Die 10 Gesetze des Merkelismus

Fürchtet Euch (nicht), sie könnte bleiben: Angela Merkel kann auch mit viel weniger Prozenten regieren. Ein Einblick in ihre Technik des Machterhalts.

Selten ist ein Jubiläum medial so ausgiebig gefeiert worden wie das „Zehnjährige“ der Bundeskanzlerin. Die ersten Bilanz-Artikel wurden Mitte September geschrieben, zehn Jahre nach der Bundestagswahl am 18. September 2005. Doch die Kanzlerwahl fand erst am 22. November statt. Schließlich war es der CDU/CSU damals nicht leicht gefallen, nach dem miserablen Wahlergebnis von 35,2 Prozent die SPD als Juniorpartner in einer Große Koalition zu locken. Einen Vorteil hatten der vorgezogene Merkel-Jubel: Damals schwebten die „Flüchtlings-Kanzlerin“ und die Union noch in demoskopisch lichten Höhen. Das hat sich seitdem geändert. Gleichwohl sind die Kanzlerin und ihre Partei unverändert stark genug, um die nächste Bundestagswahl nicht fürchten zu müssen. Aus heutiger Sicht spricht viel dafür, dass die GroKo 2017 weitermacht oder Merkel es mit Schwarz-Grün versucht. Wer bereits auf „Merkeldämmerung“ setzt, könnte sich in zwei Jahren wundern.

Merkels relative Stärke gegenüber der Gabriel-SPD und ihre absolute Stärke innerhalb der Union beruhen auf ihrem spezifischen Verständnis von Regierungskunst und Führungsprinzipien – den Gesetzen des Merkelismus.

1. Erst das Land, dann die Partei

Die ostdeutsche Angela Merkel kam nach der Wende 1989 eher zufällig in die Politik und war ein gutes Jahr später bereits Bundesministerin. Inzwischen gehört sie seit 25 Jahren in unterschiedlichen Funktionen der Exekutive an. Das prägt. Die „Physikerin der Macht“ ist verliebt ins Gelingen; komplexe Aufgaben empfindet sie eher als willkommene Herausforderung, weniger als Gefahr. Das Denken in rein parteipolitischen Kategorien ist ihr eher fremd, weil sie die Partei nicht als emotional-ideologische Heimat, sondern lediglich als Machtinstrument betrachtet. „Erst das Land, dann die Partei“ ist bei ihr glaubwürdiger als bei Berufspolitikern, die mit 30 schon auf 15 Jahre „Berufserfahrung“ zurückblicken können.

2. Macht hat man, um sie zu nutzen

Merkels Vorteil war von Beginn ihrer Kanzlerschaft an, dass sie anders als ihr Vorgänger Schröder nicht mit der „Hoppla-jetzt-komme-ich“-Attitüde auftritt. Das bringt ihr viele Sympathien ein. Ihr Auftritt ist eher bescheiden, sie droht nicht mit Machtworten oder drastischen Gegenmaßnahmen. Gleichwohl ist sie sich ihrer Macht bewusst und setzte diese ein, innerhalb der Partei, gegenüber dem politischen Konkurrenten wie gegenüber anderen Ländern. Die Regierungschefs anderer Länder lässt sie durchaus wissen, dass in Europa nichts ohne oder gar gegen Berlin geht. Und dass der Kurs der EU gegenüber Russland oder den USA die deutsche Handschrift trägt.

3. Keine Experimente mehr

Die Oppositionsführerin Merkel wollte die Welt noch aus den Angeln heben. Der nicht mehr zu finanzierende, staatliche Rund-um-Versorgungsstaat sollte entschlackt werden. Ludwig Erhards Sorge, die Deutschen könnten in ihrer Mehrheit zu Kostgängern eines paternalistischen Sozialstaats werden, nahm sie ernst. Doch mit den Leipziger Reformbeschlüssen und ihren kühnen Steuerreformkonzepten wäre die Union 2005 ungeachtet aller Fehlschläge der Regierung Schröder/Fischer beinahe abermals in der Opposition gelandet. Das war Merkel eine unvergessliche Lehre: Der Wähler bestimmt, was richtig ist – niemand sonst.

4. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich

Man stelle sich einmal vor, Roland Koch, Friedrich Merz, Christian Wulff oder Günther Oettinger wären noch in wichtigen politischen Ämtern. Die CDU hätte dann eine veritable Debatte um die K-Frage: Wer kann, wer soll, wer muss Merkel ablösen? Doch Kohls einstiges „Mädchen“ hat sie alle weggelobt, weggebissen oder schlichtweg in die politische Resignation getrieben. Sie, die ostzonale Quereinsteigerin, hat das eherne Gesetz der Politik begriffen: Nur ein politisch toter Konkurrent, ist ein guter Konkurrent.

