DER (billige) SPIEGEL

Ich bin seit über 30 Jahren Spiegel-Abonnent und habe den Spiegel stets für eine Institution gehalten, die im deutschen Meinungsspektrum unübersehbar wichtig ist. Doch diese Reputation bekommt immer mehr Kratzer. Soeben lese ich die neue Spiegel-Titelgeschichte „Wohin mit dem Geld?“, ein Thema, das offensichtlich auch die gutverdienenden Spiegelredakteure bewegt. Autor ist Wirtschafts-Ressortleiter Armin Mahler, der starke Mann in der Mitarbeiter-KG, die den letzten Chefredakteur Büchner weggeschossen hat.

Von Mahler und dem Spiegel hätte ich nun wirklich substanzielleres erwartet als diesen ziemlich oberflächlich zusammengeschriebenen Beitrag. Man hat das Gefühl, Mahler wusste schon beim Schreiben, dass er wenig Erhellendes beitragen kann. Und dann noch ellenlange Werbe-Zeilen für Hermann-Joseph Tenhagens neue Publikation, einem „Verbraucherportal“ namens „Finanztip“. Wäre früher echt tabu gewesen. Ausführlich wird dargestellt, von wem der „Finanztip“ Investorengeld bekommen hat (wieso ist das für den Titel „Wohin mit dem Geld“ wichtig?), und dass er für die Vermittlung von Usern an Finanzdienstleister „eine kleine Provision“ erhält. Ansonsten wollten die ehemaligen Investmentbanker keinen Gewinn machen. Kaum zu glauben, aber das steht alles in dieser Geschichte. Man erfährt auch, warum: Tenhagen, laut Spiegel „Deutschlands bekanntester Verbraucherschützer“ und bis vor kurzem langjähriger Chefredakteur von „Finanztest“, ist seit kurzem Kolumnist bei „Spiegel Online“, was Mahler ausdrücklich erwähnt. Und – auch kaum zu glauben: „Seine Medien-Präsenz in Spiegel Online soll helfen, das neue Verbraucherportal Finanztip bekannter zu machen“. Tenhagen, im digitalen Spiegel sogar als Videoclip zu sehen, darf dann noch drei coole Ratschläge loswerden: Schulden tilgen ist besser als anlegen,Tagesgeldkonto ist besser als Dispokredit und schließlich noch checken, welche Altersvorsorge gefördert wird… Lieber Herr Tenhagen, ich bin beeindruckt.

Diese Titelgeschichte hätte in jedem Regionalblatt stehen können, sie ist eine Ansammlung von Banalitäten, dekoriert mit den üblichen Zitategebern, unter anderem Kostolanys Ex-Partner Gottfried Heller und zwei Bestseller-Crashpropheten, die Aktien für Teufelszeug halten und mit Ihrem Untergangsbuch viel Geld verdient haben. Sie verdienen jetzt als Honorarberater ihr Geld. Solchen Leuten eine Plattform zu geben, ist schon kühn.

In dieser Titelgeschichte steht nichts, was wir nicht alle schon gelesen haben.
Der Spiegel hätte die Chance gehabt, daraus eine Aktien-Titelgeschichte zu machen: Internationale, dividendenstarke Aktien zu analysieren und den Trend bei Anlegern, die Altersvorsorge selbst in die Hand zu nehmen, zu reflektieren. Mahler hätte sich aus den USA Anlage-Strategien liefern lassen können, internationale Märkte untersuchen können. Er hätte ein Interview mit Warren Buffet oder anderen großen und erfolgreichen Investoren führen und mit langjährigen Statistiken zeigen können, dass Aktienrenditen von jährlich sechs bis acht Prozent inklusive aller dazwischen liegenden Crashes über einen Zeitraum von 20 Jahren belegbar sind. Er hätte die Erfolgsgeschichte von ETFs und ihre einfache Handhabung für emanzipierte Geldanleger zeigen können. Das alles habe ich in dieser Titelgeschichte vermisst. Das andere Zeug, niedrige Zinsen, Tagesgeld, Lebensversicherungen, Anleihen ohne Rendite, das kennen wir doch alles.

Nun, auch Titelgeschichten können mal daneben gehen. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass es sich hier um einen Ausrutscher handelt. Zu diesen redaktionellen Schwächen kommt nämlich eine strategische Ratlosigkeit hinzu – kein Wunder, wenn die Mitarbeiter bei allen Strategien immer die Mehrheit haben. So funktioniert weder Expansion, noch Neuausrichtung und Umstrukturierung. Irgendwann fährt man dann an die Wand. Die Frage ist nämlich auch, ob das Geschäftsmodell des Nachrichtenmagazins in einer Zeit noch stimmt, in der Nachrichten als homogenes Gut überall zu haben sind, und zwar kostenlos. Der Spiegel hat meines Erachtens die Folgen der Digitalisierung noch nicht verarbeitet. Beim Spiegel gibt es nichts, was andere nicht auch längst haben. Der Spiegel bleibt irgendwie stehen – Online wie in der Printausgabe.

Spiegel Online war mal ganz vorne, inzwischen erhalte ich die gleichen Push-Nachrichten von Focus (meist schneller), von FAZ.net, vom Handelsblatt, vom Tagesspiegel – und wenn ich wollte noch von vielen anderen. Was könnte man alles aus der Marke machen. Wie wäre es mit einem Ideenwettbewerb von Startups?

Für mich ein weiterer Beleg dafür, dass es mit dem Spiegel abwärts geht – leider.
Früher setzte der Titel eigene Themen auf das Titelblatt, die wirklich neue Erkenntnisse brachten. Snowden war das letzte Ereignis dieser Art – aber dann auch bis zum letzten portionsweise ausgeschlachtet und als Dauerenthüllung immer wieder von Halde genommen. Heute rennt die Redaktion den Themen hinterher, die täglich in allen Medien zu lesen sind. Man muss das nicht unbedingt kaufen, um informiert zu sein.

Und dann liest man vorab die vom Spiegel verbreiteten Agenturmeldungen online in allen Medien. Anders als früher sind die Online-Vorabmeldungen sofort überall verfügbar. Früher erschienen sie am nächsten Tag in gedruckten Medien, was weniger störte. So ist heute das, was als Spiegel-Print erscheint, sozusagen der „Rest“. Und Reste muss man nicht haben.

P.S. Der Einzelverkauf des Spiegel ging 2014 im Vorjahresvergleich um rund 24.000 Exemplare auf jetzt nur noch 223.401 Exemplare zurück, also um mehr als 10 Prozent. Das Vorziehen des Erscheinungstermins auf den Samstag wird diese Entwicklung nicht aufhalten, im Gegenteil. Ich halte diese Not-Maßnahme für eine Fehlentscheidung.

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