wie sehr die Bundeskanzlerin unter Druck steht, bekommt auch der Moderator zu spüren. Angela Merkel, aus einem Augenblick der menschlichen Schwäche wieder in die Figur der Kanzlerin zurückgekehrt, weist seine Belehrung so schroff wie aggressiv zurück.

Die Mehrheit der Reaktionen in den Sozialen Netzwerken zeigt, dass nur Wenigen ein differenzierter Blick auf die tatsächliche Situation hinter dem vordergründigen, emotionalen Bild gelingt. Stattdessen erleben wir im Netz, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (über deren Politik und Auftreten man sich möglicherweise streiten kann) reduziert wird auf eine Rolle und reine Projektionsfläche der ausufernden Empörung. Daran erschreckend ist nicht unbedingt der Tonfall der meisten Kommentare, sondern vor allem der Umgang mit emotional mächtigen Bildern: Aus ihrem Kontext gerissen und fahrlässig verkürzt, entsteht ein neues, anderes Bild, das mit dem tatsächlichen Geschehen in der Turnhalle von Rostock nur noch wenig gemein hat.

Bilder lügen nicht. Nur der Umgang mit ihnen ist nicht immer ehrlich.

Lesenswertes dazu auch hier und hier.

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