5. Mehrheit ist Mehrheit

Was in all den Jubelarien gerne vergessen wird: Mit Angela Merkel als Spitzenkandidatin hat die CDU/CSU zwei desaströse Bundestagswahlergebnisse eingefahren. Die 35,2 Prozent von 2005 lagen auf dem Niveau von Kohls Abwahl im Jahr 1998 (35,1 Prozent). Die 33,8 Prozent von 2009 waren das schlechteste Unions-Ergebnis seit 1949. Das hat Merkel nicht sonderlich beschwert. Trotz dieser schlechten Ergebnisse ist sie Kanzlerin geworden und geblieben. Die 41,5 Prozent von 2013 waren insofern eine Ausnahme. Man darf davon ausgehen, dass das Merkel nicht beschwert. Auch 2017 könnten 35 Prozent durchaus reichen – für die Fortsetzung der GroKo, vielleicht auch für Schwarz-Grün.

6. Was kümmert mich mein Programm von gestern

Merkel ist in der Opposition als Reformerin gestartet; gelandet ist sie als Pragmatikerin. Nach der beinahe verlorenen Bundestagswahl 2005 sagte sie, nie wieder werde sie mit einem ambitionierten Reformprogramm in einen Wahlkampf ziehen. Daran hat sie sich konsequent gehalten: Die Botschaft von 2013 lautete: Sie kennen mich. Das hat sich ausgezahlt: 41,5 Prozent. Ein Kohl-Ergebnis!

7. Bescheidenheit ist meine Zier

Angela Merkel hat an Gerhard Schröder gelitten. Da der scheinbar unbezwingbare Supermann, dort das in jeder Hinsicht unscheinbare Mädchen. Im Nachhinein erwies sich diese Konstellation als Glücksfall: Die Kanzlerin Merkel vermittelte dem Wahlvolk das Gefühl, da ist eine, der es nicht in erster Linie um Selbstdarstellung geht. Glaube niemand, die Bescheidenheit der Regierungschefin wäre nicht inszeniert. Aber es ist eine gekonnte und konsequente Inszenierung.

8. Da geht mein Volk. Ich muss ihm nach. Ich bin seine Führerin.

Ob Merkel Talleyrand gelesen hat? Jedenfalls beherzigt sie seine Maxime: Lieber dem Volk folgen, als vom Volk verlassen werden. Konkret bedeutet das: Wenn Umfragen ergeben, dass das Volk unsinnige oder nicht zielführende Wünsche hat und daran festhält, dann muss man dem Affen Zucker geben. Beispiele gefällig? Rente mit 63, flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, Mietpreisbremse, Frauenquote, Atomausstieg: All das hielt Merkel einst für Unsinn. Doch seit die Mehrzahl der Wähler das alles will, ist auch die Kanzlerin dafür. That’s life – political life.

9. Keine Regel ohne Ausnahme

Die Merkel-Erklärer in Berlin behaupteten steif und fest, die kühle, pragmatische Regierungschefin wäre gewappnet gegen situationsbezogene Schnellschüsse. Weit gefehlt: Bisweilen neigt Angela Merkel zu sehr spontanen Kurskorrekturen. Nicht aus Spaß am Experiment, sondern wenn das nüchterne Machtkalkül es gebietet. Als kurz vor den Landtagswahlen 2011 ein Tsunami in Fukushima eine Reaktorkatastrophe auslöste, verfügte sie den Ausstieg aus der Kernenergie. Dass sie ein paar Monate zuvor den von Rot-Grün einst beschlossenen Atomausstieg noch revidiert hatte, war ihr gleichgültig. Merkels „Fukushima II“ ereignete sich Anfang September 2015: Die spontane Öffnung der Grenzen für mehr oder weniger alle Zuwanderer – gleich, woher und warum. Aus der „Eiskanzlerin“ („Stern“) wurde über Nacht die Flüchtlingskanzlerin. Das erfreut die meisten Medien und alle, die niemals CDU gewählt haben oder sie jemals wählen werden. Inzwischen hat Merkel erkannt, dass medialer Beifall auf Dauer nicht hilft. Ob der Lasst-alle-zu-uns-kommen-Propagandist Heribert Prantl sie in der „Süddeutschen“ heilig spricht oder nicht: Wenn die Wähler weglaufen, reagiert die Pragmatikerin Merkel entsprechend – durch sanfte, faktische Kurskorrekturen. Nach Fukushima I (Atomausstieg) und Fukushima II („Wir schaffen das“) ist es bis zu Fukushima III („Wir können die Probleme der Welt nicht in Deutschland lösen“) nicht so weit, wie mancher denkt. Wenn da nur nicht Horst Seehofer wäre. Dem widerspricht sie, auch wenn sie allmählich auf dessen Kurs einschwenkt.

10. Alternativlos klingt intellektueller als „Basta“

Wenn es eng wurde, rief Gerhard Schröder mit rotem Kopf und heißer Stimme „Basta“ in den überhitzten Parteitagssaal. Angela Merkel sagt kühl „alternativlos“, meint sich und ihre Politik und könnte damit sogar durchkommen – sogar bis 2021.

Hugo Müller-Vogg:

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